Читать книгу Psychodynamische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen - Arne Burchartz - Страница 18
3.5 Das therapeutische Beziehungsgeschehen als Übertragung und Gegenübertragung
ОглавлениеDer Mensch gestaltet die Beziehung zu einem anderen Menschen in Entsprechung zu seinen früheren Beziehungserfahrungen, die sich als Objektbeziehungsphantasien in seiner Psyche sedimentiert haben. Er überträgt also mehr oder weniger umfangreiche Anteile oder Aspekte, die auf frühere Objekte gerichtet waren, z. B. Wünsche, Bedürfnisse, Befürchtungen, Phantasien, Gefühle und Affekte, auf den gegenwärtigen Anderen. Er wiederholt so unbewusst die Beziehungsmuster, die sich durch frühe Regulationsprozesse in seiner psychischen Struktur niedergeschlagen haben. Dieser Vorgang der Übertragung ist ubiquitär und in allen Beziehungen zu beobachten; Übertragung ist also nicht per se pathologisch. In der Regel stellt sich durch den realen reziproken Austausch in aktuellen alltäglichen Beziehungserfahrungen eine Korrektur der Übertragung ein, so dass wir – bis auf einige Reste abgesehen – meist zu realistischen Objektbeziehungen fähig sind oder immer wieder fähig werden. Voraussetzung ist freilich, dass auch der Andere seine Reaktion auf unsere Übertragung und seine eigene Übertragung auf uns zu korrigieren imstande ist.
In der therapeutischen Beziehung spielt die Übertragung eine zentrale Rolle, denn der Therapeut wird unweigerlich zu einem Übertragungsobjekt.
Die siebenjährige Ines, die den Vater durch Trennung verloren hat, malt ein Herz und schenkt es dem Therapeuten. Der Therapeut wird so zu einem Objekt der Sehnsucht wie der Vater. Übertragen wird aber auch die Verlustangst (die durch den Erweis der Liebe beruhigt wird) und die Enttäuschungswut (»wem ich meine Liebe erweise, der könnte mich verlassen; das erzürnt mich schon jetzt – aber ich schenke ihm etwas Schönes, dann bemerkt er meine böse Aggression nicht und behält mich lieb«).
S. Freud hatte dies zunächst als eine Störung der psychoanalytischen Therapie identifiziert, denn eine intensive Übertragung trat immer auf in Verbindung mit einer Stagnation des Auftauchens und der Erinnerung verdrängten Materials. Freud erkannte, dass der Patient in der Übertragung die infantile Situation und die damit verbundenen verpönten Regungen mit der Person des Therapeuten wiederholt, anstatt sie zu erinnern und in die Persönlichkeit zu integrieren. Damit war auch eine Erklärung gefunden für die ungewöhnliche Heftigkeit der Übertragung in der therapeutischen Situation: Sie dient dem Widerstand, ja ist Teil desselben, der gegen das Eindringen verdrängter Inhalte ins Bewusstsein aufgerichtet werden muss. Je gelockerter die Abwehr (s. u.) in der therapeutischen Situation, desto intensiver also muss die Übertragung werden. Was anfänglich als Störung empfunden wurde, erwies sich für Freud schon bald von höchstem Nutzen. Denn in der Übertragung sammelt sich das Verdrängte in einer aktuellen Wiederauflage in einer lebendigen, gegenwärtigen Beziehung; die Bearbeitung der Übertragung ermöglicht dem Patienten ein unmittelbares Erleben, das dem Bewussten als psychische Wirklichkeit zugänglicher ist als blasse Erinnerungen.
Die Übertragung wurde zu dem eigentlichen und wichtigsten Agens der Psychoanalyse. »Das entscheidende Stück der Arbeit wird geleistet, indem man im Verhältnis zum Arzt, in der ›Übertragung‹, Neuauflagen jener alten Konflikte schafft, in denen sich der Kranke benehmen möchte wie er sich seinerzeit benommen hat, während man ihn durch das Aufgebot aller verfügbaren seelischen Kräfte zu einer anderen Entscheidung nötigt. Die Übertragung wird also das Schlachtfeld, auf welchem sich alle miteinander ringenden Kräfte treffen sollen« (Freud 1916–1917, S. 472). Indem sich die Krankheit in der Beziehung mit der Person des Therapeuten wiederholt, sich in ihr konzentriert, entsteht die »Übertragungsneurose« – also eine in der psychoanalytischen Therapie erwünschte Verschiebung des Krankheitsgeschehens weg von den Alltagssituationen und ihren dortigen Objekten in das »Hier und Jetzt« des therapeutischen Beziehungsraumes. Parallel zu diesem Vorgang ist häufig tatsächlich ein Rückgang der Symptomatik im Alltagsleben des Patienten zu beobachten, es wäre jedoch falsch, eine solche »Übertragungsheilung« schon als den eigentlichen Heilungserfolg anzusehen. Eine Therapie, die zu einem solchen Zeitpunkt beendet würde, brächte nichts anderes zustande als ein Wiederaufflackern aller Krankheitsphänomene, u. U. noch heftiger als zuvor, da nun auch noch das Trauma einer unbearbeiteten und verfrühten Trennung von dem Objekt heftiger libidinöser sowie aggressiver Regungen hinzukommt.
Ines, die im letzten Beispiel erwähnte Patientin, litt unter einer schweren Angststörung. Die Mutter beendete die Therapie, als deutlich wurde, dass das Mädchen daran festhielt, den Vater sehen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt war die Angst des Kindes so weit zurückgegangen, dass es die Schule selbständig besuchen konnte. Später erfuhr der Therapeut, dass sich danach das Symptom einer Schulphobie entwickelt hatte.
Die Übertragung wiederum evoziert im Therapeuten eine spezifische emotionale oder affektive Reaktion, er antwortet gleichsam mit seiner Innenwelt auf die übertragene Innenwelt des Patienten. Dieser Vorgang wird als Gegenübertragung bezeichnet und ereignet sich – ebenso wie die Übertragung – zunächst unbewusst. Das Wahrnehmen und die Analyse von Übertragung und Gegenübertragung sind zentrale Aufgaben und übrigens auch das wichtigste diagnostische Hilfsmittel in psychodynamischen Psychotherapien, denn sie erlauben ein erlebendes Verstehen der (unbewussten) inneren Welt des Patienten.
In der Übertragung zeigen sich nicht allein (verdrängte) libidinöse Wünsche und Regungen, sondern auch feindselige und destruktive Impulse. Voraussetzung für deren Bearbeitung freilich ist zunächst eine positive Übertragung. Von besonderer Bedeutung ist die positive Übertragung – also die Erwartung des Patienten, im Therapeuten ein überwiegend gutes Objekt zu finden, das die auf ihn gerichteten libidinösen Strebungen liebevoll und verständnisvoll aufnimmt – in der TfP, da in dieser Therapieform die Übertragung zwar beachtet und verstanden, jedoch nicht zum eigentlichen therapeutischen Agens wird.
In einer erweiterten Sicht der Übertragung lässt sich das Geschehen zwischen Patient und Therapeut als Szene (Lorenzer 2000, Argelander 1970, Eckstaedt & Klüwer 1999, Raue 2007, Windaus 1999, Burchartz 2020) verstehen. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass sich bereits frühe Interaktionserfahrungen in Repräsentanzen von Interaktionsmustern niederschlagen, die in der aktuellen Begegnung zwischen Patient, dessen Eltern und Therapeut in Handlung und Phantasie aktualisiert, inszeniert werden und je spezifische Gegenübertragungsreaktionen hervorrufen. Die Psyche ist szenisch organisiert. Die Szene ist ein Interaktionsgeschehen, umfasst bewusste und unbewusste Anteile und offenbart eine psychische Realität. Ihr Verstehen und ihre Analyse erlauben dem Therapeuten nicht allein eine tiefe (diagnostische) Einsicht in unbewusste konflikthafte Erlebens- und Verarbeitungsweisen, sondern auch in der Therapie einen für den Patienten evidenten Zugang zu seinen unbewussten Phantasien, wie sie sich in seiner Beziehungsgestaltung offenbaren.