Читать книгу Narrenschicksal - Ava Lennart - Страница 18

Fata Morgana

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Stella hatte bereits ein paarmal mit Bernd telefoniert. Neben seinem Trost hatte sie sich insgeheim erhofft, dass Steven irgendwie über ihre Handynummer die Adresse ihrer Praxis ausfindig gemacht und sich dort gemeldet hätte. Aber auch das war Fehlanzeige.

Zehn Tage waren nun schon vorüber, und beide Frauen waren sich einig: „Typischer Mistkerl!“

Es tat Stella gut, die Enttäuschung gegen den Wind Richtung Meer zu brüllen. In den Nächten, wenn Julia tief schlief, grübelte Stella allerdings vor sich hin. Es gelang ihr einfach nicht, die Erinnerung an Stevens Blick, als er in ihr war, mit dem Bild eines Schweinehunds, der nur auf einen One-Night-Stand aus war, in Einklang zu bringen.

Stella zeigte gegen Ende der gemeinsamen Zeit ansatzweise wieder Charakterzeichen einer modernen, erfolgreichen und eigenständigen Frau, die eine zauberhafte Karnevalsnacht erlebt hatte, in die sie fälschlicherweise mehr hineininterpretierte, als da war. Stella konnte sogar ein paar lachende Momente verbringen, in denen es ihr gelang, die Gedanken an Steven zeitweise beiseitezuschieben. Beim Abschied auf dem kleinen Flughafen jedoch klammerte sich Stella lange Halt suchend an Julia. War ihre Menschenkenntnis so schlecht? Ihr graute vor der Rückkehr in ihr Leben ohne Julia.


Steven fühlte sich wie leblos. Ohne Antrieb nahm er die Routine seines Lebens wieder auf. Wenn er nicht gerade wie ein Irrer sein tägliches Laufpensum den Rhein entlang absolvierte, ging seine gesamte Energie damit drauf, das Ziehen in seiner Brust im Keim zu ersticken. Also nicht an Stella zu denken.

Da er bereits wertvolle Zeit verschwendet hatte, stellte Steven lustlos sein Modell für den Wettbewerb fertig, während Damien Rices verzehrende Stimme durch seine Wohnung scholl. Er war erleichtert, dass sich die Arbeit in routinierten Arbeitsschritten erledigen ließ.

Verblüfft stellte er fest, dass der Liebeskummer immerhin seine Kreativität anfachte. Besessen warf er einen brauchbaren Entwurf nach dem anderen in sein Skizzenbuch. Insbesondere in den durchwachten Nächten gewöhnte er sich an, sein Skizzenbuch nahe beim Bett zu halten. Am nächsten Morgen, nach einer Mütze schwitzigen Schlafs, wunderte er sich über seine Einträge, die ihm entrückt und fremd vorkamen.

Zwei Wochen nach Karneval ging Stevens Flug nach Toronto. Seit er Stella auch im Gedränge der Kölner Einkaufszonen nicht hatte finden können, vermied er Menschenaufläufe. Eingehüllt in seine Verlorenheit, streifte er durch die hektischen Reisenden. Er stöberte unschlüssig im Zeitschriftenladen und schnappte auch gleich eine Packung Ohropax, um auf dem Flug bloß seine Ruhe zu haben. Wer weiß, neben wem er sitzen würde. Ihm war wirklich nicht nach Small Talk.

Wie aufs Stichwort lächelte ihn die blonde Kassiererin des Kiosks herzlich an. „Haben Sie eine lange Reise vor sich?“

Steven musste sie so finster angeblickt haben, dass ihr Lächeln schlagartig erstarb und sie mit gerunzelter Stirn und ohne weiteres Wort das Wechselgeld auf den Tresen legte. Sogleich bereute Steven sein Verhalten. Weshalb war er nur so schlechter Laune? Das konnte so nicht weitergehen. Es durfte einfach nicht sein, dass seine Lebenslust durch diese kurze Episode mit Stella einen solchen Dämpfer erhielt. Er fühlte sich schon fast wie der Alm-Öhi in Heidi, der stetig vor sich hin brummelte. Leider war weit und breit keine Heidi in Sicht, die ihn auch nur ansatzweise von dieser Grantigkeit erlösen würde. Das würde nur eine einzige Person. Und diese Person war ein Phantom. Das musste er einfach akzeptieren.


Bereits nach ihrer Ankunft auf dem heimatlichen Flughafen, als sie der Beschilderung zur Gepäckausgabe folgte, bewegte Stella sich wie in einer Kapsel durch die eilenden Reisenden. Ihr fiel auf, wie fremd sich die Menschen an solchen Orten waren, obwohl sie doch so dicht beieinander liefen. Sie kannte kein einziges Gesicht.


Apropos Phantom. Auf einmal machte Steven im Gewühl der Reisenden vor sich eine blonde Frau aus, die aussah wie Stella. War das nicht eindeutig ihr Profil? Ihr gelocktes Haar? Auch die Größe stimmte. Die Frau strahlte eine Aura aus, die er überall wiedererkennen würde.

Das war Stella!

Sein Herz machte einen schmerzhaften Satz, und er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete und genauer hinschaute, war die Frau jedoch in der Menschenmenge verschwunden.

Steven lief ein paar Schritte in die Richtung, in der die Frau eben noch gestanden hatte. Er drehte sich einmal im Kreis. Nichts. Hundert Menschen, so viele Gesichter, aber keine Stella. Würde er sich lächerlich machen, wenn er ihren Namen laut rief? Egal, das war es wert.

„Stella!“, rief er laut und hatte dabei seine Hände trichterförmig um seinen Mund gelegt, um den Ruf zu verstärken. Dann wartete er verzweifelt auf eine Reaktion. Die eilende Menge, die sich um ihn wie Wasser um einen Felsen im Meer teilte, blieb unbeteiligt. Nur ein kleiner Junge an der Hand seiner Mutter warf ihm einen belustigten Blick zu und imitierte freudestrahlend Stevens „Stella, Stella!“, bevor er weitergerissen wurde.


In diesem Moment hörte sie, wie jemand „Stella“ rief. Verwundert blieb Stella stehen und drehte sich um. War sie etwa gemeint? Ihr Herz begann zu klopfen. Irrsinnigerweise hoffte sie, es wäre Steven, der sie sehnsüchtig am Flughafen erwartet hatte und sie abholte. Sie spitzte die Ohren. Nichts. In diesem Moment kam ihr ein kleiner Junge entgegen, der fröhlich ihren Namen vor sich hin krähte, während er von seiner Mutter ungeduldig weitergezerrt wurde.

Stella war verblüfft. Wie seltsam. Dann zuckte sie mit den Schultern. Was sollte es? Sie war ja schließlich nicht die einzige Stella auf der Welt. Sie schüttelte den Kopf über ihren irrwitzigen Wunsch, der Ruf wäre von Steven gewesen. Wie sollte er sie abholen können? Er wusste doch noch nicht einmal ihren Ankunftstermin.

Oh nein, jetzt meinte sie auch noch, Steven in einem Mann zu sehen, der mit dem Rücken zu ihr Richtung Waschräume strebte. Hör sofort auf, Stella!, ermahnte sie sich. Resigniert über ihr kindisches Verhalten lief sie zu den Gepäckbändern.


Steven erkannte durch das papageienhafte Gekreische des Jungen, wie lächerlich es war, was er gerade tat. Kopfschüttelnd wandte er sich ab und begab sich zu seinem Gate. Es war höchst unwahrscheinlich, dass er Stella wirklich gesehen hatte. Weshalb hätte sie ausgerechnet heute zum Flughafen kommen sollen, um ihn zu treffen? Das war doch irre! Er musste endlich kapieren, dass sie ihn nicht mehr sehen wollte.

Er holte tief Luft und hatte einmal mehr das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Erst ein Schwall kaltes Wasser in einem der Waschräume ließ seinen beschleunigten Puls abebben. Während Steven Mut sammelte, sich wieder zu den tausend imaginären Stellas nach draußen zu begeben, betrachtete er kopfschüttelnd sein gequältes Gesicht im Spiegel.

Nun wusste er auch, weshalb er sein Einsiedlerdasein vorzog. Wenn das so weiterging, würde er noch einen Herzinfarkt erleiden. Was für ein Nervenbündel war nur aus ihm geworden?

Als Steven in den Flieger nach Toronto stieg, war er unglaublich erleichtert, der Stadt und seinen Erinnerungen für die nächsten zwei Wochen zu entfliehen.


Zurück in Köln war alles wie in eine trostlose Decke gehüllt. Selten war Stella die Stadt so trist und stinkend, waren ihr die Menschen so unfreundlich und hässlich erschienen. Zu allem Überfluss lag überall schmutziger Schneematsch, der ihre Füße rasch in nasse, frierende Klumpen formte.

Resigniert fragte Stella sich, wie es sein konnte, dass ein Mensch, den man nur so kurz, oder besser, gar nicht kannte, eine solche Wirkung auf das eigene Leben haben konnte. Es konnte doch nicht sein, dass ihre Lebensfreude durch diese eine Nacht völlig verschwunden war?

Auf dem Rückweg vom Flughafen saß sie verloren in der Straßenbahn, bemerkte die mit Graffiti besprühten Scheiben und starrte lange auf die schmierigen Ränder um das Gestänge der Sitze am Boden. Was, um alles in der Welt, war ihr jemals an einer Straßenbahnfahrt romantisch vorgekommen?, fragte sie sich.

Einen Tag später, am Sonntag, hielt sie es nicht aus und fuhr tatsächlich zu Stevens Adresse. Im Zeitlupentempo rollte ihr Auto an der Auffahrt zu seinem Haus vorbei. Nichts war zu sehen. Aufgewühlt hielt sie fünfzig Meter weiter an und atmete tief durch. Sollte sie aussteigen und klingeln? Sie traute sich einfach nicht. Die Verletzung saß zu tief. Er sollte nicht denken, eine selbstbewusste Frau wie sie habe es nötig, ihm hinterherzulaufen. Sie wendete und steuerte ein zweites Mal am Haus vorbei, das immer noch still dalag. Ihre Augen brannten, als sie die Dreißigerzone im überhöhten Tempo verließ.

Narrenschicksal

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