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ОглавлениеWas natürlich die Frage aufwirft: Wie gut ist seine Biologie als Ganzes? Diese Frage, die sich jedem aktiven Wissenschaftler stellen wird, der ein Buch aus Aristoteles’ biologischen Arbeiten aufschlägt und Seite um Seite voll empirischer Behauptungen betrachtet, wurde nie beantwortet.
Nicht, dass man es nicht versucht hätte. Im Laufe der Jahrhunderte haben viele Kommentatoren versucht, die Wahrheit in Aristoteles’ Behauptungen zu bewerten. Sie alle mussten die Waffen strecken vor der schieren Größe der Aufgabe. Nehmen wir nur einmal den folgenden Abschnitt:
Alle lebend gebärenden Vierfüßer haben Nieren und eine Blase. Einige der Eier legenden Tiere (wie Vögel und Fische) haben keine; von den Vierfüßern unter ihnen nur die Schildkröte, wobei die Größe zu der ihrer anderen Teile proportional ist. Die Niere einer Schildkröte ähnelt der von Rindern. Die Niere eines Ochsen sieht aus wie ein einzelnes Organ, das aus einer Reihe kleinerer Organe zusammengesetzt ist.
In nur drei Sätzen stecken hier sechs empirische Behauptungen: dass (i) alle Säugetiere Nieren haben – wahr; (ii) alle Säugetiere eine Blase haben – wahr; (iii) kein Fisch oder Vogel eine Niere hat – falsch; (iv) kein Fisch oder Vogel eine Blase hat – wahr; (v) von den Amphibien und Reptilien nur Schildkröten Nieren haben – falsch; (vi) die Niere der Schildkröte wie die des Ochsen modular aufgebaut ist – wahr. Aristoteles scheint also die Nieren von Fischen und Vögeln übersehen zu haben. Die Erwartung spielte hier sicherlich eine Rolle, da die Nieren von Fischen und Vögeln nicht nierenförmig, sondern lang und dünn sind. Tatsächlich schreibt Aristoteles in einem anderen Buch auch, dass Fische und Vögel »nierenähnliche« Teile haben.
Aber Aristoteles nach seinem Wissen über das Ausscheidungssystem zu bewerten, ist leicht und erfordert nicht mehr als eine flüchtige Bekanntschaft mit der Anatomie der Wirbeltiere. Was aber soll man von seiner Behauptung halten (um ein anderes Beispiel aufzugreifen), dass es eine Spechtart von mittlerer Größe gebe, der in Olivenhainen nistet? Filios Akreotis, Griechenlands herausragender Ornithologe, sagte mir, dass es tatsächlich einen gibt – den Mittelspecht, Dendrocopus medius –, aber nur auf Lesbos.
Und dann sind da die Schwierigkeiten mit den Texten. Im euripos Pyrrhaiōn, schreibt Aristoteles, sei der esthiomenon echinos zu finden, der Steinseeigel. Er schreibt auch, dass man diesen essbaren Seeigel (Paracentrotus lividus) von seinen ungenießbaren Verwandten anhand des Seetangs unterscheiden kann, mit dem er seine Stacheln verziert. Also fuhren wir eines schönen Sommertages zur Mündung der Lagune und schnorchelten nach den bekränzten Seeigeln, zerschlugen ihre Schalen oder vielmehr ihre Endoskelette an den Felsen und aßen ihre Geschlechtsdrüsen, die von den Sizilianern so heiß geliebten ricci di mare, roh. Unter den Resten unseres Mittagessens befanden sich die Mundwerkzeuge der Seeigel: winzige, komplexe Vorrichtungen aus knochenweißem Kalzit. Im Jahr 1734 beschrieb sie der preußische Universalgelehrte Jacob Theodor Klein in seinem Werk Naturalis dispositio echinodermatum oder vielmehr beschrieb sie erneut, denn er merkte an, dass Aristoteles die Struktur ebenfalls gesehen hatte, und nannte sie in Anlehnung an den Vergleich seines Vorgängers »Laterne des Aristoteles«.
Es ist ein symbolträchtiges Stück Anatomie. Wenn ein Zoologe nichts über Aristoteles weiß, kennt er doch die Mundwerkzeuge des Seeigels unter Kleins Bezeichnung. Eigentlich, so stellte sich heraus, hat Klein genau wie so ziemlich jeder andere nach ihm die Texte missverstanden, denn als Aristoteles den Seeigel mit einer »Laterne« verglich, meinte er keineswegs nur seine Mundwerkzeuge. Eine alte Laterne, die vor Kurzem bei Ausgrabungen in einer Nekropole in Lethe zutage gefördert wurde, macht dies ganz deutlich, da sie genau aussieht wie das Endoskelett eines Seeigels. Das Problem liegt in den Manuskripten: In manchen heißt es soma (Körper), in anderen stoma (Mund) und seine Interpreten mussten eine Wahl treffen.
Dies ist ein warnendes Beispiel. Um die Richtigkeit von Aristoteles’ Beobachtungen zu beurteilen, bräuchte eine Schwadron von Zoologen mit viel Erfahrung in seiner Gedankenwelt und soliden Altgriechischkenntnissen Jahre. Heute sind solche Zoologen selten. Vor einigen Jahrhunderten jedoch waren sie es nicht. Viele konnten Aristoteles im Original lesen und taten es auch. Was sie fanden, gefiel ihnen sehr. Cuvier gab den Ton an: »Alles bei Aristoteles lässt uns staunen, alles ist wunderbar, alles ist gewaltig. Er lebte nur 62 Jahre und es gelang ihm, Tausende von Beobachtungen von äußerster Feinheit zu machen, deren Exaktheit auch die harscheste Kritik bisher nicht anzweifeln konnte.« Cuvier, der Autor von Leçons d’anatomie comparée (5 Bände, 1800–5), Le Règne animal (4 Bände, 1817), Histoire naturelle des poissons (mit Valenciennes, 22 Bände, 1828–49) und anderen Monumentalwerken, war nach allgemeiner und nicht zuletzt eigener Auffassung der größte Anatom seiner Zeit. Er glaubte, dass Aristoteles nicht widerlegt werden könnte – und er hätte es wissen müssen.
Er hätte es auch besser wissen müssen. Stattdessen gab er den Vorsänger für den nachfolgenden Chor: »Ein Meister … der die Grenzen aller Wissenschaften ausweitet und in ihre Tiefen vordringt«, so Geoffroy Saint-Hilaire fils; »sein Plan war gewaltig und strahlend … er legte den Grundstein der Wissenschaft, der nie vergehen wird«, so de Blainville. Das scheint übertrieben. Aber Owen, Agassiz, Müller, von Siebold und Kölliker, Meister des Skalpells in einer Zeit, in der das gesamte Tierreich unters Messer kam, alle ehrten Aristoteles. Weil er ihre Wissenschaft begründet hatte, aber auch, weil er Dinge wusste, die sie nicht wussten. Sie liebten ihn besonders dafür, dass er drei Dinge erkannt hatte, die sie erst wiederentdecken mussten: das väterliche Verhalten des Welses, den Penisarm des Oktopus und den plazentaren Dornhai.