Читать книгу Narrenschicksal - Ava Lennart - Страница 16

Anfängerfehler

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Sie mussten beide einen Moment eingenickt sein. Steven erwachte davon, dass Stella leicht zuckte. Er war sofort hellwach. Sie lächelte im Traum. Er hob seine Hand und strich mit dem Daumen sanft ihre Wangenlinie entlang. Er fühlte sich ihr so nah, und das hatte nichts damit zu tun, dass er noch halb in ihr war. Er hatte so viele Worte, die er ihr sagen wollte, so viele Fragen, die in ihm simmerten, und brachte doch keinen Ton heraus. Ohne dass er es steuern konnte, formten sich in seinem Kopf nur drei Worte: „Ich liebe sie.“

Er runzelte die Stirn, sein Herz klopfte auf einmal wie wild, und das Blut in seinen Ohren rauschte, während er diesen Gedanken zu greifen versuchte. Aber anstatt in Panik auszubrechen, erfasste ihn auf einmal ein Gefühl tiefen Friedens, und er wusste es so klar wie sonst nichts anderes. Er liebte sie.

In diesem Moment öffnete Stella die Augen, lächelte und flüsterte ihm etwas zu. Im ersten Moment bildete sich Steven ein, sie hätte seine Gedanken gehört und würde sich ihm ebenfalls erklären. Aber dann verstand er sie.

„Steven, du musst raus aus mir, sonst ist es nicht sicher.“

Schlagartig ernüchtert, richtete er sich auf. Mit einem bedauernden Blick auf Stella, die ihn entschuldigend anblickte, zog er sich von ihr zurück.


Stella bemerkte an Stevens Blick, dass irgendetwas verändert war. Sie fröstelte leicht, als er sich auf den Bettrand setzte und das Kondom entsorgte. Auf einmal lag eine Befangenheit in der Luft, die sie kaum ertragen konnte. Um die Spannung zu durchbrechen, legte sie ihre Hand auf seinen breiten Rücken.

Seine Schultern strafften sich, und er stand ruckartig auf. Stella schluckte. Als sie seine wohlgeformte Rückseite und das Spiel seiner Muskeln an seinen langen Beinen sah, wallte eine neue Welle der Lust in ihr auf. Sie wollte ihm so viel sagen.

„Wo ist das Bad?“, fragte sie stattdessen und zwang sich, ruhig zu der Tür zu gehen, auf die er deutete.

Allein in dem hellen, modernen Badezimmer betrachtete sie sich im Spiegel. Ihr Make-up war bis auf einen zarten Streifen Goldglitter an ihrer rechten Schläfe nicht mehr vorhanden, und die Schminke ihrer Augen leicht verwischt. Ihr Gesicht zeigte eine rosig-schimmernde Färbung, und ihre Augen leuchteten wie schon lange nicht mehr. Ihre Lippen waren durch die Küsse leicht geschwollen und gut durchblutet. Sie fühlte sich immer noch schön und so unbeschreiblich lebendig.

Aber was war mit ihm geschehen?, fragte sie sich. Weshalb war er so abrupt aufgestanden? Hatte sie irgendetwas falsch gemacht?

Stella schloss die Augen und dachte nach, während die Lust in ihrem Körper nachhallte. Fetzen der Erinnerung an ihren Liebesakt stellten sich ein und auch an die Worte, die sie auf dem Höhepunkt ihrer Lust geschrien hatte.

„Oh, nein! Das hast du nicht gesagt, du dumme Kuh!“, stammelte sie entsetzt.

Sie hämmerte sich mit beiden Fäusten auf ihre Schläfen, als könnte sie so die Worte ungeschehen machen. Als das nichts nützte, starrte sie verzweifelt auf ihr Spiegelbild. Sie konnte es nicht zurücknehmen. Sie hatte tatsächlich „Ich liebe dich“ gestöhnt, als sie gekommen war. Und sie erkannte es in ihren eigenen Augen, dass sie tatsächlich so fühlte.

„Ich liebe ihn!“, flüsterte sie sich zu, und ihre Hand fasste unwillkürlich an ihre Brust, in der ihr Herz schlagartig flatternd klopfte.

Das hatte sie noch niemals gefühlt.

Es hatte Momente und Männer gegeben, bei denen sie gedacht hatte, es wäre Liebe. Seit ihr Vater ihre Mutter, ihre Schwester und sie nach jahrelangem Betrug verlassen musste, war sie – genährt durch die stetige Ermahnung ihrer verbitterten Mutter – ohnehin sehr zurückhaltend gewesen, was Gefühle anging. Aber alles Vorherige war mit dem jetzigen Gefühl nicht vergleichbar.

Eine stille Freude breitete sich in ihr aus. Endlich fügten sich die Dinge zusammen, und ihr Leben machte Sinn. Hatte sie ihren Kugelmenschen in Steven gefunden? Die fehlende Hälfte, nach der sie ihrer Bestimmung nach ihr Leben lang zu suchen hatte?

Dann kam ihr jäh in den Sinn, wie er sich soeben abgewendet hatte. War das wohl eine Reaktion auf ihr Liebesgeständnis gewesen? Ein dumpfer Schmerz sammelte sich in ihrem Magen. Wie naiv sie doch war! Zu glauben, für ihn wäre alles genau so einzigartig schön gewesen wie für sie. Ihm ihre Liebe offen zu gestehen ...! So ein Anfängerfehler!

Stella schwappte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um ein plötzlich aufkommendes Brennen ihrer Augen im Keim zu ersticken. Sie atmete tief durch und sammelte Kraft, wickelte sich in ein Badetuch, weil sie sich in ihrer Nacktheit auf einmal sehr verletzlich fühlte, und betrat wieder sein Schlafzimmer. Er war nicht da. Eine heftige Verlorenheit breitete sich in ihr aus. Stella nutzte diesen Moment, um sich umzuschauen.

Das Schlafzimmer war sehr beeindruckend – nicht mehr als ein Bett und ein Stuhl in dem hohen Zimmer. Stella konnte auf einer Wandseite eine Tür erkennen, die jedoch fast unsichtbar mit der Wand verschmolz. Ein begehbarer Kleiderschrank? Die Möblierung war sehr schlicht: maskulin. Der kunstfertig geschreinerte Holzrahmen des Bettes war eindeutig aus Kirschholz, das in einem edlen Schwung eine Liege wie aus einem Guss bildete. Mehrere dezent gedimmte Strahler tauchten das Zimmer in ein sehr gemütliches Licht. Dem Bett gegenüber hing ein großformatiges Ölbild, das leicht abstrahiert eine Silhouette zeigte, die sich erst bei näherem Hinsehen als der Kopf einer Frau offenbarte. Die Farben und das Motiv rührten etwas in Stellas Inneren. Selten hatte ihr ein Bild so gut gefallen. Auf dem Bett zeugten zerwühlte Laken von der soeben erlebten Leidenschaft.

Da fiel ihr Blick auf eine oberhalb des Bettes in die Wand eingelassene Uhr, und sie erschrak. Konnte es tatsächlich schon kurz vor sechs Uhr morgens sein? Ihr Flieger nach Zürich sollte um neun Uhr gehen. Ihre Taschen waren zwar schon gepackt, sie würde aber sicherlich noch eine Weile brauchen, um von hier zum Rathenauplatz und von dort zum Flughafen zu kommen.

Hektisch suchte sie ihren Slip in dem Gewühl der Laken und verließ das Schlafzimmer, um ihre Kleidung und Schuhe aufzuklauben. Von Steven war noch immer keine Spur zu sehen. Wo war er nur?

Stella zog sich rasch ihr Kleid über. Die Glitzerstrumpfhose hatte den Abend – oder war es Zorro – leider nicht überstanden. Den BH stopfte sie in ihre Clutch, die sie einfach neben der Tür fallen gelassen hatte.

Stella drehte sich um und erblickte am anderen Ende des weitläufigen Wohnraums eine moderne Kücheninsel. Nachdem sie ihre Strumpfhose entsorgt hatte, entdeckte sie hinter einer Mauer bei der Küche einen großen Raum, der augenscheinlich Stevens Arbeitszimmer war. Großformatige Zeichnungen von Möbeln säumten die Wände, und auf einem Zeichenbrett war der Entwurf einer Liege zu er kennen, deren fragmentarisches Modell danebenstand. Stella trat näher an die Wandzeichnungen heran.

„Steven Berghoff“ stand in großen schwarzen Lettern unter jedem Bild.

Ein schöner Name, dachte Stella, passend. Steven war, so schloss sie aus der Ausstattung seiner Wohnung, sehr wohlhabend. Aller Wahrscheinlichkeit nach war das seinem gestalterischen Talent zu verdanken, auf das sie durch die Zeichnungen schloss.

Stella freute sich über jedes Puzzleteil in seiner Wohnung, das ihr half, diesen unglaublichen Mann, der sie so aufwühlte, kennenzulernen. Auf dem Schreibtisch erspähte Stella wieder eine Uhr. Es war eine weitere Viertelstunde vergangen. Langsam wurde Stella unruhig. Sie wollte sich unbedingt persönlich von ihm verabschieden. Es versetzte ihr einen leichten Stich, dass er so sang- und klanglos verschwunden war.

Wo war er nur? War er vielleicht von dem Geständnis ihrer Liebe so sehr geschockt?

Szenen der letzten Nacht blitzten vor ihrem inneren Auge auf, und sofort überkam sie wieder dieses zaghafte Glücksgefühl. Sie erinnerte sich daran, wie er sie angeschaut hatte. Sein Blick – das konnte doch nicht nur gewesen sein, um sie ins Bett zu bekommen!

Nach weiteren fünf Minuten des Wartens war Stella davon allerdings weniger überzeugt. Wenn sie den Flieger noch erwischen wollte, musste sie jetzt wirklich los.

Sie erinnerte sich an den Straßennamen, den Steven gestern genannt hatte, und bestellte ein Taxi, das in fünf Minuten da sein würde. Stella sah keine andere Möglichkeit und rupfte ein Blatt von einem Notizblock auf Stevens Schreibtisch ab. Sie kritzelte rasch ein paar Zeilen. Traurig lächelnd überlegte sie, wo sie die Notiz hinlegen konnte, damit er sie auch wirklich sah.


Zehn Minuten später schloss Steven seine Wohnungstür auf. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass Stella hier war. Ein Gefühl des Heimkommens. Bei den wenigen Frauen, die er hierhin mitgenommen hatte, war er immer erleichtert gewesen, wenn diese endlich wieder sein Refugium verlassen hatten. Nun aber konnte er es kaum erwarten, sie wieder zu spüren. Der Duft der noch warmen Brötchen, die er in der einzigen Bäckerei der Südstadt, die um diese Uhrzeit aus ihrer Backstube heraus die frischen Backwaren anbot, für ein gemeinsames Frühstück besorgt hatte, verstärkte dieses Gefühl noch.

Ihm war diese spontane Idee gekommen, als sie im Bad verschwunden war und er ihren wiegenden Hüften hinterherstarrte: ein Anblick, bei dem neues Verlangen wild in ihm aufgewallt war. Stopp! Sie musste ihn ja für ein unersättliches Tier halten. Bloß jetzt keinen Fehler machen und ein recht unverfängliches Verhalten an den Tag legen, hatte er gedacht.

Steven hatte sie eigentlich nur mit einem Kaffee überraschen wollen, dann aber bemerkt, wie sein vernachlässigter Magen knurrte. Der Blick in seinen Kühlschrank, in dem Leere herrschte, hatte allerdings eher abtörnend gewirkt.

Normalerweise wäre er auch in zehn Minuten vom Bäcker zurückgewesen. Er hatte aber die Nachtschwärmer der Karnevalspartys nicht bedacht. Als er in der Schlange von abgerockten Freaks anstand, die bis auf den Bürgersteig reichte, sehnte er sich jede Sekunde nach ihr. Hätte er ihre Handynummer gekannt, hätte er ihr eine Nachricht geschickt.

Es war blöd gewesen, als er, erschrocken über seine starken Gefühle, einen Moment für sich hatte sein wollen. Aber er würde es ihr schon irgendwie erklären können, weshalb er so abrupt aufgestanden war, ohne sich ganz zu blamieren. Ob er es wagen konnte, ihr die Wahrheit zu sagen?

Merkwürdig, wie einfach alles bei Nacht erschienen war und wie befangen ihn der Tag machte.

Lächelnd spielte er immer wieder einzelne Szenen der vergangenen Nacht im Geiste durch, und die Vorfreude auf die weitere Erforschung ihres Körpers und ihres Lebens wuchs.

„Stella? Ich bin zurück“, rief er, als er die Tüte mit den frischen Brötchen samt seinem Schlüssel auf den Küchentresen legte und im Vorbeigehen die Kaffeemaschine anschaltete.

Sie musste noch im Bad sein. Als er sich umdrehte, fiel ihm auf, dass ihre Klamotten nicht mehr verstreut vor der Tür lagen. Plötzlich beunruhigt, ging er mit langen Schritten in sein Schlafzimmer. Die Badezimmertür stand offen.

„Stella?“, rief er erneut.

Er ging ratlos zurück in die Küche und blickte sogar hinter die Wand in sein Arbeitszimmer. Sehr langsam tröpfelte die Gewissheit in sein Hirn, dass sie tatsächlich nicht mehr hier war. Sämtliche Kraft wich aus seinen Gliedern, und er fror augenblicklich. Er wusste nichts von ihr, nur ihren Vornamen, dämmerte es ihm. Wie sollte er sie jemals finden? Weshalb war sie ohne Nachricht fort? Konnte er sich so in ihr getäuscht haben?

Er ging zurück ins Schlafzimmer auf der Suche nach irgendeinem Zeichen von ihr. Nichts. Er suchte im Badezimmer, schaute unsinnigerweise sogar in die Dusche. Durchforstete den Bereich um die Tür, öffnete diese sogar, um den großen Empfangsraum zu scannen, den er mit seinem Vater teilte. Nichts.

Steven hob seine Hände und rieb sich verzweifelt das Gesicht. Wie gelähmt ging er zurück an den Küchentresen und stützte sich bleiern mit beiden Armen auf ihm ab. Das darf nicht sein, dachte er und versuchte, den schmerzhaften Kloß zu ignorieren, der langsam sein Herz eroberte und jegliche Wärme verdrängte. Bitterkeit keimte stattdessen in ihm auf.

Wie konnte er nur so naiv sein und denken, dass ihr diese Nacht genauso viel bedeutet hatte wie ihm? Selbst schuld, wenn er sein Herz so weit öffnete. Und das an Weiberfastnacht. Anfängerfehler!

Mit einem tief aus seiner Brust grollenden Schrei der Verzweiflung fegte er die Brötchentüte vom Tisch. Sein Schlüsselbund schlug hart klirrend auf dem Betonboden auf. Steven bückte sich schwer nach ihm und flüchtete aus seiner Wohnung, raus an die kalte Luft, die seine brennenden Wangen kühlen sollte.

Narrenschicksal

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