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Doch wie ist es zu erklären, dass die Gefühle es in unseren Predigten so schwer haben? Warum wird mehr vor ihnen gewarnt, als dass sie empfohlen werden? In der einschlägigen Literatur wird oft auf zwei historische Ereignisse hingewiesen, die gegensätzlicher nicht sein könnten: die europäische Aufklärung und der deutsche Nationalsozialismus. Beide haben – obwohl sie nun gar nicht miteinander zu vergleichen sind – die Haltung zu öffentlichen Gefühlen maßgeblich geprägt.

Gehen wir auf eine kleine Zeitreise und schalten einmal 400 Jahre zurück. Es ist die Nacht von Sonntag, dem 10. November, auf Montag, den 11. November 1619. Im oberbayerischen Neuburg an der Donau befindet sich der 23-jährige Franzose René Descartes (1596–1650). Es herrscht der Dreißigjährige Krieg und als Kriegsfreiwilliger steht er im Dienst der bayerischen Armee. Noch ist Descartes unbekannt, bald wird er als bedeutendster Philosoph der beginnenden Neuzeit gelten. Der Winter zwingt die Soldaten zum Abwarten. Es ist bitterkalt und Descartes zieht sich in ein Kaminzimmer zurück. Während draußen der eisige Wind über das Lager pfeift, setzt er sich nahe an einen Ofen und schaut lange in die glühende Kohle. Er denkt über eine uralte Frage der Menschheit nach: Was kann der Mensch wirklich wissen? Können wir, so fragt Descartes, unseren Sinnen wie Augen und Ohren eigentlich trauen? Nein, sie können täuschen. Ist es dann das Denken, dem wir immer folgen könnten? Nein, auch dieser Weg ist versperrt. Denn das Nachdenken könnte möglicherweise von einem Dämon getrübt sein. Descartes beginnt an allem zu zweifeln. Und in dieser Nacht findet er über den Zweifel zur Gewissheit. Im kritischen Denken wird ihm bewusst, dass er lebt. Er kann zwar nicht sicher sein, dass das, was er denkt, richtig ist. Doch das Denken und Zweifeln sind für ihn ein untrüglicher Beweis, dass es ihn gibt. So wird das Denken für ihn zur Basis, das Leben und die Welt zu verstehen.

Etwa 20 Jahre später wird er seine Einsicht mit einem berühmten Ausspruch schriftlich festhalten. Es ist der Satz, der die neue Zeit der Philosophie markiert: »Je pense, donc je suis«, das heißt auf Deutsch: »Ich denke, also bin ich.« Und da Descartes viele seiner Bücher wie damals üblich in Latein verfasste, ist auch die lateinische Variante heute noch bekannt: »Ego cogito, ergo sum.« Es ist diese Überzeugung von Descartes, die den Boden für die sogenannte Aufklärung bildet. Die ratio, die Vernunft, gilt fortan als der goldene Schlüssel, um die Welt zu verstehen. Ihr wird nun so gut wie alles zugetraut. Und darum wird sie auch als der wesentliche Teil des Menschen geschätzt. Körper und Gefühle spielen natürlich noch eine Rolle, aber sie sitzen nur noch auf der Ersatzbank. Die These mancher Wissenschaftler ist, dass mit der Aufklärung die Rolle der Gefühle langsam zurückging. Dieser Prozess vollzog sich nicht von einem Moment auf den anderen, sondern er verlief in langen Wellen, aber er vollzog sich unaufhaltsam. Und das wirkte sich natürlich auch auf die Predigt aus.

Es gibt aber auch noch ein zweites Ereignis, das an dieser Stelle unbedingt Erwähnung finden muss: die zwölf Jahre nationalsozialistischer Terrorherrschaft in Deutschland und der Weg dorthin. Im Gegensatz zur akademischen Welt brach sich hier in der Politik eine Bewegung Bahn, die ganz bewusst die Emotionen steuern wollte. Gefühle wurden zum Gesetz der Kommunikation, das Pathos galt als herrschendes Prinzip der Verständigung. Mit dem 1933 neu geschaffenen Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda wurde zielgerichtet der Versuch unternommen, die Deutschen dauerhaft im Sinne der nationalsozialistischen Politik zu beeinflussen. Hochemotionale Reden, Aufmärsche im Fackelschein, Massenkundgebungen und theatralische Filmproduktionen bestimmten mehr und mehr den Alltag. Einer der grausigen Höhepunkte bildete 1943 die sogenannte Sportpalastrede in Berlin. 109 Minuten lang schwor der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897–1945) die Zuhörer auf den »Totalen Krieg« ein. Zum Schluss antworteten viele der Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit hysterischem Geschrei und lauten »Heil-Rufen«.

Im Rückblick kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als sei damals die ganze Bevölkerung einem Vollrausch erlegen gewesen. Kein Wunder, dass man nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland eine neue Sachlichkeit suchte und pflegte. Nichts sollte mehr an die emotional aufgeladenen Zeiten erinnern. Entsprechend nüchtern gestaltete sich fortan das Reden in der Öffentlichkeit – sowohl im Deutschen Bundestag als auch auf den Kanzeln in den Kirchen. Gefühle in der öffentlichen Rede waren erst mal tabu. Das ist fürs Erste sicher verständlich, aber auf Dauer für die Hörenden nicht förderlich.

Predigt braucht Gefühl

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