Читать книгу Narrenschicksal - Ava Lennart - Страница 7

„Stella“ Marie Stern

Оглавление

Sie starrte auf das hellrosa Gebilde, das sich am Seifenspender quälend langsam zu einem schweren Tropfen entwickelte.

„Komm, komm, tropf schon!“, beschwor sie ihn eindringlich.

Als ob das irgendetwas nutzen würde!

Aber Marie Stern, genannt Stella, hatte mit dem Seifentropfen eine Wette abgeschlossen: Tropfte es, bevor die zehn Minuten um waren, die sie auf das Testergebnis warten musste, würde alles gut werden.

Gut? Was das in diesem Moment genau bedeutete, darüber wollte Stella gar nicht erst nachdenken.

Sie schnaubte ungläubig, als sie sich bewusst wurde, wie sie in ihrer psychotherapeutischen Praxis auf dem Klo saß und auf die Linien wartete. Keine gewöhnlichen Linien. Genau genommen wusste sie nicht einmal, ob sie überhaupt von Linien im Plural reden sollte. Denn eigentlich wäre eine Linie genug. Dann wäre nämlich der Test negativ – das wiederum würde heißen, dass sie nicht schwanger wäre ...

Der zähe Seifentropfen löste sich endlich wie in Zeitlupe und platschte lautlos auf den Waschbeckenrand, wo ihn bereits seine Kumpel der letzten zehn Minuten erwarteten.

Na also, geht doch!, dachte Stella.

Sie atmete tief durch und hielt, pragmatisch wie eine Oberschwester ein Fieberthermometer, das Plastikstäbchen des Schwangerschaftstests vor ihre Augen. Sie starrte eine Weile stirnrunzelnd auf die kleinen Sichtfenster. Als die eindeutige Meldung endlich ihr Gehirn erreicht hatte, rupfte Stella energisch zwei Papierhandtücher aus dem Spender und rubbelte den Seifenfleck weg. Noch zwei Tücher, damit auch wirklich nichts von ihm übrigblieb.

„Verräter!“, murmelte Stella.

Dann erst wagte sie es, sich ihrem Spiegelbild zu stellen. Zu ihrem Erstaunen sah sie immer noch aus wie Stella Stern, obwohl unter ihren blauen, leicht schräg stehenden Augen heute recht dunkle Schatten lagen und ihr auffallend großer Mund einen müden Zug aufwies. Um diesen zu vertreiben, zog Stella bewusst eine Schnute und setzte dann ein übertriebenes Showmaster-Lächeln auf, als ob sie sich selbst den gerade geknackten Jackpot überreichen würde.

„Na, herzlichen Glückwunsch, liebe Mama Stella! So hattest du dir das eigentlich nicht vorgestellt.“


Sechs Wochen zuvor:

„Das ist nicht dein Ernst, Stella!“ Bernds Mund stand vor Empörung leicht offen. „Du kannst doch am nächsten Tag im Flieger schlafen. Es sagt ja auch keiner, dass du versacken musst. Aber so gar nicht Karneval feiern ... Jetzt hör aber auf! Wozu hast du dir denn sonst während der Zeit Urlaub genommen?“

Stella betrachtete nachdenklich ihren besten Freund. Bernd Richter war ihr persönliches Goldstück, ihr Sandkastenfreund und Praxiskollege.

„Man kann ja wohl einmal Karneval nicht feiern. Das wird mir sonst zu viel. Ich muss packen, und außerdem habe ich sowieso kein Kostüm.“

„Wer bist du, und was hast du mit meiner Stella gemacht? Die Stella, die ich kenne, tanzt immer als Erste an Weiberfastnacht auf den Tischen. ‚Zu viel’ – du bist doch noch keine neunzig? Und was das Kostüm angeht, lass das mal meine Sorge sein.“

Bernd wusste, wie er Stellas wunden Punkt, das langsame Älterwerden, am besten triezte. Und Bernd hatte recht.

Als Urkölnerin mochte Stella das wilde Treiben während des Karnevals und freute sich jedes Jahr mit einem unruhigen Kribbeln auf den „Wieverfastelovend“, die Weiberfastnacht am Donnerstag. In ihrer Jugend und der Studienzeit hatte sie wirklich wilde Partys in den Kölner Kneipen erlebt. Als gefragte Psychologin war ihr Alltag mittlerweile bis ins kleinste Detail durchgeplant. Und daher genoss Stella es insgeheim, sich beim Tanzen und Mitsingen wenigstens einmal im Jahr gehen zu lassen und Teil einer gutmütigen, wogenden Menge zu werden.

„Muss ich mir das vor meiner Reise wirklich antun?“

„Stella, ausruhen kannst du dich doch im Urlaub. Wozu macht man schließlich Wellness? Es kann doch nicht sein, dass du dich vor deinem zweiwöchigen Urlaub auf Elba noch ausruhen musst!“

Bernd schüttelte gespielt fassungslos den Kopf.

Stella rollte die Augen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Trotzdem wandte sie ein: „Aber mein Flieger geht so früh! Und dann sind Julia und ich erst einmal eine Nacht in Zürich. Ich kann doch nicht vollkommen fertig dort ankommen. Ich habe Julia ewig nicht gesehen und möchte einfach jede Sekunde mit ihr auskosten. Da wäre es blöd, wenn ich erst mal zwei Tage meinen Rausch ausschlafen muss.“

Stellas Freundin Julia war vor zwei Jahren der Liebe wegen in die Schweiz gegangen und dort geblieben. Seitdem vermisste Stella schmerzlich die schwesternhafte Vertrautheit und die spontanen Treffen. Sie freute sich wahnsinnig auf die Freundinnenzeit auf der Mittelmeerinsel.

Julia Sandhagen war es auch gewesen, die ihr den Spitznamen „Stella“ verpasst hatte. Julia befand sich damals in ihrer „italienischen Phase“, wie sie es selbst bezeichnete. Was hauptsächlich bedeutete, dass sie nach ihrer Rückkehr aus dem Familiensommerurlaub in Italien unsterblich in Angelo, den Sohn der Pensionsbesitzerin, verknallt war. Dabei war es Julia völlig gleich gewesen, dass Angelo schon achtzehn war, sie im ganzen Urlaub mit Angelo gerade mal drei Sätze wechselte und sie ihn niemals wiedersehen würde. Jedenfalls hatte Julia damals schnell herausgefunden, dass Maries Nachname Stern dem italienischen „oberromantischen“ Wort „Stella“ entsprach.

Die damals zwölfjährige Marie fand Julias Tick zuerst nervig, insbesondere, weil Julia bei der Nennung von „Stella“ in den ersten Tagen immer in Seufzen ausbrach. Aber mit Wegfall von Julias Seufzer fand Marie den Namen gar nicht so schlecht. Sie genoss es sogar, dass die anderen Klassenkameraden sie auch mehr und mehr Stella riefen. Bald war sie selbst dazu übergegangen, sich nur noch Stella und nicht mehr Marie zu nennen.

Die Einzigen, die bei dem Spiel nicht mitmachten, waren ihre Familienmitglieder. Zu Hause beharrten ihre Mutter Katja und ihre Schwester Elena darauf, sie bei ihrem Taufnamen Marie zu rufen.

Bernd lachte ungläubig auf.

„Ich glaube, du spinnst. Schließlich reden wir über Julia. Wenn sich jemand mit Party auskennt, dann sie. Die liebt dich auch mit Kater. Außerdem musst du unbedingt Rory kennenlernen. Du hast schon letztes Mal abgesagt. Er zumindest kann es auch kaum noch erwarten, meine beste Freundin zu treffen“, feuerte Bernd seine letzte Kugel ab.

Stella war schon fast überstimmt. Bernd war seit zwei Wochen „unsterblich“ in Rory verliebt, und Stella bemerkte in diesem Augenblick amüsiert, wie er darauf brannte, ihr endlich seine neueste Flamme vorzustellen.

Bernd war „furchtbar schwul, und das ist auch gut so!“, wie er selbst freimütig lächelnd von sich sagte. Er zelebrierte sein Tuntendasein manchmal so, dass es Stella schon fast zu viel wurde.

Insgeheim war sie aber auch neidisch. Bernd schien sich gefunden zu haben und voll und ganz zu sich zu stehen. Bei allem, was ihm widerfuhr, dachte er positiv und vertraute insbesondere in Liebesdingen voll darauf, dass das Leben es gut mit ihm meinte. Und ging es doch einmal anders aus als erwartet, zuckte er nur lächelnd mit den Schultern. Stella hingegen nutzte ihren durch und durch organisierten Arbeitsalltag gerne als Ausrede, um nicht über ihr mageres Liebesleben nachdenken zu müssen.

Bevor Stella es sich wieder anders überlegen konnte, schlug ihr Bernd schon grinsend auf die Schulter.

„Abgemacht! Ich werde heute Abend bei dir vorbeikommen, und wir durchforsten gemeinsam deinen Kleiderschrank nach einem tollen Outfit. Ich habe da auch schon eine Idee.“

Stella verdrehte die Augen und hob resigniert die Arme.

„Oh Mann! Wehe, das wird ein langweiliger Abend.“

„Langweilig?“ Bernd zeigte seine zum Schwur erhobene Hand und winkte der schief lächelnden Stella damit keck zu. „Süße, das wird der beste Abend deines Lebens! Das verspreche ich dir.“

Narrenschicksal

Подняться наверх