Читать книгу Die Lagune - Armand Marie Leroi - Страница 42
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ОглавлениеIndem er Natur als ein »inneres Prinzip von Veränderung und Ruhe« definiert, begrenzt Aristoteles nur den Umfang der Naturwissenschaft. Die Frage – die große Frage, die seine wissenschaftlichen Forschungen antreibt – lautet: Was sind die Gründe für die Veränderung?
Um dies zu beantworten, begann Aristoteles zu lesen. Als er 367 v. Chr. in der Akademie eintraf, war die intellektuelle Tonart wissenschaftsfeindlich und die große Linie der physiologoi ausgestorben. Aber ihre Bücher – Papyrusrollen – waren noch da. Ich wage keine Behauptung, wie oder wann Aristoteles sie aus den Regalen der Bibliothek nahm; ich bemerke an dieser Stelle nur, dass er 37 Jahre alt war, als er die Akademie verließ, dass er also reichlich Zeit zum Lesen, Notieren und Denken gehabt hatte.
Unter den Arbeiten, die er las, war auch die von Demokrit. In Aristoteles’ intellektuellem Einzugsgebiet hatte nur Platon mehr Bedeutung als er. Der Naturphilosoph des Naturphilosophen. Platon soll Demokrit gehasst haben und wünschte angeblich, dass seine Bücher verbrannt würden. Da spätere Philosophen sie offenkundig lasen, wissen wir, dass er sie nicht vernichten ließ; dennoch erfüllte die Nachwelt Platon seinen unehrenhaften Wunsch, denn heute existiert keins mehr davon. Aristoteles’ physikalische Theorie ist größtenteils als Gegenentwurf zu der von Demokrit aufgebaut, aber viel von dem, was wir über Letzteren wissen, stammt von Ersterem, denn anders als Platon erwies Aristoteles seinen Gegenspielern die Ehre, ihre Worte zu bewahren.
Nach Aristoteles’ Darstellung war Demokrit der Meinung, dass die Welt letztlich aus Einheiten besteht, die unsichtbar, fest, unzerstörbar, unteilbar, unveränderlich, unendlich in ihrer Zahl und Verschiedenheit und ständig in Bewegung waren – kurz gesagt, aus Atomen. Er nannte seine Atome onta – »Dinge«. Diese Theorie hatte er von seinem Lehrer Leukipp. Heute werden er und Leukipp gemeinsam als Väter der Atomlehre gefeiert und all dessen, was sie mit sich bringt, denn der theoretische Faden, der sie mit Dalton und Rutherford verbindet, ist zwar schwach, aber real.
Demokrit spann seine Atomtheorie zu einer Kosmologie weiter. Die lückenhafte Theorie – ob die Lücken allerdings Demokrits Unvermögen geschuldet waren oder den Wechselfällen der Geschichte, wissen wir nicht – besagt, dass in der Leere treibende Atome miteinander kollidieren und aneinander haften bleiben und auf diese Weise größere Einheiten bilden, aus denen zum Schluss die Planeten und Sterne werden. Offenbar erklärte er auch Geschlechtsbestimmung, Sinneseindrücke und Bewegung der Tiere mit einem Verweis auf die Formen und Bewegungen der Atome. Vielleicht hat er eine ganze reduktionistische Theorie des Lebens entworfen – die Doxografen führen drei Bücher über die Ursachen der Tiere an –, aber das wissen wir nicht, da sie verloren gingen. Dennoch wird die allgemeine Stoßrichtung seiner Theorien klar. Als Demokrit das Wesen der Dinge zu erklären versuchte und warum sie sich verändern, nahm er ausschließlich auf die Materie Bezug – den Stoff, aus dem sie gemacht waren. Er war nicht der Erste; der Materialismus ist einer der roten Fäden der neuionischen Ansichten, aber seine Darstellung war die ausgefeilteste. Aristoteles sollte einen großen Teil seines Lebens damit verbringen zu zeigen, warum sie falsch war; auf gewisse Weise sind seine wissenschaftlichen Arbeiten eine einzige lange Streitschrift gegen die Materialisten. Wir sind an einem der großen Wendepunkte des wissenschaftlichen Denkens angelangt. Er wurde oft als ein Punkt betrachtet, an dem man falsch abbog.
Das Problem an Demokrits Kosmologie, argumentiert Aristoteles, besteht darin, dass in ihr das Universum spontan aus Atomkollisionen entsteht. Um zu erklären, warum dies unwahrscheinlich ist, analysiert Aristoteles die Bedeutung von »spontan«. Nehmen wir an, sagt er, wir sehen einen Dreifuß auf seinen drei Beinen stehen. Wir würden natürlich annehmen, dass jemand ihn absichtlich so hingestellt hat. Aber das muss nicht der Fall sein; vielleicht ist der Dreifuß auch von einem Dach gefallen und nur zufällig auf seinen Füßen gelandet – der griechische Begriff dafür lautet automaton und ist der Ursprung unseres Wortes »automatisch«. Demokrit nehme an, dass der Kosmos einem aufrecht stehenden Dreifuß gleicht, der nicht absichtlich so aufgestellt wurde, sondern nur zufällig so gelandet ist.
Das Argument mutet seltsam an. Warum sollte der Kosmos nicht zufällig auf seinen Füßen gelandet sein? Aber Aristoteles will darauf hinaus, dass spontane Ereignisse solche sind, die einen Zweck zu haben scheinen, tatsächlich aber keinen haben. Und hier liegt der Knackpunkt: Aristoteles glaubt, dass der Kosmos – die Sterne, die Planeten, die Erde, die Lebewesen auf ihr, die Elemente selbst – offensichtlich einen Zweck hat; sie tragen schließlich die Handschrift eines Entwurfes. Und obwohl zweckmäßige Dinge spontan auftreten können, erscheint es ihm einfach unplausibel, dass ein Kosmos, der so kunstvoll geordnet ist, sich spontan selbst zusammensetzen kann.
Die meisten modernen kosmologischen Theorien gehen davon aus, dass das Universum keinen Zweck hat, sondern einfach existiert. Nur ein Kind würde fragen: »Wozu sind die Sterne da?« Aber für Aristoteles ist das keine kindische Frage. Seine Sinnorientierung umfasst beinahe alles. Vielleicht erscheint uns das weniger seltsam, wenn wir ihn als eine Art kosmischen Biologen betrachten. Wir glauben vielleicht, dass er sich auf unsicherem Terrain bewegt, wenn es um die Sterne geht, aber er hat offensichtlich recht mit seiner Argumentation, dass die zufällige Kollision von Atomen nicht die regelmäßigen und zweckgerichteten Merkmale des Lebens auf der Erde (oder sonstwo) erklären können.
Aristoteles’ biologische Sichtweise der Welt wird ganz deutlich, wenn er einen anderen der physiologoi angreift. Wenn er Demokrit erörtert, ist Empedokles meist nicht weit. Für Aristoteles sind beide Materialisten, wenn auch unterschiedlicher Prägung. Empedokles dachte, dass die Welt aus vier Grundelementen besteht – Erde, Wasser, Luft, Feuer –, die sich als Materie in ihrem festen, flüssigen und gasförmigen Aggregatzustand plus Feuer verstehen lassen. Diese Elemente verschmelzen in bestimmten Zusammensetzungen zu all den verschiedenen Stoffen – Stein, Eisen, Knochen, Blut –, die wir sehen.
Bestehende Dinge haben keine Natur – es gibt nur ein Mischen und ein Trennen des Gemischten. Natur ist ein Name, der von den Menschen verliehen wird.
»Natur« ist also nur die Lehre vom Mischen. Empedokles’ Verse erklären, wie ein Konflikt zwischen Liebe und Streit zur zyklischen Erschaffung und Zerstörung der Welt führt und damit zur periodischen Erschaffung von Lebewesen. In den ersten Phasen jedes Zyklus formt die Liebe Gewebe, jedes nach einer bestimmten chemischen Formel, und aus diesen Geweben entstehen seltsame Kreaturen, die überwiegend aus einzelnen Organen bestehen: »Augen ohne Gesichter«, »Köpfe ohne Hälse« und »einzelne Glieder«. Liebe vergeht, Streit entsteht, der Zyklus setzt sich fort, Körperteil-Wesen verbinden sich zufällig miteinander und werden zu Kreaturen mit zwei Gesichtern, zwei Brustkörben oder sind teils männlich, teils weiblich oder aber hybride »Ochsenkälber mit Menschengesicht« oder »Menschen mit Ochsengesicht« – ein teratologisches Bestiarium, in dem auch der Minotaurus nicht fehlt. Und es mag so scheinen, als sei Empedokles weit davon entfernt, auf diese Weise die Tiere zu erzeugen, die wir tatsächlich kennen – doch er hat eine brillante Lösung parat. Simplikios, der im 6. Jahrhundert n. Chr. einen Kommentar zu Aristoteles’ Physik verfasste, beschreibt sie uns:
Empedokles sagt also, dass unter der Herrschaft der Liebe die Teile der Tiere zunächst zufällig entstanden – Köpfe, Hände, Füße und so weiter – und sich dann zusammenfanden: »Es entstanden Nachkommen des Ochsen mit menschlichen Gliedmaßen und umgekehrt [offensichtlich meint er damit menschliche Nachkommen mit Ochsen-Gliedmaßen, also Kombinationen aus Ochse und Mensch]. Und aus denjenigen, die so zusammenkamen, dass sie sich selbst erhalten konnten, wurden Tiere und sie überlebten, weil sie [die Teile] die Bedürfnisse der anderen erfüllten – die Zähne zerkleinerten und mahlten die Nahrung, der Magen verdaute sie, die Leber verwandelte sie in Blut. Und der menschliche Kopf, wenn er sich mit einem menschlichen Körper vereint, sorgt für die Erhaltung des Ganzen, aber in Kombination mit dem Ochsenkörper kann er kein Ganzes bilden und stirbt. Denn alle, die nicht nach den richtigen Prinzipien zusammenfanden, starben. Und so geschieht es noch heute …
Die meisten Rekombinanten waren nicht lebensfähig und starben, daher sehen wir heute nur die Überlebenden. Viele frühe Naturphilosophen, bemerkt Simplikios, hatten diese Vorstellung. Falls das stimmt, ist es bemerkenswert, denn es deutet darauf hin, dass die Idee der Selektion als Quelle einer Ordnung weit verbreitet war. Auf jeden Fall trat Epikur, eine Generation jünger als Aristoteles, mit einer noch ausgeklügelteren selektionsbasierten Kosmogonie an als Empedokles – zumindest, wenn man den epikurischen Versen des Lukrez Glauben schenken darf.
Man könnte erwarten, dass Aristoteles Gefallen an Empedokles’ Modell fand. Der Sizilianer bietet – jedenfalls nach Simplikios’ Darstellung – einen vollkommen vernünftigen Mechanismus, der komplexe, funktionsfähige Lebewesen aus dem Chaos erschaffen kann. Sicherlich musste Aristoteles auf seiner Suche nach dem Zweck in der Natur dies sehen und begierig aufgreifen? Auf jeden Fall erkennt er die Macht der Logik. Er greift ein schönes Beispiel für biologisches Design heraus: Zähne. Bei den Säuglingen brechen die Vorderzähne – Schneidezähne – scharfkantig durch, geeignet zum Zerschneiden von Nahrung, während die Backenzähne breit durchtreten und nützlich zum Mahlen von Nahrung sind. Warum, fragt er, sollten wir dies nicht als das Ergebnis eines Prozesses betrachten, in dem das passend Geordnete überlebt und das Ungeordnete nicht? Warum sind Zähne nicht »spontan«?
Aristoteles fallen mehrere Gründe ein, warum das nicht der Fall ist. Doch um sie zu verstehen, muss man sich erst Aristoteles’ Version des Selektionsgedankens vor Augen führen. Vermutlich stimmt sie nicht mit der von Empedokles überein, denn die erhaltenen Verse des Sizilianers erzählen nur von rekombinanten Selektionsereignissen, die in einer fernen historischen Vergangenheit erfolgten; seither sind die Formen der Überlebenden – die Pflanzen und Tiere, die wir sehen – festgeschrieben. Aristoteles dagegen nimmt an, dass die Selektion heute noch arbeitet. Doch die aristotelische Selektion ist auch nicht die von Darwin, sie ist viel radikaler. Nach Darwins Theorie der natürlichen Auslese besitzen die Lebewesen ein Erbsystem, das ihre Merkmale mehr oder weniger intakt von einer Generation an die nächste weitergibt, wobei jedoch das Erbmaterial dennoch leicht variiert. Diese kaum merkliche Variation ist der Nährboden für die natürliche Auslese. Nach der aristotelisch-empedoklischen Selektion jedoch bildet sich jedes Individuum de novo in einem variierend-selektiven Mechanismus. Die Gebärmutter enthält sozusagen eine formlose Suppe, aus der die Selektion ein vollständiges Kind mit Zähnen macht. Kurz gesagt, verwandelt Aristoteles ein kosmologisches Modell in ein embryologisches.
Das er dann mühelos dekonstruiert. Seine Argumente sind faszinierend, denn einige von ihnen wurden auch gegen die Theorie von der Evolution durch natürliche Auslese verwendet. (1) Spontane Ereignisse sind selten, aber das typische Merkmal wirklich zweckhafter Ereignisse besteht darin, dass sie häufig sind: Zähne brechen immer auf genau dieselbe Weise durch. Das ist ein probabilistisches Argument für die Existenz eines zweckhaften Agens und wie alle solche Argumente ist es falsch, denn die Selektion kann regelmäßig Ordnung aus der Unordnung schaffen.[∗] Zugegebenermaßen verhilft Empedokles Aristoteles zu seiner Schlussfolgerung, indem er seine Kosmogonien als unbestimmt entwirft: »[Manchmal] geschieht es auf die eine Weise, oft aber auch anders« – die Zeile zitiert Aristoteles. (2) Jeder Entwicklungsschritt orientiert sich offensichtlich nach einem übergeordneten Ziel, etwa so wie jeder Schritt beim Bau eines Hauses. Diese Schritte müssen das Produkt einer Intelligenz sein, die das Endergebnis im Sinn hat. (3) Obwohl die Entwicklung ganz regelmäßig erfolgt, passieren Fehler (in De generatione animalium hat er viel zu siamesischen Zwillingen und Zwergen zu sagen), aber es sind eben Fehler – Abweichungen von einem bestehenden, zweckhaften Programm, das bereits vorhanden sein muss. Tatsächlich könnten selbst Empedokles’ ursprüngliche rekombinante Tiere nicht aus dem Nichts entstanden sein; sie müssen »einer Verfälschung eines Prinzips« entsprungen sein, das »dem entspricht, was heute der Samen ist«. (4) Außerdem sehen wir einfach nicht so viele Variationen. Ja, gelegentlich treten monströse Nachkommen auf, manche vielleicht sogar so monströs wie Empedokles’ Kalb mit Menschenkopf, aber warum sehen wir nicht dasselbe bei den Pflanzen, etwa einen Weinrebenschössling mit Olivenkopf? »Eine absurde Vorstellung« – und an dieser Stelle wünscht man sich, man hätte ihm eine homöotisch mutierte Blüte zeigen können. (5) Lebewesen erben ihre Formen von ihren Eltern. Ein Samen entwickelt sich nicht zu irgendeinem Wesen, sondern zu einem ganz bestimmten: einer Zikade, einem Pferd oder einem Menschen. Selektionismus vermag das nicht. Aristoteles hat recht – seine Version kann das nicht.
Im Zentrum von Aristoteles’ Zurückweisung des Materialismus steht seine Überzeugung, dass der Kosmos und die Lebewesen darin Ordnung und Zweck haben. Seine Ablehnung von Demokrits Ansicht, dass Ordnung einfach spontan entstehen kann, ist vielleicht noch nachvollziehbar. Seine Kritik an Empedokles steht auf weniger festen Füßen, denn die Selektion – selbst die nicht darwinsche Selektion – kann in der Tat Ordnung aus dem Chaos schaffen; tatsächlich ist sie die einzige bekannte naturalistische Erklärung dafür. Aristoteles scheint sich hier in eine Sackgasse manövriert zu haben. Wo also kommt die Ordnung tatsächlich her? Und was ist ihr Zweck?