Читать книгу Psychodynamische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen - Arne Burchartz - Страница 16
3.3 Die Neurosenlehre: Theorie über die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen
ОглавлениеNach psychoanalytischem Verständnis bilden sich in der (lebenslangen) psychischen Entwicklung des Menschen psychische Strukturen, die auf basalen Fähigkeiten in der Wahrnehmung, Regulierung und Steuerung affektiver Zustände, des Selbst- und Objekterlebens, des Verhaltens und der Kommunikation beruhen (Strukturmodell). Diese Strukturen werden im Wesentlichen durch frühe Beziehungserfahrungen des Säuglings und Kleinkindes encodiert und bilden eine grundlegende Matrix für die Verarbeitung von Reizen aus innerem und äußerem Erleben.
Ein typisches Strukturmerkmal ist die Fähigkeit, bei Versagungen auf die sofortige Befriedigung eigener Wünsche zu verzichten und deren Erfüllung aufzuschieben. Die dabei auftretenden Affekte wie Ärger, Missmut, Wut können zwar gespürt und geäußert werden, werden aber im Wesentlichen als gesunde aggressive Energie kanalisiert, um in Auseinandersetzung mit der Umwelt realistische Wege zur Wunscherfüllung zu suchen.
Psychische Krankheit auf der Strukturebene entsteht, wenn bestimmte Funktionen dauerhaft unterentwickelt bleiben. Dies geschieht hauptsächlich aufgrund überwiegend defizitärer früher psychischer und interpersonaler Austauschprozesse, in denen basale Entwicklungsbedürfnisse nicht angemessen befriedigt werden konnten, sowie durch Traumatisierungen (Burchartz 2019c). Die Psyche greift dann als Schutz vor Desintegration zu Kompensationsvorgängen, die sich hauptsächlich in misslingenden sozialen Beziehungen, sexualisierten und/oder destruktiven Verhaltensweisen oder Grandiositäts- bzw. Minderwertigkeitsvorstellungen niederschlagen, oft begleitet von psychosomatischen Erkrankungen.
Von Beginn an ist das psychische Geschehen des Menschen aber auch von Kräften geprägt, die miteinander in Widerstreit treten (Konfliktmodell, vgl. Mentzos 1984, 2009). Entwicklung lässt sich – wie gezeigt – beschreiben als eine phasentypische Entfaltung und Bewältigung von Grundkonflikten zwischen antagonistischen intrapsychischen Strebungen einerseits sowie solchen zwischen primärprozesshaften Wünschen und Trieben und der äußeren Realität andererseits.
Ein typischer intrapsychischer Konflikt ist derjenige zwischen dem Bedürfnis nach Anlehnung, Abhängigkeit und Zusammengehörigkeit mit signifikanten Anderen einerseits und dem Bedürfnis nach Autonomie, Abgrenzung und Eigenständigkeit andererseits. Die intrapsychische Regulation strebt eine Homöostase dieser beiden Antipoden an, dies schlägt sich auch in der Art der Beziehungsgestaltung nieder.
Die Reifung des Ich besteht dabei in der zunehmenden Fähigkeit, die antagonistischen intrapsychischen Strebungen zu integrieren, eine verträgliche Balance zwischen ihnen zu etablieren und die aus ihnen resultierenden Ängste in ich-verträglichen Abwehren zu binden sowie zwischen Innen und Außen, Wunschphantasien und Realität, Bedürfnissen und ihrer realen Befriedigung so zu vermitteln, dass ein dynamisches Gleichgewicht aus Assimilation an die gegebenen Realitäten, zunächst vermittelt durch die Eltern, und deren kreativer Gestaltung im Sinne eigener elementarer Bedürfnisse entsteht (Adaptation).
Psychische Krankheit auf der Konfliktebene entsteht, wenn die Integration des inneren und äußeren Konfliktgeschehens scheitert, wenn sich das Individuum etwa unter dem Ansturm übermäßiger innerer Affekte oder unter einem einseitigen Anpassungsdruck an äußere defizitäre (Beziehungs-)Realitäten genötigt sieht, einen Pol des Konfliktes abzuspalten, zu verleugnen oder zu verdrängen, und sich innerlich auf den antagonistischen Pol zurückzieht und dort in einer Fixierung verharrt. Die Psyche erstarrt dann in der Etablierung rigider Abwehren, die nicht Ich-verträglich und meist auch nicht sozialverträglich sind und welche die weitere Entwicklung behindern, wenn nicht sogar blockieren. Zur Aufrechterhaltung dieser pathologischen Konfliktlösungen und zur Angstbewältigung entwickeln sich Symptome als Kompromissbildungen.