Читать книгу Predigt braucht Gefühl - Arndt Schnepper - Страница 12
Praxis
ОглавлениеDoch wie sehen Predigten heute bei uns aus? Welche der drei genannten Faktoren werden möglicherweise bei uns vernachlässigt? Das ist natürlich eine Frage, die sich pauschal so nicht beantworten lässt. Ich wüsste auch nicht, wie man das messen sollte. Zu unterschiedlich sind kirchliche Traditionen, zu individuell auch die vielen Predigerinnen und Prediger. Dennoch gibt es Indizien, die in eine gewisse Richtung weisen.
Beginnen wir mit dem ersten Rahmenfaktor, also der akustischen Vernehmbarkeit. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war das eine riesige Herausforderung. Wohl traten immer wieder Prediger wie der mittelalterliche Berthold von Regensburg (1220–1272) auf, die zu vielen Tausend Zuhörern auf freiem Feld reden konnten. Doch sie waren echte Ausnahmeerscheinungen. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts musste der durchschnittliche Prediger zeit seines Lebens seine Stimme in Form halten, um im Kirchenraum durchzudringen. Viele Predigten werden die letzten Reihen nicht mehr erreicht haben. Und viele schwerhörige Menschen werden kaum etwas verstanden haben. Das änderte sich schlagartig mit der Einführung des Lautsprechers. Seitdem ist die Akustik überall gewährleistet. Das Schlimmste, was heute mancher Gemeinde am Sonntag zustoßen könnte, wäre ein Stromausfall.
Und wie steht es um den zweiten Faktor – das Verstehen? Erfahrungsgemäß ist das ein weites Feld. Das formale Verständnis ist ja in vielen Fällen gegeben. Wachse ich in Deutschland auf, dann verstehen mich dort die allermeisten Menschen, darüber hinaus auch in Österreich und der Deutschschweiz. Wenn wir nun das formale Verstehen der Sprache voraussetzen, so bleibt die Herausforderung, einmal die Bibel an sich zu verstehen, sodann die Zuhörer und ihre Hintergründe zu kennen und dann auch noch eine Brücke zwischen beiden zu schlagen. Für das Verständnis der Heiligen Schrift bieten sich theologische Zweige wie die Hermeneutik, die Exegese, die Sprachwissenschaften und die Geschichtswissenschaften an. Die Menschen und ihre Lebensverhältnisse versuchen wir mit den Sozialwissenschaften besser zu verstehen: Hier stehen Psychologie, Soziologie oder Pädagogik zur Verfügung. Wer predigt, wird immer versuchen, neue Einsichten dieser Forschungszweige in Anspruch zu nehmen.
Bleibt noch die dritte Bedingung der menschlichen Wahrnehmung: das Fühlen. Und hier wird schnell deutlich, dass es sich dabei meist um ein unbekanntes Terrain handelt. Natürlich nicht in dem Sinne, dass man von diesem Land des menschlichen Lebens überhaupt nichts wüsste. Schließlich gehört ein psychologisches Grundwissen heute zu einer Art Grundausbildung. Das Land der Gefühle ähnelt einem mehr oder weniger gut kartografierten Gelände. Man weiß darum Bescheid – aber man begibt sich dort nicht hinein. Man hat von den Emotionen und Motivationen gehört, ist aber zögerlich, sie für die Predigt nutzbar zu machen. Man spricht über die Gefühle ohne viel Gefühl – das kann nicht gut gehen.
Noch gelten die Emotionen vielen Predigern und Predigerinnen als zu vernachlässigende Faktoren. Für manche ist es geradezu ein hohes Ideal, Predigten ohne viel Gefühl zu halten. Denn der Glaube an den dreieinigen Gott, so die Annahme, sei ja schließlich auch kein Gefühl. Der Verstand erscheint ihnen als der Haupteingang zur menschlichen Seele. Und auch wenn Prediger im Gefolge einer reformatorischen Theologie der Vernunft nicht allzu viel zutrauen, so operieren sie doch weitestgehend immer mit denkerischen Mitteln. Man interpretiert, argumentiert, strukturiert, formuliert und definiert – so will man die Menschen erreichen.
Doch der Wind dreht sich. Hier und da spricht man in den Wissenschaften von einem »emotive turn«, also einer Wendung hin zu den Emotionen. Sie rücken heute mehr und mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit. Und das ist keineswegs eine Stilfrage. Für die Predigt geht es ums Überleben. Denn die Frage ist, ob wir mit der einseitigen Ausgestaltung der Predigt dem Menschen gerecht werden. Predigen wir menschlich, also mit Verstand und Gefühl? Falls nicht, predigen wir am Menschen vorbei.