Читать книгу Mama allein zu Haus - Barbara Becker - Страница 17
SO SCHWER, LOSZULASSEN
ОглавлениеIch stehe immer noch am Schlafzimmerfenster und langsam wird es selbst mir zu kalt, die ich am liebsten bei bayerischen Tiefkühltemperaturen schlafe.
Das ist doch alles ein totaler Mist.
Allmählich sickert die Realität in mein Bewusstsein – und die Erkenntnis schmerzt wie beim allerersten Mal, dabei habe ich doch schon einige Tränen darüber vergossen: Mein Sohn hat Abitur, ist gerade achtzehn Jahre alt geworden und kann selbst entscheiden, was er jetzt macht mit seinem Leben.
Ja schon, aber so schnell? Und so weit weg? Musste das sein, so von jetzt auf gleich? Warum werden Kinder so schnell erwachsen und unabhängig und gehen ihren Weg?
An allem ist sowieso mein Mann schuld, schießt es mir durch den Kopf. Der stand damals am Taufbecken und hat gesagt: »Ich wünsche dir viele Reisen. Reisen bildet und erweitert den Horizont.« Bei mir setzte in diesem Augenblick unmittelbar Schnappatmung ein. Ich habe meinen Mann praktisch vom Taufbecken weggeschubst und schnell hinzugefügt: »Ich wünsche dir, dass du geliebt wirst und Liebe geben kannst. Amen.«
Meine Mutter und meine Schwester haben dazu bestätigend mit dem Kopf genickt. Da waren wir Frauen uns einig. Wer will schon einen bindungsunfähigen Weltenbummler heranziehen? Die Frauen in meiner Familie jedenfalls nicht.
Wie es in Sachen Liebe bei meinem Sohn aussieht, kann ich nicht sagen. Das erzählen Jungs doch nicht ihren Müttern! Also mein Sohn jedenfalls nicht. Auch wenn vor seiner Abreise eine extrem hübsche junge Dame im Minirock bei uns in der Küche stand, die dann bei uns übernachtet hat. Mein Sohn hat mich direkt etwas mitleidig angesehen, als ich gefragt habe: »Soll ich noch eine Matratze hoch in dein Zimmer bringen?«
»Nö, passt schon, Mama.«
Ich habe fluchtartig die Küche verlassen, als ich das Grinsen in ihren Gesichtern sah. Wie peinlich kann man sein als Mutter?
Über den Beziehungsstatus meines Sohnes kann ich also keine Auskunft geben. Und auf Facebook nachschauen geht ja heute auch nicht mehr. Bei der Tochter unserer Nachbarn konnte man dort immer nachlesen, ob es den Freund noch gibt oder eben nicht. Aber bei Snapchat, wo die Kids heute ständig Fotos und Videos posten, hat Nicholas mich gesperrt. »Sorry, Mom. Ich brauche auch etwas Privacy.«
Vielleicht erzählt mir Nicholas irgendwann mal was, wenn es etwas Ernstes ist, aber jetzt sowieso nicht, weil er eben auf der anderen Seite der Welt ist und ausgeraubt im Straßengraben liegt. Da bin ich mir ganz sicher. Wenn ich ihm nur ganz schnell eine Nachricht bei WhatsApp schreibe, könnte ich sehen, ob alles gut ist. Lässt mich das wie eine Glucke wirken?
Leise tapse ich ins Wohnzimmer und tippe: »Hey, alles gut bei euch?«
Keine zehn Sekunden später kommt ein Foto. Das Kind liegt an einem unglaublich schönen weißen Sandstrand, vor ihm das Meer, seine braun gebrannten Beine winken mir praktisch zu: »Es ist megacool hier!« Und dann folgt gleich noch eine Nachricht: »Und billig. Jeden Abend Asado mit Mojito-Flatrate für acht Euro. Saugeil.«
Ich atme durch, ein Glücksgefühl durchströmt mich. Was kann es Schöneres geben als ein Kind, das die Welt erobert und dabei noch Spaß hat? Mein Mann hatte ja recht. Jede Reise in ferne Länder erweitert den Horizont, macht den Kopf frei für die Ansichten und Probleme anderer. Man bildet sich sozusagen nebenbei. Es geht ihm gut, er genießt sein Leben.
Ich schleiche wieder ins Bett, kuschle mich im eiskalten Zimmer in meine dicke Bettdecke, und kurz bevor ich wieder einschlafe, denke ich noch: Ich würde zu gerne genau wissen, wo dieser Strand ist.
Am nächsten Morgen schaue ich mir an, wo dieser brasilianische Traumstrand ist, an dem mein Sohn gerade mit seinem Kumpel in der Sonne liegt. Und wie hieß noch mal diese heruntergekommene Jugendherberge, in der jeder ein Stockbett in einem Sechs-Mann-Zimmer hat? Zum Glück kann man über Google Earth ganz dicht ranzoomen an jede Location weltweit und das mache ich noch vor dem Frühstück. Ich wüsste nicht, wie ich das sonst überleben würde.
Hm. Hübsch, das Dorf. Da wäre ich jetzt auch gerne, aber mich hat die nebelige Novemberrealität fest im Griff. Um diese Jahreszeit habe ich so viel zu tun, dass ich jetzt gar nicht verreisen könnte. Und momentan lenkt mich der Job auch sehr gut ab. Ich schreie ganz laut: »Hier!«, wenn es gilt, noch schnell einen Text für die nächste Bunte-Ausgabe zu schreiben. Ich habe ja jetzt Zeit.
Viel mehr Zeit als die letzten zwanzig Jahre.
Zu viel Zeit …
Aber dem Kind geht’s gut, denke ich. Bis Nicholas mich anruft und mit seltsam niedergeschlagener Stimme sagt: »Hallo, Mama.«
Was ist los? Mein ganzer Körper steht plötzlich unter Strom. Ich spüre, dass was nicht okay ist, und das sage ich ihm auch.
»Ist was passiert?«
»Na ja«, fängt er an. »Wir waren in so einer Bar und sind dann zu Fuß nach Hause gelaufen. War vielleicht nicht so schlau.«
Hilfe! Adrenalin flasht mein Hirn, mein Herz, einfach alles. Jetzt sag schon endlich! Ich atme tief ein und aus. Er lebt ja noch. Sonst könnte er nicht anrufen.
»Also wir sind so die Straße langgegangen und zwei Motorräder von der Polizei waren mal vor und mal hinter uns und dann haben sie uns angehalten und gesagt, wir hätten bestimmt Drogen genommen.«
Drogen? Ich muss es fragen: »Sag mir bitte, dass ihr nicht gekifft habt! Oder wenigstens, dass ihr nichts mehr dabeihattet.« Man wird als Mutter ja pragmatisch, wenn der Nachwuchs in so einem riesigen Mist steckt.
»Nein, Mama. Du weißt doch, dass ich nicht kiffe, ich rauche ja noch nicht mal Zigaretten. Aber die Polizisten haben uns nicht geglaubt und wir mussten uns mitten auf der Straße bis auf die Unterhose ausziehen. Das war so was von peinlich. Außerdem hatten wir mega Angst, denn die Bullen haben die ganze Zeit mit den Handschellen vor uns rumgefuchtelt und trugen auch Pistolen. Das war absolut nicht witzig. Aber sie konnten nichts finden und dann haben sie gesagt, wir sollen mit ihnen zum nächsten Geldautomaten.«
Häh? Ich verstehe nur Bahnhof. Warum will die Polizei mit den Jungs zum Geldautomaten?
»Die haben uns voll abgezogen, Mama. Wir mussten pro Nase vierzig Euro zahlen und dann durften wir endlich nach Hause. Wir haben überlegt wegzurennen, haben uns aber nicht getraut wegen der Knarren, die die dabeihatten.«
Korrupte Polizisten? Das ist mal ein Szenario, das ich so nicht auf dem Schirm hatte in meinem kreuzbraven Bayern. Ich atme tief aus. Vierzig Euro. Voll egal. Hauptsache, er sitzt nicht wegen Drogen in einem südamerikanischen Knast, aus dem ich ihn dann vielleicht rauskaufen muss.
Ein bisschen geschockt ist Nicholas schon von der Geschichte, das merke ich ihm über die riesige Entfernung an. Ich beruhige ihn wie früher so oft. »Ist ja nicht so schlimm. Lass dir wegen zwei Typen nicht das ganze Land versauen, bitte.«
Innerlich sieht es bei mir ganz anders aus.
Ich lege auf, falle auf die Couch, hole meinen Hund ganz nah ran zum Kuscheln und versuche, nicht zu heulen. Ich habe doch gewusst, dass die Welt noch viel zu groß und zu gefährlich ist für mein Kind. Warum habe ich ihm erlaubt wegzufahren? Ist doch mir egal, dass der volljährig ist! Manno! Was spricht dagegen, dass man die Kinder für immer in Watte packt? Nach einiger Zeit beruhige ich mich etwas und denke noch einmal über die Geschichte nach. Er hat gut reagiert, ist cool geblieben, hat die Typen nicht provoziert. Alles ist gut gegangen. So ist sie eben, die große weite Welt. Nicht alle sind nett, es lauern Gefahren und die muss er jetzt ohne uns meistern.
Schnief.
Und das ist erst der Anfang, wird mir schlagartig klar! Ich hocke hier in meinem leeren Nest und versuche, meine Gefühle in den Griff zu bekommen, diese seltsame Mischung aus Stolz, wie die Jungs die Situation gemeistert haben, und totaler Panik, was alles hätte passieren können, wenn …
Stopp. Jetzt nicht durchdrehen, ermahne ich mich selbst. Wäre, hätte, könnte bringt keinen weiter und eine Mutter, die daheim auf dem Sofa sitzt, während der Sohn am anderen Ende der Welt allein seinen Mann stehen muss, schon gar nicht. Wir können unsere Kinder nicht für immer beschützen, das muss ich endlich akzeptieren. Radikale Akzeptanz sagt man dazu in der aktuellen Resilienzforschung. Wer es schafft, etwas Unabänderliches anzunehmen, seine Ohnmacht zu akzeptieren und dann loszulassen, ist nicht länger blockiert, sondern kann seine Energien auf etwas Neues richten. Klingt total logisch und einleuchtend. Theoretisch. Also warum fällt es mir in der Praxis so schwer loszulassen, wenn ich das doch eigentlich weiß? Ich muss ihn fliegen lassen. Also im übertragenen Sinn, denn das Flugticket habe ich natürlich bezahlt. Haha. Habe ich mir alles selbst eingebrockt und da muss ich jetzt durch. Wann hört es auf, dass ich mindestens zwanzig Mal am Tag überlege, was er wohl gerade macht? Mich frage, ob es ihm auch gut geht, war er zu essen bekommt – ein ganz typischer Gedanke vieler Mütter. Na, solche Abenteuer sind jedenfalls nicht hilfreich beim Loslassen, aber ich werde daran arbeiten. Das nehme ich mir fest vor.
Am nächsten Tag meldet sich Nicholas noch einmal – diesmal über Facetime.
»Schau mal, Mama. Hier ist so ein süßer Hund und eine Katze gibt es auch und einen Papagei. Wollte ich dir nur mal schnell zeigen. Ist echt nett hier, aber du würdest nicht in den Betten schlafen, die sind schon ein bisschen ranzig.« Wir plaudern eine Weile und haben beide das Gefühl, uns nahe zu sein. Ich frage ihn nicht, warum er mich angerufen hat. Sicher nicht wegen des süßen Hundes, obwohl Nicholas ein absoluter Hundefan ist. Ich weiß, dass die Nabelschnur immer elastischer wird, aber noch reicht sie rüber über den Atlantik und das ist ein wunderbares Gefühl. Glücklich beenden wir beide das Gespräch.
»Hab noch ganz viel Spaß, Schatz«, sage ich gut gelaunt und meine das tatsächlich auch so. Er soll die Welt entdecken, sich amüsieren, frei sein von den Erwartungen aller, auch gefährliche Abenteuer überstehen. Einfach sein Ding machen.
Hach, ich bin doch eine coole Mama! Stolz gehe ich in die Abendkonferenz und danach rufe ich meine Freundin Tina an, die früher bei mir draußen gewohnt hat, jetzt aber in der Stadt lebt. Mit ihr verabrede ich mich auf ein Glas Wein in Schwabing. Ich muss ja nicht mehr nach Hause hetzen und mich um das Abendessen für den Junior kümmern. Wir gehen in eine nette Bar, ratschen stundenlang und ich vergesse tatsächlich die Zeit, schaue nicht mehr ständig auf die Uhr wie früher, als mein Kind sicher noch etwas mit mir besprechen musste oder auch nur etwas zu essen haben wollte.
Ich hatte ganz vergessen, wie lustig solche Mädelsabende sein können. Wann konnte ich das zuletzt so völlig ohne inneren Druck genießen? Genau. Wahrscheinlich fast genau vor achtzehn Jahren. Das sage ich Tina, wir lachen uns schlapp über uns selbst, denn auch ihr Sohn ist schon achtzehn und gerade auf dem Absprung, und darauf stoßen wir gleich noch einmal an.
Läuft bei mir, das Ablösen! Jeden Tag ein bisschen besser.