Читать книгу Psychodynamische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen - Arne Burchartz - Страница 10
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1 Kurzer historischer Überblick
In seinen sog. behandlungstechnischen Schriften (insbes. Freud 1912e, 1913c, 1914g) fasste Sigmund Freud zusammen, welches technische Vorgehen er aufgrund seiner klinischen Erfahrung, die er bis dahin gesammelt hatte, für die Psychoanalyse für grundlegend hält. Damit war ein vorläufiger Kodex für die psychoanalytische Behandlung formuliert. Aber bereits im Jahr 1918 stellte Freud – anknüpfend an Gedanken zur »Aktivität« des Analytikers, wie sie in jener Zeit auch Ferenczi äußerte (1919a, 1919f) – Überlegungen an, »den Stand unserer Therapie zu revidieren … und Ausschau zu halten, nach welchen neuen Richtungen sie sich entwickeln könnte« (Freud 1919a/1918). Das massenhafte neurotische Elend nach dem Ersten Weltkrieg mag hierbei eine Rolle gespielt haben. Anlass war der 5. Internationale Psychoanalytische Kongress in Budapest, bei dem auch Regierungsvertreter anwesend waren; dies mag Freud bewogen haben, seinen Vortrag vorher schriftlich zu fixieren (was er sonst nicht tat). Freud entwickelte seine Gedanken in drei Richtungen: Zum einen, indem er die Möglichkeit ins Auge fasst, die Abstinenzregel zuergänzen, indem der Analytiker die »äußerlich konstellierenden Umstände« (S. 187), die einer Heilung im Wege stehen, zu beeinflussen versucht. Der Analytiker müsse etwa den Verzicht auf Ersatzbefriedigungen fordern, welche die Neurose ablösen, aber nicht zur Heilung führen (z. B. die Reinszenierung in Beziehungen), er müsse aber auch der Verwöhnung durch eine übermäßige Wunscherfüllung in der Übertragung entgegentreten.
Zum anderen betrifft die Aktivität Behandlungen von Patienten, »die so haltlos und existenzunfähig sind, dass man bei ihnen die analytische Beeinflussung mit der erzieherischen vereinigen muss.«(S. 190) Was Freud hier ins Auge fasst, ist mit den Worten der heutigen psychoanalytischen Theoriebildung eine Modifizierung der Behandlungstechnik bei strukturell schwer gestörten Patienten.
Eine dritte Form der Aktivität ist nach Freud in der Symptomatik selbst begründet: »… die verschiedenen Krankheitsformen, die wir behandeln, (können) nicht durch die nämliche Technik erledigt werden« (S. 191). Freud nennt als Beispiel die Phobien, zu deren erfolgreicher Behandlung die Patienten dazu gebracht werden müssten, sich der phobischen Angst-Situation auszusetzen, erst dann werde der Kranke »jener Einfälle und Erinnerungen habhaft, welche die Lösung der Phobien ermöglichen« (S. 191; vgl. Hopf 2009). Weitere technische Modifikationen schlägt er für die Zwangserkrankungen vor.
In demselben Vortrag befasst sich Freud mit der Frage, wie die Psychoanalyse unter den Bedingungen einer breiten Anwendung (»Psychotherapie fürs Volk«, S. 193f.) aussehen werde – wobei er auch »die Kinder, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und Neurose bevorsteht«, im Auge hatte. »Dann wird sich für uns die Aufgabe ergeben, unsere Technik den neuen Bedingungen anzupassen« (S. 193).
Leider hat S. Freud diese Gedanken später nicht mehr aufgegriffen. Allerdings hat er damit wesentliche Probleme der Kontroversen um die Technik in der weiteren Entwicklung der psychoanalytischen Verfahren benannt: die Aktivität des Analytikers in der Behandlung bestimmter Krankheitsbilder und die Anwendung der Psychoanalyse als versorgungsrelevantes Verfahren für psychisch kranke Menschen, die sich den Bedingungen der »tendenzlosen Psychoanalyse« (a. a. O., S. 194) nicht ohne weiteres anpassen können. Cremerius (1993) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich hier der Konflikt zwischen dem Arzt und dem Forscher in der Person Sigmund Freuds selbst zeigt.
1924 erschien der Band »Entwicklungsziele der Psychoanalyse« von Sándor Ferenczi und Otto Rank, beide Schüler und enge Mitarbeiter S. Freuds. Ausgehend von der Überlegung, dass die Wiederholung des neurotischen Konflikts in der Übertragung nicht allein als Widerstand gegen das »Erinnern« zu verstehen ist, sondern folgerichtig ein Ergebnis des Wiederholungszwanges und deshalb unvermeidlich ist und oft gerade die Stücke enthält, »die als Erinnerung überhaupt nicht zu haben sind, so dass dem Patienten kein anderer Weg übrig bleibt, als sie zu reproduzieren« (Ferenczi & Rank 1924, S. 14), fordern die Autoren eine Aktivität des Analytikers »im Sinne einer direkten Förderung der bisher vernachlässigten, ja als störende Nebenerscheinung betrachteten Reproduktionstendenz in der Kur« (S. 15). Damit fordern sie eine aktive Haltung des Analytikers, die sich darauf richtet, das Wiederholen als eine spezifische Form des präverbalen Erinnerns in der Analyse gezielt zu fördern, ja zu provozieren. In seiner Schrift »Weiterer Ausbau der ›aktiven Technik‹ in der Psychoanalyse« empfiehlt Ferenczi, in bestimmten Phasen der Analyse diese Reproduktionstendenzen, um sie innerhalb der Analyse zu halten, dadurch zu fördern, dass dem Patienten bestimmte Gebote oder Verbote auferlegt werden (Ferenczi 1921). Die Ideen von Ferenczi und Rank fanden in der psychoanalytischen Diskussion wenig Resonanz; Freud äußerte sich skeptisch, die Mehrheit der Analytiker lehnte die aktive Methode ab (vgl. Haynal 2000). So blieb das Anliegen über 20 Jahre lang unbearbeitet, bis es von Franz Alexander (damals einer der Kritiker Ferenczis und Ranks) und seinem Kollegen Thomas Morton French, beide am Chicagoer Psychoanalytischen Institut, wieder aufgegriffen wurde (Alexander & French 1946). Alexander und French versuchten eine Komprimierung und Verkürzung des analytischen Verfahrens dadurch zu erreichen, dass sie den Patienten durch gezieltes eigenes Verhalten des Analytikers zu bestimmten Übertragungen provozierten. Bezog sich die Aktivität des Analytikers bei Ferenczi und Rank noch darauf, den Patienten überhaupt zu Reproduktionen in der Analyse zu bewegen bzw. diese zu intensivieren, notfalls durch Eingriffe in sein alltägliches Verhalten, so schlagen Alexander und French vor, bestimmte Übertragungskonstellationen durch gezielte Einflussnahme innerhalb der Analyse hervorzurufen. Beiden Ansätzen gemeinsam ist die Betonung, dass Deutungen allein, sofern sie auf der Ebene des kognitiven Verstehens verharren, keine Veränderung im Patienten hervorbringen; vielmehr bedürfe es einer emotionalen Beteiligung des Patienten, was auch eine emotionale Beteiligung des Analytikers voraussetze (Ferenczi 1999: »Ohne Sympathie keine Heilung«). Die Analyse solle dem Analysanden eine korrigierende emotionale Erfahrung ermöglichen (Alexander & French 1946). Die Autoren betonten, dass in jeder Psychotherapie, sei sie streng analytisch oder abgewandelt, die gleichen psychodynamischen Prinzipien wirksam seien bzw. die Grundlage des therapeutischen Vorgehens abgeben würden.
Wiederum fand der Ansatz von Alexander und French in der analytischen Diskussion keine Aufnahme; die Mehrheit der Analytiker lehnte das Vorgehen als »unanalytisch« ab. Die Antwort erfolgte wenige Jahre später durch die Festlegung einer »rite-Psychoanalyse« durch Kurt Eissler (1953). Setting, Behandlungsfrequenz usw. waren damit für die Psychoanalyse vorläufig in einer Art Ideal-Technik festgelegt, es etablierte sich eine Unterscheidung von »strikter« Psychoanalyse und daraus abgeleiteten Verfahren, die als mehr oder weniger »analytisch« anerkannt bzw. als »unanalytisch« abgelehnt wurden. Im amerikanischen Sprachraum wurden diese Verfahren oft unter dem Begriff »Psychodynamic Psychotherapy« zusammengefasst und sie gewannen hinsichtlich der Versorgungsrelevanz bald größere Bedeutung als die »klassische« Psychoanalyse1 (vgl. zum Begriff »klassisch« in diesem Zusammenhang Haynal 2000, S. 126ff.). Im deutschen Sprachraum war es v. a. Annemarie Dührssen (1988, 1995), die unter dem Begriff »Dynamische Psychotherapie« diese Verfahren weiterentwickelte.
In den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts fand sich eine kleine Arbeitsgruppe um Michael Balint, einem Ferenczi-Schüler, Enid Balint und David Malan zusammen, die eine Verkürzung und Konzentration der analytischen Therapie bei bestimmten Patientengruppen mittels einer Fokusbildung vorschlugen. Ziel der Kurzzeittherapie oder Fokaltherapie sollte es sein, einen umschreibbaren aktivierten zentralen Konflikt zu bearbeiten, ohne einen langwierigen regressiven Prozess einzuleiten. Dazu wurde in der Arbeitsgruppe für einen Patienten ein möglichst prägnanter Fokalsatz gefunden, der den Brennpunkt (Fokus), das Zentrum des Konfliktgeschehens beschreibt und der als roter Faden in der Behandlung dient. Dem Patienten steht es natürlich jederzeit offen, das Material in die Stunden zu bringen, das ihm im Moment naheliegt, weder ist das Prinzip der freien Assoziation noch das der Abstinenz des Analytikers aufgehoben. Auch die Verwertung der Erkenntnisse aus Übertragung, Gegenübertragung sowie Widerstand als Basis des psychoanalytischen Prozesses bleiben erhalten. Die Aufgabe des Analytikers besteht allerdings darin, das Material hinsichtlich des fokalen Konflikts zu sortieren und das aufzugreifen, was zu dessen Bearbeitung dienlich ist. Die Aktivität des Analytikers bezieht sich also auf ein »selektives Aufgreifen« und damit auf eine Konzentration des Prozesses auf das zentrale Konfliktthema des Fokus. Damit war eine Technik gefunden, welche einerseits die analytischen Prinzipien aufrechterhält und auf manipulatives Eingreifen in den Übertragungsprozess verzichtet und andererseits eine Konzentration und Verkürzung des therapeutischen Prozesses erlaubt. Die Bildung eines Fokus kann als das zentrale Arbeitsmittel nicht allein von Kurzzeittherapien, sondern von Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien überhaupt angesehen werden.2
Merke
• Die heutige Auffassung der TfP ist historisch auf dem Boden der Psychoanalyse gewachsen.
• Sie entspringt Bemühungen, die Analyse in bestimmten Aspekten weiterzuentwickeln, etwa in der Frage der Aktivität des Analytikers oder der Konzentration des therapeutischen Prozesses.
• Sie ist das Ergebnis einer Suche nach einem technischen Vorgehen, das solchen Patienten hilft, die aus unterschiedlichen Gründen einer Analyse nicht zugänglich sind.
1 Der Begriff »klassische Psychoanalyse« ist irreführend, impliziert er doch eine Festlegung, die der Psychoanalyse ihrem Wesen nach eigentlich widerspricht. Die psychoanalytische Technik war, ähnlich wie ihr jeweiliger wissenschaftlicher Erkenntnisstand, immer im Wandel. Seit Eissler ist man geneigt, ein bestimmtes Verfahren als »klassische Psychoanalyse« zu bezeichnen, das ist zur Unterscheidung von anderen psychoanalytischen Verfahren hilfreich, sollte aber nicht zu der Ansicht verführen, als sei dieses »Standardverfahren« schon immer die »eigentliche« Psychoanalyse gewesen. S. Freud (1919a): »… wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit und Abgeschlossenheit unseres Wissens und Könnens; wir sind, wie früher so auch jetzt, immer bereit, die Unvollkommenheiten unserer Erkenntnis zuzugeben, Neues dazuzulernen und an unserem Vorgehen abzuändern, was sich durch Besseres ersetzen läßt« (S. 183).
2 Zur Fokusbildung Kap. 5.4 »Der Fokus in der Psychotherapie«.