Читать книгу Narrenschicksal - Ava Lennart - Страница 14

Verzaubert

Оглавление

Stella war schon zu den verschiedensten Anlässen im Alten Wartesaal gewesen. Die wundervolle Verwandlung, die sie jetzt erwartete, verschlug ihr dennoch erst einmal die Sprache.

Perfekt abgestimmtes Licht illuminierte die glatt polierten Säulen, die das eindrucksvolle Gewölbe trugen. Auf der einen Seite des Raumes trennten fließende weiße Vorhänge kleine Separees ab, in denen einige Gäste auf weißen Loungebetten lümmelten und sich die von maskierten Bedienungen, zweifellos männliche und weibliche Models, gereichten edlen Häppchen und den Champagner schmecken ließen. Große Kandelaber hingen in regelmäßigen Abständen von der Decke herab, jeweils über weiß umhüllten weiteren Sitz- und Essgelegenheiten. Auf mehreren Podesten vollführten Akrobaten geschmeidige Kunststücke mit ihren scheinbar wirbellosen Körpern. Das Ganze hatte einen orientalischen Flair.

Eine maskierte junge Kellnerin hieß Stella und Zorro willkommen und nahm ihre Garderobe in Empfang. Ein weiterer Kellner hielt ihnen ein Tablett mit einer Anzahl ausgewählter Drinks entgegen. Als Stella sich ein Glas Champagner nahm, überlegte sie kurz, ob dieser Snobismus überhaupt noch mit ihrem Kölner Karnevalsfeeling vereinbar war. Zorro schob sie indes rasch in den angrenzenden Raum. Dieser war wie eine glamouröse New Yorker Disco der Siebzigerjahre gestaltet, inklusive enormer Discokugel und wohldosierten Einsätzen einer Nebelmaschine. Ein cooler DJ im Glitterfummel, der unerklärlicherweise trotz der Dunkelheit eine Sonnenbrille trug, legte Vinyl-Schallplatten auf. Auf der von unten bunt beleuchteten Tanzfläche zuckten die witzigsten Geschöpfe ausgelassen und so gut gelaunt miteinander oder vor sich hin, dass es Stella kaum erwarten konnte, mit in den Rhythmus einzusteigen. Dieser Trubel war schon eher nach ihrem Karnevalsgeschmack.

Zorro hielt ununterbrochen Stellas Hand und dirigierte sie Richtung Bar. Er schien einigen Leuten nicht unbekannt zu sein, denn er grüßte nach allen Seiten. Stella bemerkte, wie neugierig sie nicht nur die weiblichen Gäste musterten. Von einem der Barhocker erhob sich ein sehr gut aussehender Mann, Typ Teddybär, der eindeutig als John Travolta in „Saturday Night Fever“, inklusive vergoldeten Kettchens, verkleidet war. Bis auf die nicht ganz so schmalen Hüften recht authentisch, dachte Stella. Er kam strahlend auf sie zu und klopfte Zorro während der Umarmung kumpelhaft auf den Rücken.

„Alter, ich dachte schon, du hast es dir anders überlegt!“, rief der Mann, der nur Gregor sein konnte, schmunzelnd und versetzte Zorro spielerisch einen angedeuteten Kinnhaken. Sein Blick erfasste Stella. „Ah, und jetzt kann ich auch verstehen, welche Schönheit dich aufgehalten hat! Stell uns vor, du Schuft!“

Zorro, der wohl ahnte, was Gregor im Schilde führte, deutete mit zerknirschter Miene mit seiner freien linken Hand auf sie.

„Gregor, Stella“, sagte er schlicht.

Während Stella wie verzaubert noch dem Klang seiner Stimme nachhorchte, entwand Gregor Stella strahlend Zorros Hand und führte sie, einen Arm sacht um ihre Schultern gelegt, Richtung Bar.

Seltsam, dachte Stella, die unmittelbar ein Gefühl von abgenabelter Verlorenheit spürte. Am liebsten wäre sie sofort zurückgerannt, aber Gregor stellte sie bereits eine Spur zu laut einer an der Bar sitzenden Gruppe von Leuten vor, deren Namen Stella, wenn sie sie überhaupt verstehen konnte, sofort wieder vergaß.


Steven sah fassungslos zu, wie sein bester Freund Gregor seine Sternenfrau entführte. Er spürte deutlich, wie seine rechte Hand langsam abkühlte und nach Stellas Wärme verlangte. Obwohl Steven vage begriff, dass Gregor ihm hauptsächlich für sein Zuspätkommen einen kleinen Denkzettel verpassen wollte, flammte jäh ein Gefühl auf, von dem er nicht gewusst hatte, dass er überhaupt dazu neigte, es zu empfinden: Zweifellos war er eifersüchtig.

Gregor de Jong war ein gut aussehender Mann und ein charismatischer Gastronom. Der Raum war sicher voll von weiblichen Gästen, die ihn insgeheim anschmachteten. Obwohl zwischen Steven und Gregor, die sich seit der Grundschule kannten, das ungeschriebene Gesetz bestand, sich bei Liebschaften nicht in die Quere zu kommen, war Steven in diesem Moment unerklärlicherweise beunruhigt.

Steven hatte seit fast zehn Jahren keine tiefer gehende Beziehung mehr mit einer Frau gehabt. Genauer gesagt, seit Anna. Merkwürdig, dass er gerade heute schon zum zweiten Mal an sie dachte. Seine langjährige Freundin aus Studienzeiten war nach New York gegangen und hatte Steven nach sechs Monaten gestanden, ein Kind von ihrem Chef zu erwarten und in den USA bleiben zu wollen. Steven war damals trotz des herben Schlags für sein Ego insgeheim erleichtert gewesen, der eingefahrenen, faden Beziehung zu Anna, die unweigerlich in nächster Zeit zu dem Punkt „Trennung oder Heirat“ geführt hätte, entkommen zu sein. Irgendwie hatte er gespürt: Etwas Entscheidendes zwischen ihnen hatte immer gefehlt.

Ein so selbstverständliches Wissen, dass alles passte, wie er es heute Abend erfuhr, hatte er noch nie gefühlt, stellte er in diesem Moment verblüfft fest. Aber das konnte Gregor, der Stevens oberflächliche Beziehungen der letzten Jahre erlebt hatte, nicht wissen.

Steven beobachtete, wie Stella freundlich lächelnd einigen Bekannten von Gregor die Hand gab. Gregors Arm war mittlerweile von Stellas Schulter zu ihrer Hüfte gewandert und ruhte dort wie festgewachsen. Steven konnte diese Hand nur anstarren und musste tief durchatmen, um nicht sofort dem archaischen Impuls nachzugeben, Stella aus Gregors Armen zu reißen, seinen Freund mit einem kräftigen Kinnhaken über die Bar zu knocken und mit Stella unter dem Arm aus dem Laden zu fliehen.

Genau in diesem Moment drehte sich Stella zu ihm und sah ihn an. Und Stevens Herz flammte hell auf.


Zorro kam mit wenigen langen Schritten auf sie zu. Sein Kiefer wirkte unter der blöden Maske angespannt. Stella spürte eine intensive Energie, die von ihm ausging, als er sie dem erstaunten Gregor mit einer rigorosen Bewegung förmlich entriss – eine unerklärliche Mischung aus selbstbewusstem, sehr männlichem Revierverhalten und verzweifelter Geste. Als Zorro sie berührte, durchströmte ihren Körper ein freudiges Wiedererkennen. Sie musste unweigerlich an den Film „Avatar“ denken, in dem das Naturvolk sich durch eine Art Nervenstränge mit anderen Wesen vereinte und sogar seinen Pulsschlag anglich.

„Darf ich um den Tanz bitten, werter Stern?“

Es klang mehr wie eine Feststellung als eine heisere Frage. Stella unterdrückte ein Grinsen.

„Unter einer Bedingung, edler Rächer …“, gab sie zurück.

„Und die wäre?“

„Ich tanze nicht mit Maskierten, also nimm das Ding endlich ab!“

Sein Mund lächelte breit. „Zu Befehl, schöne Dame!“

Er nahm seinen Hut ab und pfefferte ihn mit einer lässigen Handbewegung in eine dunkle Ecke neben der Bar. Als Zorro beide Hände zum Hinterkopf hob, bemerkte Stella, wie ein aufgeregtes Kribbeln sie erfasste. Das war ja wohl eindeutig ein Striptease. Die Vorstellung, endlich sein Gesicht zu sehen, ließ ihr das Herz lampenfiebrig so im Halse schlagen, als ob er bereits beim entscheidenden letzten Kleidungsstück angelangt wäre. Gleichzeitig wurde ihr mulmig.

Was, wenn die schöne Illusion des Zorros gleich verpuffte, weil er ohne geheimnisvolle Maske einfach nur gewöhnlich aussah? Was auch immer, sie musste endlich Gewissheit haben, und jetzt gab es ohnehin kein Zurück mehr.

Stella stockte der Atem, als Zorro nach kurzem, dramaturgisch gezielt gesetztem Innehalten sein Gesicht endlich von der Maske befreite und sie erwartungsvoll anlächelte.

Das Kinn und der sinnliche Mund hatten nicht zu viel versprochen: Er war schön. Nicht nur gut aussehend, nein eindeutig schön. Das klang irgendwie richtig blöd. Sie meinte auch nicht langweilig, modelmäßig symmetrisch schön. Nein, sein Gesicht markierten, falls das überhaupt vereinbar war, an Wangen, Stirn und Kinn männliche Kanten, die im herrlichen Kontrast zu seinem weichen Mund und seinen schalkhaft blitzenden Augen standen, die gerade selbstbewusst ihr Erstaunen registrierten.

Seine Augen waren braun, wie sie selbst in der Discobeleuchtung ausmachen konnte. Das ganze Gesicht war stimmig und weckte in ihr ein unbändiges Verlangen, diesen Mann weiter kennenzulernen und bei ihm zu sein. Reflexartig hob Stella ihre Hand und strich mit zarten Fingern kurz über Zorros rechte Wange, die von sich ankündigenden Bartstoppeln leicht rau war. Seine Augen verengten sich kurz, er atmete wieder tief ein und musterte sie ernst. Zorro pflückte ihre Hand von seiner Wange und hauchte zart einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. Dann grinste er spitzbübisch und zog sie auf die Tanzfläche.

„Versprochen ist versprochen!“

Lachend folgte ihm Stella, die es genoss, mit ihm wieder durch ihre Hand verbunden zu sein, auch wenn sie das Gefühl hatte, zum x-ten Mal an diesem Abend hinter ihm herzustolpern. Steven zog sie in die Mitte der von unten beleuchteten Tanzfläche. Es lief ein bekannter brasilianischer Samba in einer tanzbaren Coverversion. Steven umfasste ihre Hüfte und tanzte los.

Bereits nach zwei Sekunden war Stella klar, dass er ein hervorragender Tänzer war. Konnte das wahr sein? Seine Bewegungen passten sich geschmeidig dem Groove an. Zorro ließ Stella nicht los und auch nicht aus den Augen. Sie fühlte sich wie Ginger Rogers, die souverän von Fred Astaire übers Parkett geführt wurde.

Wenn Bernd das doch nur sehen könnte, dachte Stella nur kurz, denn sie war gebannt von Zorros Augen, seinem Lächeln, wenn er sie herumschwang, dem Gefühl seiner Hände auf ihrem Körper, wenn er sie wieder einfing, und dem klaren Bewusstsein, dass sie diesen Augenblick niemals in ihrem Leben vergessen würde.

Nach einer Weile legten sie eine kurze Verschnaufpause ein, in der Zorro ihr aufmerksam einen Gin Tonic organisierte, bevor er sie wieder energisch auf die Tanzfläche zog. Gerade als Stella dachte, dass sie sich schon lange nicht mehr so unbeschwert amüsiert hatte, endete der Song. Die Beleuchtung wechselte zu schwachem Blau, und die Discokugel warf schillernde Sterne an die Wände des Raumes. Mit einem wabernden Schwall aus der Nebelmaschine erklangen die ersten Takte des Lieds „Angels“ von Robbie Williams.

Stella schloss kurz die Augen. Kitsch as Kitsch can! Merkwürdig, dass der DJ ausgerechnet jetzt einen langsamen Song spielte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie jedoch Gregor und Zorros Freund Michi, den Cowboy, die beide am Rand der Tanzfläche standen, grinsten und die Daumen hochreckten. Aha, da ging es wohl jemandem zu langsam. Stella hörte Zorro schnauben, denn er hatte das Spiel wohl auch durchschaut und drohte mit der Faust in Richtung seiner Freunde.

Stella lächelte ihn an. Da zog Zorro sie zart, aber bestimmt in seine Arme. Sein Brustkorb hob und senkte sich atmend gegen ihre Brüste. Er musste doch ihren Herzschlag spüren? Unter ihrer linken Hand fühlte sie die Bewegungen seines kräftigen Schulterblatts. Stella konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihren Kopf in seine Halsbeuge zu legen.

An ihrer leicht verschwitzten Schläfe pochte stark sein Puls. Sie atmete seinen Duft, versank darin und nahm erstaunt wahr, wie er seinen Kopf neigte, sie noch enger an sich zog und sacht ihr Haar küsste. Die Finger ihrer rechten Hand waren mit seiner verschränkt, und ihre beiden Hände lagen geborgen zwischen ihren Körpern. Stella wollte genau in diesem Moment nirgendwo anders sein als hier in seinen Armen, bei diesem Lied. Sie machte ihr Herz weit, weit auf für diesen gänzlich unbekannten Mann. Denn er war kein Fremder.

Stella hob ihm ihr Gesicht entgegen und, als wäre es das Natürlichste und Sinnvollste auf der Welt, senkte sich sein Mund auf ihre Lippen. Ihre Augen schlossen sich. Zuerst waren seine Lippen federleicht und strichen sanft ihren Mund entlang, verharrten kurz in einem Mundwinkel und verstärkten dann beharrlich ihren Druck, sodass sie unwillkürlich ihren Mund leicht öffnete und ihn einließ. Fast zaghaft begann seine Zunge, den äußeren Rand ihrer Lippen zu erforschen. Als hätte ihre Zunge nur darauf gewartet, nahm sie ihn in Empfang und lockte ihn tiefer in ihre weiche Höhle.

Ein kehliger Laut entfuhr ihm, und er verstärkte seine Umarmung. Seine Hand in ihrem Nacken umfasste behutsam ihr Haar. Seine andere Hand hielt ihre immer noch fest. Stellas freie Hand erforschte zuerst seinen Rücken und klammerte sich schließlich wie eine Ertrinkende an ihn. Sie zerfloss und fügte sich weich wie Wachs in seine Umarmung, um ihren Körper noch näher an ihn zu pressen. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und sie nahm die Musik und die Geräusche der anderen Tanzenden gleichzeitig gedämpft und doch umso intensiver wahr.

Ihre Zungen – oder waren es bereits ihre Seelen – verschlangen sich. Vibrierende Impulse rannten ihre Kehle hinab, strömten durch ihr Nervenzentrum, bis sie sich unweigerlich in ihrem Schoß sammelten. Auch sein Körper reagierte auf sie, und das enge Trikot gab sein Verlangen preis.

Mit einem Mal flackerten die Lichter wieder grell auf, ein harter Beat setzte ein und beendete abrupt den traumhaften Moment. Stella registrierte aus den Augenwinkeln, wie eine Horde johlender Menschen auf die Tanzfläche strömte. Nur widerwillig hielt sie inne und löste ihren Mund von Zorros. Dieser folgte ihr noch ein wenig, wollte sie nicht freigeben, gab sich dann aber mit einem Seufzer geschlagen. Zorro legte, ohne seine Augen zu öffnen, seine Stirn an Stellas, und einen kurzen Augenblick standen sie Stirn an Stirn wie ein Fremdkörper inmitten der ausgelassenen Partytänzer. Ihre beschleunigte Atmung beruhigte sich langsam.

„Lass uns hier fortgehen“, wisperte Zorro rau.

Stella musste sich erst räuspern. „Ja, gute Idee.“

Er zog sie von der Tanzfläche. Stella hatte Mühe, ihre Gummibeine mit den Anforderungen von High Heels in Einklang zu bringen, und wankte hinter ihm her.

Narrenschicksal

Подняться наверх