Читать книгу Mama allein zu Haus - Barbara Becker - Страница 6

ES IST SO WEIT

Оглавление

Es soll ja Leute geben, die lieben Herausforderungen. Acht Jahre Schulweg ins Gymnasium ohne Crash und Zuspätkommen war meine ganz persönliche Dauerchallenge. Wie mein Sohn sein Leben einmal ohne das mütterliche Martinshorn in den Griff bekommen will, ist mir ein Rätsel.

Doch das muss er jetzt. Es ist Schluss mit Schule. Schluss mit morgendlichen Fragen nach Heften, Büchern, Turnbeutel, Pausenbrot, Lernstand, blöden Lehrern und ungerechten Noten. Nicholas ist noch keine achtzehn und hat vor einigen Wochen das Abitur geschafft.

Was habe ich gelitten, als in der heißen Abi-Phase die Panik so von ihm Besitz ergriffen hatte, dass er tagelang ungeduscht mit in die Höhe stehenden Haaren und in Jogginghose am Esszimmertisch saß und verzweifelt versuchte, diese verdammten Matheformeln kurz vor Schluss doch noch zu verstehen! Mein Kind, das sich ungefähr fünfmal am Tag duscht, so angstzerfressen zu sehen, dass es auf ausgiebige Körperpflege und Styling einmal keinen Bock hat, hat mich den Tag, an dem der ganze Mist endlich vorbei ist, wirklich herbeisehnen lassen.

Und da wären wir jetzt. Heute ist es so weit. Die Abiturzeugnisse werden feierlich in Anwesenheit des Landrats überreicht. Um zehn Uhr. Wir sollten vielleicht pünktlich in der Schule sein, denke ich so, als ein Schrei von oben erschallt.

»Mamaaaa, wo sind meine Haferlschuhe und das Trachtenhemd? Und hast du die Weste abgeholt? Wir gehen doch dieses Jahr alle in Tracht zur Zeugnisausgabe.«

Als ob ich das nicht wüsste. Und natürlich ist alles da. Fein säuberlich in seinem Schrank.

Zu meiner Abifeier hatte ich ein schickes schwarzes Kleid an und die meisten Jungs trugen Anzüge. Ein einziger Mitschüler kam in Lederhose, der ist heute Oberförster im Berchtesgadener Land und war immer sehr bajuwarisch-traditionell gekleidet. Wir anderen fanden das spießig und wären nie im Dirndl an unserem letzten Schultag erschienen, aber heutzutage ist Tracht in und um München total angesagt – nicht nur zu Oktoberfestzeiten. Also wird mein Sohn sein Abizeugnis in Lederhose entgegennehmen, falls er es jemals schafft, sich überhaupt anzuziehen.

Wie soll das nur werden, wenn Nicholas sich mal allein fertig machen muss? Meine Schwester Moni kommt, die mich als Working Mom die ganze Schulzeit über unterstützt hat. Zusammen warten wir in der Küche darauf, dass der Herr Sohn sich fertig gestylt hat. Wir sind bester Laune, geradezu euphorisch und klopfen uns praktisch unentwegt gegenseitig auf die Schultern, weil das Kapitel Schule endlich abgeschlossen ist. Jetzt ist er da, der Moment, auf den wir so lange gewartet haben. Nur ein winziges Ziehen in der Herzgegend scheint zur puren Freude nicht zu passen …

Aber dieses Gefühl schiebe ich schnell weg und strahle meinen Sohn an, der perfekt gestylt und nach seinem neuen Männerparfum duftend die Treppe herabpoltert. Die Augen glänzen, aber nach außen gibt er sich gelassen. Dann wollen wir mal.

Natürlich habe ich mir heute freigenommen, denn um nichts in der Welt möchte ich den Moment verpassen, auf den die Kinder zwölf lange Jahre hingearbeitet haben. Die Aula unserer Schule ist zu klein, deshalb findet die Zeugnisausgabe in der neuen Turnhalle statt. Das ginge sicher auch stimmungsvoller, aber was soll’s? Wichtig ist in diesem Moment etwas anderes.

Tatsächlich sind alle Jugendlichen in Tracht gekommen. Hundertzehn Abiturienten auf dem Sprung in die Freiheit. Nicholas grinst von einem Ohr zum anderen. Wie übrigens schon den ganzen Vormittag. Er sitzt vorne bei seinen Freunden. Als die Chorleiterin die Abiturienten auffordert, ein letztes Mal zusammen zu singen, ist mein Sohn nicht so ganz bei der Sache. Aber das »Felicitá« und »Viva, Viva« kriegt er irgendwie hin. Ich grinse meine Schwester Moni an, die neben mir sitzt.

»Na, das hat er jetzt auch noch geschafft.«

Ein Spaziergang so eine Abiturfeier für eine stolze Mutter. Doch das komische Gefühl von heute Morgen ist nur scheinbar verschwunden. Zwischen meinen Schulterblättern spüre ich noch immer dieses seltsame Kribbeln. Ich atme tief durch. Für so etwas ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. In diesem Moment kündigt die Schulleiterin nämlich Sophie an, die beste Sängerin des Jahrgangs. Sie kann nicht nur singen, Gitarre spielt sie auch.

Sophie stimmt ein französisches Lied an, bei dem ich nur »Adieu« und »Liberté« verstehe. Das Wort »Maman« kommt auch vor. Mehrfach, in einem herzzerreißend traurigen Tonfall. Das reicht. Für mich gibt es kein Halten mehr. Ich heule Rotz und Wasser. Ohne Unterlass. Unterbrochen von nur halb unterdrückten Schluchzern. Warum hören diese Tränen nicht auf zu fließen? Ist ja wohl oberpeinlich.

Meine Schwester macht es auch nicht besser. Sie blickt immer wieder zu mir rüber, steckt mir ein Taschentuch nach dem anderen zu und fragt alle zehn Sekunden: »Geht’s?«

Nein, verdammt, es geht nicht. Welche emotionalen Wellen überrollen mich da eigentlich gerade? Eine Mischung aus Stolz, Wehmut und totalem Verlust, gestehe ich mir selbst ein.

Jetzt komm, reiß dich mal zusammen, sage ich zu mir selbst. Ist ja wohl total übertrieben dieses Rumgeheule. Du hast doch seit zwölf Jahren darauf gewartet, dass dieser Schulalbtraum endlich vorbei ist. Dein Kind freut sich wie Bolle und du machst hier auf Heulsuse.

Ich schnäuze mich ein letztes Mal in das völlig aufgeweichte Tempo und schaue nach vorn. Hoffentlich sieht Nicholas nicht, dass ich gerade völlig die Fassung verloren habe.

Gerade noch rechtzeitig habe ich mich wieder im Griff und sprinte – ganz Journalistin – nach vorne, das Handy im Anschlag. Das ist er, der Moment. Mein Sohn bekommt in wenigen Augenblicken sein Abiturzeugnis von Direktor und Landrat überreicht.

Neben ihm stehen sein bester Freund Jakob und noch einige andere Mitschüler, unter anderem der Jahrgangsbeste Mathieu. Der durfte sich aussuchen, ob er vom Landrat lieber die Auszeichnung für Chemie oder Mathe haben wollte. Konnte meinem Sohn nicht passieren mit seinem Zweierabi. Doch in diesem Augenblick geht es nicht um die bessere Note, sondern um Werte wie Freundschaft, Solidarität, gemeinsame Freude und deshalb strahlt die ganze Gruppe um Nicholas wie ein einziger riesiger Pfannkuchen. Alle bekommen eine langstielige Rose überreicht und dann den Persilschein in die große Freiheit.

Nein, ich bin überhaupt nicht peinlich, als mein Handy diesen Moment ratternd für die Ewigkeit festhält. Ich kriege ein glückliches, stolzes Lächeln von meinem Sohn geschenkt. Und war da nicht auch so ein kleiner triumphierender Blick von ihm in die Runde? So nach dem Motto: Meine Mutter ist vielleicht manchmal anstrengend und auch oft unterwegs, aber in solchen wichtigen Augenblicken ist auf sie Verlass! Denn wie immer fotografiert sie alles.

Ha!

Strahlend gehe ich zurück zu meinem Platz und applaudiere begeistert, als der letzte Abiturient von der ganzen Halle stehende Ovationen bekommt. Patrick ist schon zwanzig, Typ Fitnesstrainer mit längeren, gewellten Haaren. Er hat das Abi im allerletzten Anlauf und mit 3,7 geschafft. Die Direktorin feiert ihn, als hätte er den Preis des Landrats bekommen.

»Über diesen Abiturienten freue ich mich ganz besonders, denn er ist ein richtig cooler Typ«, sagt sie.

Genau deswegen mochte ich diese Schule so gern.

Patrick ist übrigens fast zwei Meter groß, nimmt den Oberstudiendirektor rechts und die Direktorin links hoch und lässt sich feiern wie ein Krieger des Olymps. Inzwischen steht die ganze Halle Kopf, überall Gejohle und Gelache. Das war’s. Adieu, Schulstress.

Mama allein zu Haus

Подняться наверх