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3.9 Das Gebot der Abstinenz des Therapeuten

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Übertragung und Inszenierungen zielen darauf ab, den Therapeuten in ein Arrangement zu verwickeln, in dem dieser genötigt wird, die ungelösten Konflikte und psychischen Strukturdefizite im Sinne einer gemeinsamen Abwehr gleichsam mitzuspielen, zu agieren. Der Therapeut soll unbefriedigte Wünsche erfüllen, empfundene Mängel und Unfähigkeiten kompensieren. Vermittels projektiver Identifizierungen werden unerträgliche Affekte in den Therapeuten verlagert mit der unbewussten Erwartung, er möge sie nun übernehmen und entsprechend den bisherigen Beziehungserfahrungen reagieren. Diese Verwicklung des Therapeuten ist ein notwendiger Prozess, um Gefühle und Affekte nicht nur irgendwie theoretisch zu erfassen, sondern sie auch in ihrer mitunter heftigen Wucht zu spüren. In der Regel setzt nun ein mehr oder weniger subtiler Sog ein, den Nötigungen des Patienten nachzugeben, durch direkte Worte und Handlungen seine Beunruhigung zu dämpfen, seine Ängste zu beruhigen, seine Wünsche etwa nach Bestätigung zu erfüllen, oder umgekehrt sich für Herabsetzungen und Entwertungen zu rächen, sie zurückzuweisen usw., mit anderen Worten, die Gegenübertragungsgefühle zu agieren. Dies würde aber nur zu einer kurzfristigen Entlastung führen, langfristig werden damit die Schwierigkeiten des Patienten lediglich wiederholt, perpetuiert und bleiben letztlich ungelöst, wie in unzähligen anderen Situationen auch, die der Patient aus seinem Lebensumfeld erlebt. Das Abstinenzgebot für den Therapeuten bezieht sich darauf, zwar einerseits ein therapeutisches Milieu des Akzeptierens, Wertschätzens und Verstehens bereitzustellen, auch unter Anerkennung der bisherigen Bewältigungsversuche einer beschädigten Psyche und unter Verzicht auf Bewertungen und Urteile, andererseits aber von Wunscherfüllungen Abstand zu nehmen und stattdessen die Konflikte, die sich zwischen Wunsch, (Beziehungs-)Realität und intrapsychischen sowie psychosozialen Abwehrarrangements abspielen, verstehend aufzunehmen und zu deuten.

Natürlich wird es dabei insbesondere in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, bei denen sich die Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität erst noch sicher etablieren muss, immer wieder um eine Balance gehen zwischen einer Realbeziehung, die ein sicheres Arbeitsbündnis herstellt und die entwicklungsbedingten Bedürfnisse des Kindes oder Jugendlichen berücksichtigt, und der Bearbeitung des szenischen Geschehens aus der Position des beobachtenden Dritten heraus. Letztlich kann das Ziel einer Therapie ja nur darin bestehen, den Patienten in die Lage zu versetzen, seine berechtigten Ansprüche an seine Beziehungen angemessen zu verwirklichen, auf Unerfüllbares, auf Illusionen aber zu verzichten und die Trauer darüber anzunehmen. Ein so verstandenes Realitätsprinzip im psychischen Geschehen zu verankern, kann dem Patienten nur gelingen durch die Haltung der Abstinenz beim Therapeuten.

Die andere Richtung des Abstinenzgebots betrifft die Wünsche des Therapeuten selbst. Es versteht sich von selbst, dass Therapeuten sorgfältig darauf achten müssen, ihre Patienten nicht zur Bewältigung eigener unbewusster Konflikte und Strebungen zu missbrauchen. Das gilt auch und gerade für sexuelles Begehren. Freilich kann es auch erfahrenen Therapeuten passieren, dass sie sich dabei ertappen, Partei zu ergreifen oder in subtiler Weise einen Patienten manipulieren zu wollen – dann gehört es zur therapeutischen Verantwortung, solche Regungen in einer Supervision zu bearbeiten. Es kann nicht oft genug betont werden, dass eine gründliche und umfassende Selbsterfahrung, etwa im Rahmen einer Lehranalyse oder Lehrtherapie, in der die eigenen neurotischen Anteile des Therapeuten bearbeitet werden, unabdingbarer Bestandteil der Ausbildung sein muss.

Eine besondere Herausforderung an die Abstinenz bzw. Neutralität des Therapeuten stellt sich in der Therapie von Kindern und pubertierenden Jugendlichen, denn auf diesem Feld hat man es auch mit realen Eltern und deren Beziehungskonflikten zu tun. In familiären Konflikten stellt sich unweigerlich der Versuch ein, den Therapeuten als Partei gegen den anderen zu gewinnen. Solche Versuche sind zunächst kaum zu beeinflussen, denn in dem, was sich außerhalb der Therapie abspielt, kommt der Therapeut nicht real vor, vielmehr wird er als vermeintlich mächtige Instanz gleichsam virtuell in die eigene Position eingebaut.

Zu Beginn der Therapie von Otto, zwölf Jahre alt, klagen die Eltern über dessen Unwilligkeit, elterliche Regeln einzuhalten. Sie reagieren mit immer rigideren Verboten, die der Sohn wiederum teils offen, teils versteckt unterläuft. Die Eltern fühlen sich entmachtet und verächtlich beiseitegeschoben. Der Patient hingegen beklagt sich über ständige Entwertungen, Zurücksetzungen und unsinnige Verbote. Ein analsadistischer Machtkampf hat sich etabliert, in den der Therapeut nun hineingezogen wird. In einem Elterngespräch schildern die Eltern, wie sie vergeblich den allabendlichen exzessiven Fernsehkonsum des Jungen einzuschränken und ihn rechtzeitig ins Bett zu schicken versuchen. Es stellt sich heraus, dass der Patient einen eigenen Fernseher in seinem Zimmer hat. Die kritische Frage des Therapeuten, was sie denn bewogen hat, dem Jungen einen Fernseher ins Zimmer zu stellen, hat ungeahnte Folgen. Tags darauf entfernt der Vater wort – und erklärungslos das Gerät aus dem Zimmer seines Sohnes; sieht der Junge eine Sendung im Wohnzimmer, so zappt der Vater künftig einfach weiter zu »seinem« Programm. In seine nächste Therapiestunde kommt der Patient mit einem heftigen Vorwurf an den Therapeuten. Er vermutet richtig, dass die Aktion des Vaters etwas mit dem vorangegangenen Elterngespräch zu tun hatte, und erlebt den Therapeuten als einen verlängerten Arm der elterlichen (beschädigten) Autorität, die ihm nur weitere, diesmal verschärfte Einschränkungen und Verbote auferlegt, ihm sein Glück missgönnt und nur Unordnung stiftet. »Wenn ich nur meinen Fernseher wiederhätte, wäre alles in Ordnung.«

Natürlich nützt es in solchen Fällen nichts, wenn der Therapeut beteuert, es so gar nicht gemeint zu haben. Weiterführend ist, den Vorgang selbst zu untersuchen und die dahinterstehenden Motivationen aufzudecken. Etwa, dass die Frage des Fernsehkonsums – zu dem man ja durchaus eine kritische Haltung einnehmen kann – hier zu einem Schlachtfeld wird, an dem ein ganz anderer Krieg ausgefochten wird, samt dem Versuch, die Therapie als Waffe in diesem Krieg zu verwenden.

Psychodynamische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen

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