Читать книгу Psychodynamische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen - Arne Burchartz - Страница 24
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4 Einführung in das Verfahren
Der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie werden in der Literatur vor allem zwei Wesensmerkmale zugeschrieben: Perspektivenvielfalt und Adaptivität (vgl. Wöller & Kruse 2020, S. 45ff.). Unter Perspektivenvielfalt wird eine Haltung des Therapeuten verstanden, welche das psychodynamische Geschehen und den therapeutischen Prozess aus wechselnden Perspektiven betrachtet: intrapsychisch und interpersonell, konfliktzentriert und strukturzentriert, Übertragung und Realbeziehung, pathogen und salutogen. Genaugenommen ist diese Haltung für Psychoanalytiker, insbesondere für Kinderanalytiker, nichts Neues. Jeder analytisch orientierte Psychotherapeut nimmt je nach dem momentanen Stand des therapeutischen Prozesses und dem Übertragungsgeschehen die verschiedenen Perspektiven der psychoanalytischen Grundorientierungen ein: Einmal wird eine eher triebtheoretische Sichtweise hilfreich sein, ein andermal eine ich-psychologische oder objektbeziehungspsychologische oder eine strukturbezogene, auf narzisstische Entwicklungsmodi gerichtete Perspektive. Containende und deutende Haltungen ergänzen sich wechselnd oft in derselben Stunde. Kinderanalytiker berücksichtigen parallel die Perspektiven der primären Bezugspersonen und die der kindlichen oder jugendlichen Patienten.
Adaptivität bezeichnet eine Haltung, die sich nach den Bedürfnissen des Patienten richtet. Damit ist nicht eine Bedürfnisbefriedigung gemeint, sondern die Frage, welche Art der Intervention dem Patienten in seiner im Hier und Jetzt zutage tretenden Problematik am ehesten gerecht wird und die Therapie im Sinne der therapeutischen Ziele fördert. Die sorgfältige Beobachtung der Reaktion des Patienten auf therapeutische Interventionen ist bei dieser Haltung handlungsleitend (Althoff 2019, S. 125ff.). Das ist in der TfP deshalb von entscheidender Bedeutung, weil der Therapeut eine aktivere Haltung einnimmt und damit den therapeutischen Prozess anders beeinflusst als in einer Analytischen Psychotherapie.
Auch die Adaptivität ist für analytisch orientierte Psychotherapeuten keine gänzlich neue Erkenntnis. Legis arte wird jeder Analytiker z. B. die Reaktionen seines Patienten auf eine Deutung sorgfältig beobachten und sich gut überlegen, zu welchem Zeitpunkt welche Deutung angebracht ist, und seine Haltung ggf. überdenken. Auch in der Analytischen Psychotherapie wird bei allen Interventionen die Aufrechterhaltung der therapeutischen Allianz eine zentrale Rolle spielen – und damit dem spezifischen unbewussten Zustand des Patienten Rechnung getragen.
Perspektivenvielfalt und Adaptivität sind also keine genuinen Unterscheidungsmerkmale zwischen Analytischer und Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter, lediglich ihre Gewichtung kann verschieden sein.
Eine weitere Unterscheidung wird für eine störungsübergreifende vs. störungsspezifische Orientierung postuliert. Richtig ist, dass bestimmten Störungsbildern spezifische Psychodynamiken zugrunde liegen, deren Kenntnis für den Therapeuten unabdingbar ist. Bei einigen Störungen sind auch spezifische Behandlungsstrategien erforderlich, die u. U. auch mit medizinischen, pharmakologischen und/oder physiotherapeutischen oder übenden Behandlungen kombiniert werden müssen, insbesondere bei einigen psychosomatischen und somatoformen Erkrankungen. Dem Therapeuten sei eine Offenheit und wissenschaftliche sowie technische Neugier für störungsspezifische Behandlungsansätze nahegelegt. Aber auch dies ist in der Entwicklung der psychoanalytischen Behandlungstechnik nichts Neues. Bereits Freud postulierte für einzelne Störungsbilder eine Variation der psychoanalytischen Technik (Freud 1919a). Grundlegend für die Behandlung allerdings muss die prinzipielle Orientierung an einer psychodynamisch begründeten therapeutischen Haltung und Strategie sein, sonst besteht die Gefahr einer beliebigen Methodenwahl, die der Durcharbeitung der zentralen unbewussten Konflikt- und Strukturkonstellationen ausweicht. In psychoanalytisch begründeten Verfahren behandeln wir nicht vornehmlich Störungen, sondern Menschen mit ihren individuellen Geschichten, die für ihre bedrängenden und unausweichlichen Konflikte diese oder jene Bewältigungsstrategien entwickelt haben, welche vor dem Hintergrund des individuellen Erlebens als die ihnen möglichen erscheinen. Dazu kommen kulturspezifische und gesellschaftliche Bedingungen, die in die Psychodynamik einfließen und vor deren Hintergrund sich nicht allein Schwerpunkte von Störungsgruppen herausbilden, sondern auch sich wandelnde Ansichten über psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen und deren Behandlung, wie Nissen (2005) eindrucksvoll gezeigt hat.
Störungsbild und Symptomwahl ergeben sich nicht zwingend aus einer bestimmten Psychodynamik, wiewohl sie retrospektiv verstanden werden können. Dies gilt auch für die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Sosehr ein breites Repertoire an Behandlungstechniken und -interventionen für einen tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapeuten wünschenswert ist, so ist doch gegenüber einer häufig geforderten »Methodenvielfalt« (vgl. Poser 2010) eine kritische Haltung einzufordern: Allzu leicht verführt diese Konzeption dazu, das wertvollste Stück der psychodynamischen Therapien preiszugeben: nämlich die Annahme der Übertragung, die Durcharbeitung der Gegenübertragung und des Widerstandes, die auch zu den zentralen Bestandteilen der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie gehören.
Die störungsübergreifende Perspektive bedeutet keineswegs, alle psychischen Störungsphänomene »über einen Kamm zu scheren«. Psychoanalytisch begründete Verfahren gehen – im Unterschied zu modulorientierten Vorgehensweisen – sehr auf die individuellen und einmaligen Konfliktkonstellationen des Patienten ein. Jede analytische und tiefenpsychologische Behandlung orientiert sich an dem momentanen psychodynamischen Zustand des Patienten und an der sich unwiederholbar konstellierenden Übertragungsbeziehung. Dieses Eingehen auf das individuelle, unverwechselbare und einmalige intrapsychische und interpersonelle Erleben des Patienten ist allen psychoanalytisch orientierten Verfahren gemeinsam.
Worin unterscheidet sich die Tiefenpsychologisch fundierte von der Analytischen Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen?
Während eine Analytische Psychotherapie eine Strukturveränderung und in Folge eine nicht-neurotische Konfliktverarbeitung unter Verzicht auf Symptombildungen anstrebt, beschränkt sich die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie i. d. R. auf die Bearbeitung eines eingrenzbaren Aktualkonflikts mit dem Ziel der Auflösung der Symptomatik bzw. der Verhaltensänderung. Sind dort die Förderung der Regression, damit einer Übertragungsneurose, die Übertragungsdeutung und Widerstandsanalyse wesentliche Parameter der Behandlung, so wird die Regression hier weitgehend eingeschränkt und damit in ihrer Tiefe begrenzt, eine intensivere Übertragung damit vermieden, Übertragungsmanifestationen zwar wahrgenommen, aber meist nicht gedeutet; ich-stützende und die Abwehrfähigkeit verbessernde Techniken kommen zur Anwendung. Konzentriert sich jenes Verfahren auf das Vergangenheits-Unbewusste, so dieses auf das Gegenwarts-Unbewusste, das sich »mit der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts hier und heute« beschäftigt (Sandler & Sandler 1985, S. 804). Ein besonderes Merkmal der TfP ist die Arbeit mit dem Fokus – also die Formulierung der bewusstseinsnahen Konfliktmanifestation in Verbindung mit der dahinterliegenden unbewussten Konflikdynamik (vgl. Klüwer & Lachauer 2004). Thomä und Kächele (1985) sehen in der Fokusbildung eine zentrale Technik auch der Analytischen Psychotherapie, indem sie darauf verweisen, dass diese verstanden werden kann als »eine fortgesetzte, zeitlich nicht befristete Fokaltherapie mit wechselndem Fokus« (S. 359, Hervorhebung d. Verf.). Gemeinsam ist beiden Verfahren die Notwendigkeit einer sorgfältigen Gegenübertragungsanalyse.
Bei Krankheitsbildern, die eine tiefere Regression nicht angezeigt sein lassen – etwa bei erheblichen Ich-Einschränkungen und bei somatoformen Störungen –, kann eine Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie indiziert sein, auch wenn sich ein eingrenzbarer Konflikt nicht beschreiben lässt (vgl. Heigl-Evers & Nitzschke 1994, S. 95; Wöller & Kruse 2020, S. 16). Diese generelle Unterscheidung muss hier die besonderen Bedingungen der Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen berücksichtigen. Diese sind im Wesentlichen:
• die Unreife der kindlichen Psyche und deren rasche Entwicklung, damit auch die erhöhte Flexibilität und Vulnerabilität hinsichtlich
− der Ichstruktur und der phasentypischen Abwehr,
− der Trieborganisation,
− des Narzissmus,
− der Objektbeziehungsphantasien bzw. Bindungsrepräsentanzen,
• die Abhängigkeit des Kindes/des Jugendlichen von seinen Bezugspersonen; dies betrifft sowohl die reale Abhängigkeit wie die Abhängigkeit im familiären System der interpersonellen narzisstischen Regulation (Delegationen, unbewusste Phantasien der Eltern usw.).
Daraus ergeben sich kurzgefasst die in Tabelle 1 dargestellten Unterschiede (vgl. Burchartz 2004, S. 500).
Tab. 1: Unterschiede Analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen
Analytische PsychotherapieTiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie