Читать книгу Bella Calabria - Barbara Collet - Страница 16

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Schon am nächsten Tag fuhr Antonio in das Fischerviertel Chianalea unterhalb des Dorfes Scilla, um der Einladung nachzukommen. Davids Beschreibung war allerdings recht ungenau, er hatte nur den Besitzer des Hauses genannt und die Straße beschrieben. Notfalls musste Antonio sich durchfragen.

Den Wagen parkte er in der schattenspendenden Galerie, spazierte an der Dorfkirche vorbei und betrat das Innere des Viertels, die via Annunziata. Schmale Pfade zwischen zwei Häusern auf der rechten Seite, steil hinab zum Wasser führend, boten freie Sicht auf das blau schimmernde Meer. Im Vorbeigehen nahm er die gepflegte Vorderfront des Palazzos der Ruffos, des adligen Herrscherhauses wahr. In feudalen Zeiten lieferten die Fischer ihren Fang im Castello ab, der Trutzburg hoch oben über der Gemeinde. Von hier beobachteten die Wächter mit Argusaugen alles, was unter ihnen geschah und wer Beute im Boot mit sich trug. Die Jäger bauten einen Zugang vom Kellergeschoss ihres Hauses zum Meer, um ihren Fang – des Nachts, unbemerkt von den Spähern – vor der Gier des adligen Patrons zu sichern. Waren dies Strategien feudalabhängiger Fischer, die um jeden Bissen für ihre Familien kämpften? Oder der Beginn des tief verwurzelten Misstrauens – in keinem Jahrhundert in eine offene Revolte mündend – gegen das, was sich später Staat nannte? Heute verblieb nur eine letzte betagte Vertreterin der einst so omnipotenten Familie im Palazzo. Sie führte ein einsames Leben hinter geschlossenen Fensterläden. Irgendwann würde sie in die Annalen der Geschichte eingehen, lächelte Antonio beim Anblick des herrschaftlichen Wappens auf der Hausfassade.

Die Hitze setzte ihm zu. Schmale Häuserfronten rechts, sengende Sonne auf der ungeschützten Wegstrecke. Die Straße verengte sich nach ein paar Hundert Metern, dicht gebaute Häuserreihen zu beiden Seiten boten Schatten und Schutz vor der Sonne. Es roch nach modriger Feuchtigkeit, die sich in den langen Regenperioden im Winter im Mauerwerk einnistete. Auf der linken Seite entdeckte er einen Brunnen in einem kühlen Gewölbe, trank von dem Wasser und erfrischte sein Gesicht. Er gelangte zu einer verwahrlosten Palazzo-Ruine. Daneben, auf dem Handtuch breiten Streifen Strand mit Fischerbooten und Flaschenzug spielten Kinder. Ein betagter Fischer mit roter Knollennase saß auf der Mauer oberhalb des Strandabschnitts und beobachtete das Meer.

»Da ist ein Makrelenschwarm«, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf eine Stelle im Meer, über der ein Schwarm Möwen kreiste.

Antonio nickte dem Alten zu und steuerte auf die schmale Straße, die Prof. Via Giuseppe, steil in den oberen Teil des Viertels führend, zu.

Eine Greisin saß auf ihrem wackligen Stuhl vor der Haustür und gab Auskunft über das Domizil des Franzosen. »U francese, si si«, krächzte sie und deutete mit ihrer dürren Hand zwei Häuser weiter.

Antonio betätigte mehrmals den Türklopfer. Nichts. Endlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit und ein verschlafener Kopf erschien im Türrahmen.

»Wir hatten gestern ein Fest am Strand«, erklärte David und schlurfte ins Hausinnere, »das ging bis in den Morgen hinein.«

Antonio betrat mit ihm den Küchenraum. Die Dossiers und Fotos, die den dominierenden Tisch bedeckten, schob David zur Seite und nickte seinem Gast zu, Platz zu nehmen. Er suchte im Schrank neben der Wendeltreppe, die in das obere Stockwerk führte, nach Tassen und Zucker, füllte die Espressomaschine an der winzigen Spüle mit Wasser, löffelte Kaffeepulver dazu und setzte das Gefäß auf die Gasflamme des Herdes. »Ich trinke gerne den Segafredo«, bemerkte er, als er das duftende Getränk auf den Tisch stellte.

Antonio hatte das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Lag es an der Party, an mangelndem Schlaf, an dem überfallartigen Besuch? Er gab sich einen Ruck. »Ich möchte Sie gerne näher kennenlernen«, begann er, »Archäologie ist meine Leidenschaft. Ich bitte Sie, mit mir Fachgespräche zu führen, als sei ich ein Kollege. Auch wenn das natürlich nicht stimmt. Aber Sie würden mir eine große Freude machen.«

Er wartete, ob David etwas erwiderte. Schweigend schlürften sie den Espresso.

Antonio setzte erneut an. »Könnten wir mit der Synagoge beginnen? Welche Kriterien setzen Sie an, um zu beurteilen, ob es sich um eine Synagoge handelt oder nicht?«

Statt einer Antwort murmelte David eine Entschuldigung und verschwand im Badezimmer hinter der unscheinbaren Tür neben dem Gasherd. Antonio hörte, wie er sich Wasser ins Gesicht klatschte und tief durchatmete.

Mit dem Handtuch in den Händen kehrte er zu ihm zurück, bedeutend frischer aussehend. »Tja, da ist zum Ersten die Lage. Die Fundstelle ist in unmittelbarer Nähe zum Meer. Eine Wasserquelle gibt es in direkter Umgebung. Außerdem liegt sie an einer Straße, die sicherlich bereits in dieser Periode ein Verkehrsknotenpunkt von Reggio nach Taranto war. Könnte dieses religiöse Haus also eine Art meditativer Zwischenstopp gewesen sein?«

»Aber das würde eventuell auf eine jüdische Bevölkerung hinweisen«, sagte Antonio fasziniert.

»Ja, sicher. Warum auch nicht? Rom hatte ja auch eine starke Zuwanderung und liegt geografisch viel weiter weg. Nicht zu vergessen Sizilien! Die Sizilianer blicken stolz auf die hebräische Kultur, die sich zu den anderen, der arabischen und normannischen fügt.«

»Wo sollte die Bevölkerung denn gelebt haben? In Reggio?«

»Vielleicht. Ist aber auch möglich, dass um den Fund herum Wohnsiedlungen zu finden sind. Dazu müsste man natürlich richtig graben. Fachgemäß und großflächig.«

»Die Verwaltung des Denkmalschutzes hat bislang nicht viel unternommen. Zwei Jahre nun beschäftigte sich dieses Ingenieurbüro mit dem Fund …« Antonio rührte gedankenvoll noch mehr Zucker in die Espressotasse. »Ich muss mich entschuldigen, man überfällt nicht auf diese Weise einen Unbekannten. Tut mir leid. Aber dieser Fund ließ mir keine Ruhe«, sagte er.

»Warum?«

»Ich weiß nicht genau. Es hängt wohl damit zusammen, dass sich die offizielle Lesart für unser Land immer nur auf Griechen, Römer, Byzantiner und Normannen bezieht. Sie seien unsere kulturellen Wurzeln, das wird uns immer wieder überall eingehämmert. Nie wurde von einer jüdischen Population gesprochen.«

David musterte den Besucher eingehend. »Sie scheinen sehr daran interessiert zu sein, zu beweisen, dass das falsch ist«, bemerkte er.

Antonio wehrte sofort ab. »Ich bin Prior der Karmelitergemeinde und stehe einer Kirche vor, die seit 1685 urkundlich verzeichnet ist. Unsere Wurzeln als Karmeliterbrüder hier in Kalabrien reichen bis in das Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Wir haben eine stolze Kirche aufgebaut, die mit dem Erdbeben von 1783 völlig zerstört wurde. Sechzehn Jahre später hatten wir sie wieder in ihrem barocken Glanz aufgebaut, vielleicht noch schöner als vorher. Ich bin Katholik.«

»Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Eigentlich wollte ich nur verstehen, warum Sie das Problem der Fundstelle so interessiert.«

»Ich sagte doch schon«, entgegnete Antonio ungeduldig, »mich interessiert Archäologie«, und fügte versöhnlich lächelnd hinzu: »Ich habe eine Sammlung von Fachbüchern, die ich nachts studiere, in meinem Büro. Sie sind mein Lebenselixier.«

David grinste verständnisvoll. »Klar, es gibt Dinge, die muss man tun, und solche, die möchte man tun. Das kenne ich gut.«

Antonio schlug David einen Spaziergang vor. Sein Magen knurrte. An der Promenade fanden sich genügend Bars und Restaurants, die für den Lunch infrage kamen. Sie spazierten am Fischerhafen vorbei, durchquerten die Galerie und erreichten die Strandpromenade Christoforo Colombu. Das Meer lag still. Wer könnte sich an einem Tag wie diesem haushoch aufgetürmte Wellen vorstellen die, begleitet vom angsterzeugenden Heulen aus der Kehle des Monsters Scylla, auf das Land zurasen und anliegende Häuser bedrohen? Wer die mörderischen Strömungen, die ihre Opfer auf Ewigkeit in der Unendlichkeit des Wassers verschwinden lassen?

Sie nahmen am Strand Platz. Gegenüber lag Siziliens Punto Faro mit seinem unverwechselbaren Riesenturm, dem Pilone, Wächter der Straße von Messina. Symbol des Sieges der Technik über Scylla und Carridi, Zeichen der Vernunft nach dem letzten grauenvollen Krieg, der Millionen Menschen das Leben kostete.

»Wärst du gerne da oben? Eine Aussicht auf das Mittelmeer aus Vogelperspektive genießen?«, fragte Antonio.

David schüttelte den Kopf. »Nicht mal auf dem Eiffelturm mit Blick auf Paris. Ich steh nicht so auf Höhe«, lächelte er.

Antonio nickte. »Man weiß ja auch nie, wer gerade hinter einem steht.«

»Vor allem hier nicht«, bestätigte David grinsend.

Schweigend rauchten sie.

»Ich habe dich geduzt, Entschuldigung«, bemerkte Antonio.

»Das ist okay, du«, kommentierte David.

»Dann sollten wir jetzt essen gehen.« Antonio zeigte mit dem Daumen auf die Bar direkt hinter ihnen.

Sie bestellten Panini mit Schinken und Bier und erfrischten sich im Schatten unter Sonnenschirmen.

»Du könntest einmal meine archäologische Privatbibliothek ansehen, wenn du Lust hast«, schlug Antonio beim Abschied vor.

David nickte.

»Außerdem habe ich einen sehr guten Whisky, den könnten wir gemeinsam leeren.«

»Gut. Das nächste Mal lad ich dich zum Essen ein«, erwiderte David.

Antonio nickte erfreut.

Bella Calabria

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