Читать книгу Bella Calabria - Barbara Collet - Страница 11
Оглавление5
Domenica stand an ihrer Staffelei und malte. In der Wohnung herrschte eine unerträgliche Hitze. Scirocco lastete seit zwei Tagen auf dem Dorf. Fliegen belagerten das Haus. Wüstensand klebte überall auf dem Fußboden und den Möbeln. Eine Grundreinigung kam erst nach Abzug des afrikanischen Windes in Betracht. Trotz der heißen Luftzüge zog sie es vor, für Durchzug zu sorgen, um wenigstens die Illusion einer erfrischenden Meeresbrise zu genießen.
Am geöffneten Fenster blickte sie auf den Strand und die drei Schiffe für die Schwertfischjagd, die Passarelle. Ihre Antenne, fünfundzwanzig Meter hohe Masten mit Sitzplatz für den Späher, ragten in die Luft, als warteten sie auf einen neuen Einsatz. Ihre metallenen Wanten klapperten mit jeder Bö. Die dreißig Meter langen Brücken vor dem Bug wippten im aufkommenden Wind aus Afrika. Das aufgewühlte Meer besprühte mit der Gischt heranrollender Wellen den Schiffskörper.
Domenica stand fast nackt an der Staffelei. Die dunkelbraunen gelockten Haare, mit einem Tuch zum Knoten zusammengebunden, thronten auf dem Kopf. Keiner störte. Gianni, ihren Mann, erwartete sie nicht vor Mitternacht.
Früher malte sie Landschaften. Seit ein paar Monaten begeisterte sie sich für religiöse Motive aus dem Neuen Testament. Ihre aktuelle Arbeit stellte Jesus mit Dornenkrone dar, wie er die Erde umarmte. Domenica war gläubige Katholikin. In der Kirche sah sie eine autoritäre frauenfeindliche Institution. Sie verachtete sie. Als Heilerin – eine von der Mutter geerbte Gabe – pflegte sie ihre eigene Auffassung von Religion. Bislang empfing sie hilfesuchende Bekannte und Freunde ohne Honorar. Sie stellte Diagnosen, die kein Arzt fand, stoppte Krankheiten und gab Ratschläge zur Genesung. Den Durchbruch hatte sie bei ihrer Pilgerreise nach Lourdes vor zwei Jahren erlebt. Jedem erzählte sie diese Geschichte: Sie sei in einen unscheinbar aussehenden Laden für Touristen gestolpert, habe die Madonnenfigur herausgegriffen, sie erworben und wenig später festgestellt, dass diese aus Marmor gefertigte Figur ein mysteriöses Eigenleben offenbarte: Manchmal weinte die Madonna. Domenica interpretierte es als Zeichen des Auserwähltseins und notierte dieses Phänomen, wann immer es auftrat, im Tagebuch. Fortan stand die Figur bei ihren Konsultationen neben dem Ort des Geschehens. Sah sie Tränen auf den Wangen der Skulptur, wusste sie dies zu deuten.
Als sie neue Farbe anrührte, um das Universum in Azurblau zu malen, kam ihr die Idee: Warum sich weiter vor den Pfaffen und Nonnen verstecken? Was konnte ihr geschehen? Sie beschloss, ihre Gabe einem größeren Kreis der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Unter dem Schutz der heiligen Maria würde sie Menschen um sich sammeln, die dringend Hilfe benötigten. Sie, eine kalabresische Jeanne d’Arc, Beschützerin vieler Kranker. Nebenbei stiege das Ansehen ihrer Familie. Ein paar Mitglieder – sie verbüßten jahrelange Gefängnisstrafen – waren landläufig bekannt. Sie vertraute nicht darauf, die nächsten Jahre in Ruhe mit ihrem Ehemann leben zu können. Ein Blick in die Tagespresse bewies, wie aktiv der Staat Mafiamitglieder jagte. Jeden Tag füllten Fotos Verhafteter die Seiten der regionalen und nationalen Zeitungen. Eine Bewegung gründen – welch fantastische Idee!
Sie legte Pinsel und Mischpalette fort und griff nach dem Telefonbuch. Die nächsten Stunden war sie damit beschäftigt, Dutzende Menschen anzurufen und ihren Plan zu erklären.
Als Gianni spät in der Nacht zurückkam, fand er eine zufriedene, entspannte Ehefrau vor. Er küsste sie zärtlich auf den Nacken und lobte ihre neueste Produktion. Eigentlich hatte ihn Kunst bislang nicht interessiert. Domenica zuliebe begann er, sich mit Bildern zu beschäftigen, und fand zu seinem Erstaunen Freude daran.
»Nächste Woche organisiere ich eine Prozession zu Ehren der heiligen Maria. Meine Madonnenfigur aus Lourdes wird mir dabei helfen«, verkündete sie. Dann schlief sie ein.
Morgen wird sie mir erklären, was das zu bedeuten hat, dachte er und schon fielen seine Augen zu. Er hatte Vertrauen in sie.