Читать книгу Die Lagune - Armand Marie Leroi - Страница 53
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ОглавлениеMitten in der Darstellung von Griechenlands kriegsgeschüttelter Dynastienhistorie erzählt Herodot zusammenhanglos die Geschichte von Arion, einem Musiker aus Lesbos. Die Schönheit von Arions Musik, sagt Herodot, war unübertroffen; er erfand den Dithyrambos, den wilden Rhythmus der dionysischen Hymnen. Arion hatte lange in Korinth gelebt, zur Zeit der Tyrannei von Periander, was die Geschichte Mitte bis Ende des 7. Jahrhunderts ansiedelt. Dann zog Arion nach Sizilien, wo er Harfe spielte und reich wurde. Aber nach einer Weile sehnte er sich nach dem felsigen Korinth und so heuerte er in Tarentum in Apulien ein bemanntes Schiff an, das ihn zurückbringen sollte. Die Besatzung bestand aus Korinthern, also aus anständigen Kerlen – so dachte er jedenfalls. Kaum war Italien außer Sicht, wollten sie ihn nach einem Blick auf seine Geldbörse über Bord werfen. »Nicht so schnell!«, sagte Arion. »Lasst mich erst für euch singen.« – »Warum nicht?«, erwiderte die Besatzung. Und so putzte Arion sich heraus, zupfte seine Harfe, sang sein Lied und stürzte sich dann über die Bordwand, wo ein freundlicher Delfin ihn aufgriff, ihn fragte, wohin er wolle, und ihn bis nach Korinth trug. Natürlich glaubte ihm dort niemand seine Geschichte, aber dann tauchte die Schiffsbesatzung auf, war angemessen schockiert, Arion lebend vorzufinden, und bestätigte damit ihre Schuld. Und es gibt heute noch, schließt Herodot, am Kap Tenaro einen Schrein mit der kleinen Bronzestatue eines Mannes, der auf einem Delfin reitet.
Dass Heridot Arion Italien über Tarentum (Tarento) verlassen lässt, ist kein Zufall, denn ein Junge auf einem Delfin spielt eine Rolle im Gründungsmythos der Stadt und ihre Münzen trugen sein Bild. Pausanias, Aelianus, Plinius, Oppian, Ovid und ein Dutzend anderer antiker Schriftsteller erzählen von Arion oder anderen Delfinreitern, aber Aristoteles, immer auf der Suche nach dem plausiblen Kern des Mythos, schreibt nur: »Zu den Meerestieren: Viele Belege beweisen die Sanftheit und Freundlichkeit von Delfinen und ihre leidenschaftliche Liebe zu den Jungen in den Regionen von Taras, Karien und anderswo.« Falls das für unsere Ohren pädophil klingt – das tut es auch im Griechischen. Er erzählt weiter, wie Delfine ihre Artgenossen schützen, insbesondere ihre Jungen, aber vor allem interessiert er sich für ihre Anatomie.
Delfine, sagt Aristoteles, sind pfeilschnelle Schwimmer und unersättliche Jäger. Er schreibt, dass sie kopulieren und ein oder zwei lebende Junge gebären, die sie über Bauchschlitze säugen. Sie haben innere Hoden nahe dem Bauch und keine Gallenblase. Sie haben richtige Knochen. Sie atmen Luft, haben eine Luftröhre und Lungen und ein Blasloch, durch das sie Wasser ausstoßen. Beim Jagen tauchen sie in die Tiefe ab, berechnen, wie lange sie unten bleiben können, schießen dann wie Pfeile an die Oberfläche und fliegen durch die Luft, manchmal höher als die Maste von Booten. In diesem Sinne sind sie genau wie Taucher, die an die Oberfläche stürzen. Werden sie unter Wasser in Netzen gefangen, ertrinken sie, an Land dagegen überleben sie eine lange Zeit. Wenn sie aus dem Meer geholt werden, klagen sie, können sich aber nicht artikulieren, da ihre Zunge unbeweglich ist und sie keine Lippen haben. Schlafende Delfine jedoch schnarchen – das erzählt man sich jedenfalls. Sie leben bis zu dreißig Jahre lang in Paaren von Männchen und Weibchen. Wir wissen dies, weil Fischer ihre Schwänze einkerben und sie dann wieder freilassen – dies scheint eine Darstellung der ersten Rückfangstudie in der Geschichte zu sein. Manchmal stranden sie ohne erkennbaren Grund.
Das meiste davon ist korrekt. Dass Delfine schnarchen, ist zweifelhaft, aber vielleicht lassen wir das durchgehen, denn offensichtlich vokalisieren sie tatsächlich im Schlaf. Manche Gelehrte meinen, dass Aristoteles einen Delfin seziert haben muss. Ich glaube das nicht, denn er macht auch einige schwere Fehler. Er sagt – und das zweimal –, dass das Maul des Delfins unter dem Kopf sitzt wie das eines Hais. Diesem Irrtum kann nur jemand aufsitzen, der nie einen Delfin aus der Nähe gesehen hat. (Plinius erweiterte Aristoteles’ Fehler noch und schreibt, dass Delfine ihre Mäuler am Bauch haben, was uns zu dem Schluss verleitet, während der Grieche manchmal irrt, ist der Römer oft ein Narr.)[∗] Aristoteles glaubt auch, dass das Blasloch mit dem Maul verbunden ist, da er sagt, aus ihm wird Wasser ausgestoßen, das während des Fressens aufgenommen wird, jedoch stimmt beides nicht. Es ist klar, dass er seine Anatomie von einem Fischer hat, der einen Delfin am Strand zerlegt hatte. Häufig hört man, die Griechen hätten Delfine als heilige Tiere verehrt. Der Delfinfreund Oppian sagte, sie zu jagen, sei unmoralisch, so verwerflich wie Mord, und beschrieb in Worten, die jedem Greenpeace-Aktivisten zur Ehre gereichen würden, wie die bestialischen Thraker sie harpunierten. Aber Delfinjagden müssen weit verbreitet gewesen sein, denn Aristoteles beschreibt eine andere Technik. Er sagt, dass in völliger Stille Netze herabgelassen werden und dann, wenn die Delfine eingekreist sind, die Jäger Lärm machen, was die Delfine betäubt, sodass sie in der Falle sitzen. Es steckt keinerlei Kritik in seiner Beschreibung: Er interessiert sich nur für die Tatsache, dass Delfine offenbar hören können, obwohl sie keine Ohren haben.
Ob aus erster Hand oder nicht, Aristoteles wendet seine Delfinanatomie nutzbringend an. Obwohl der Delfin in vielerlei Hinsicht einem Fisch ähnelt, erkennt er, dass sein Klagen und Schnarchen, Lungen und Knochen, innere Hoden und lebend geborene, Milch trinkende Junge typischerweise Merkmale von Vierfüßern sind. Er hat auch ein eigenes Merkmal, das Blasloch. In De partibus animalium scheint er unsicher, was er mit dem Delfin anfangen soll, aber in Historia animalium, das wahrscheinlich teilweise später entstand, ordnet er ihn zusammen mit dem Schweinswal und dem Wal einer neuen größten Sorte zu, den ketoeides, von denen unser Begriff Cetacea abstammt. Zur Aufstellung eines neuen Taxons brachte ihn wahrscheinlich der Umstand, dass mehrere Sorten Tiere diese charakteristische Kombination von Merkmalen aufwiesen; er ist ein taxonomischer Pragmatist. Aristoteles bezeichnete die Wale nicht als Säugetiere, da »Säugetier« ein Konzept war, das er nicht verstand. Für ihn waren die Wale nur eine der großen Sorten von Bluttieren auf gleicher Ebene mit den Vögeln, Fischen und lebend gebärenden Vierfüßern. Dennoch schlug er sich wesentlich besser als seine Nachfolger, die sie zweitausend Jahre lang »Fische« nannten.
Ich habe niemals Delfine in Kalloni gesehen, aber manchmal sind sie dort. Ein Fischer erzählte mir, dass im Sommer 2011 eine große Schule Tümmler zum Jagen in die Lagune gekommen sei. Einige Fischer – andere Fischer, ließ er durchblicken, nicht er, obwohl das nicht ganz klar wurde – trieben sie zusammen und töteten sie. Er erklärte, dass die Jungen die Netze beschädigen, die dreitausend Euro pro Stück kosten, und dass von den fünfzig Tümmlern nur drei entkamen.