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Praxis

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Literaturwissenschaftler sprechen hier von der »poetischen Form« der Sprache Jesu. Auch wenn Jesus in Aramäisch predigte, die Evangelisten seine Reden ins Griechische übertrugen und wir heute die Texte in deutscher Sprache lesen, so ist bis heute der unnachahmliche »Sound« der Reden von Jesus zu spüren. Alles klingt und schwingt bei ihm. Seine Worte sind voller Bilder und Beispiele, Langeweile ist nicht möglich. Ja, man wird bei ihm von einem Thema zum nächsten mitgerissen.

Poetisch nennt man seine Predigtweise also nicht, weil er sich um hebräische Lyrik bemüht hätte. Mit dieser Bezeichnung ist vielmehr gemeint, dass es bewusst für die Zuhörenden geformte Sprache ist. Er nutzte keine Schriftsprache, wie etwa Paulus es in seinen Briefen tat, wo man beim Abfassen jedes Satzes noch mal nachdenken kann. Bei Jesus finden wir die typische Sprechsprache, die versucht, Aufmerksamkeit zu erregen. Es ist keine kühle und sachliche Sprache, es ist eine Rede, die den Hörenden berühren und bewegen soll. Es ist eine Predigtweise, die zielsicher auf die Emotionen abzielt. Als ungeheuer stark empfinden wir noch heute seine Geschichten und Gleichnisse, wie etwa die vom barmherzigen Samariter (Lukas 10), vom verlorenen Sohn (Lukas 15), vom vierfachen Ackerfeld (Matthäus 13) oder den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20). Durch und durch einprägsam sind auch seine sogenannten »Ich-bin«-Worte, wie sie im Johannesevangelium überliefert werden. Theologische Spitzenaussagen werden hier in ein emotionales Kleid eingewickelt, sodass sie bis heute ihre Wirkung nicht verfehlen.

Jesus predigte in einer Zeit, die wir heute als orale, also mündliche Kultur bezeichnen. Auch wenn die Menschen damals begannen, mehr und mehr zu schreiben – man denke an Paulus und seine zahlreichen Briefe –, so war die mündliche Rede doch die vorherrschende Kommunikation. Man wusste: Wer überzeugen möchte, muss zu den Menschen sprechen können. Er muss alle wesentlichen Voraussetzungen des Redens im Blick haben. Man konnte es sich nicht leisten, leise und langweilig vor sich hin zu reden – es war geboten, laut und vernehmlich sowie verständlich und mit viel Gefühl zu den Menschen zu sprechen. Nur so ließen sich die Zuhörer erreichen.

Was Jesus nun erfolgreich in seinem Alltag praktizierte, war auch Gegenstand der damaligen Wissenschaften. Immer wieder wurde im Altertum gefragt, wie mithilfe von Erfahrung und Überlegung die Voraussetzungen der wirksamen Rede beschrieben werden könnten. Eine wichtige Stimme war hier der römische Philosoph und Jurist Marcus Tullius Cicero (106–43 v.Chr.), der rund 100 Jahre vor Jesus geboren wurde. In seinem Werk »Über den Redner« (Original: »De oratore«) benennt er drei unersetzliche Aufgaben, die ein erfolgreicher Redner verfolgen muss, damit er Wirkung erzielt. Diese Faktoren wurden später auch als die officia oratoris, also die Wirkungsarten der Redekunst, bezeichnet. Es handelt sich um das Belehren (lat. docere), das Erfreuen (lat. delectare) und das Bewegen oder Erschüttern (lat. movere):

So konzentriert sich die gesamte Redekunst auf drei Faktoren, die der Überzeugung dienen: den Beweis der Wahrheit dessen, was wir vertreten, den Gewinn der Sympathie unseres Publikums und die Beeinflussung seiner Gefühle im Sinne dessen, was der Redegegenstand jeweils erfordert. (Cicero, De oratore II, 115)

Für seine Sache kann man die Zuhörer also nur gewinnen, wenn es gelingt, bei ihnen Gefühle zu wecken. Sich allein an den Verstand zu richten, reicht nicht, es muss das Herz getroffen werden. Es ist dieser Realismus der antiken Rhetorik, der ihr bis heute Bewunderung und Anerkennung verschafft. Die ausschließliche Betonung der Vernunft und der Argumentation wird dem Menschen nicht gerecht. Die Zuhörer wollen natürlich verstehen, sie möchten aber auch spüren und fühlen. Beides ist wichtig: gute Gedanken und große Gefühle. Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um eine gegenseitige Ergänzung. Diese Gewissheiten waren zu Jesu Zeiten Allgemeinwissen – und Jesus scheint dieses Wissen auf vollkommenste Weise verkörpert zu haben. Er sprach nicht an den Menschen vorbei – im Gegenteil. Nach seiner Predigt auf dem Berg »entsetzten« sich (Lutherbibel) bzw. »erstaunten« (Elberfelder Bibel) die Menschen sehr. Denn, so die Begründung des Evangelisten, »er sprach mit Vollmacht – anders als die Schriftgelehrten« (Matthäus 7,29).

Predigt braucht Gefühl

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