Читать книгу Bella Calabria - Barbara Collet - Страница 15

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Am Samstag nach der Prozession entspannte Antonio bei Espresso und Gebäck in der Bar seines Cousins. Er überflog die Schlagzeilen. Eine Notiz am Rande fesselte ihn sofort: Bei der Modernisierung der Nationalstraße im Tal des San-Pasquale-Baches neben einem Dorf ganz in der Nähe der ionischen Küste wurden Reste einer Synagoge aus dem 4. Jahrhundert entdeckt. Sie könnte die älteste unseres Landes sein. Eine Sensation.

Eine Synagoge? Er lächelte zufrieden. Vorbei die Zeiten, in denen nur archäologische Spuren des antiken Griechenlands und Roms, der Etrusker, Byzantiner und Normannen als kulturelle Vorfahren anerkannt wurden. Wo war der Fundort? Er las den Artikel genau durch.

Zu Hause unterbreitete er seiner Familie einen überraschenden Vorschlag: »Packt Badesachen und Picknick ein! Wir machen uns einen schönen Tag am Strand und baden im ionischen Meer. Wir fahren nach Bova Marina.«

Lisabetta musterte ihn erstaunt.

Eine Stunde später saßen alle im Auto und genossen von der Küstenroute, die nach Reggio Calabria führte, den Panoramablick auf die Meeresstraße von Messina und Sizilien. Durch die geöffneten Fenster wehte ein sanfter Wind, der den Duft wild wachsender Kräuter und Blumen hereintrug. In Reggio lud er seine Familie an der Piazza Indipendenza zum Eisessen ein. Sie schlenderten am Meer entlang und schauten hinüber zum Ätna, über dessen zentralem Krater ein paar Rauchwölkchen schwebten.

Die Straße Richtung Taranto verlief parallel zum Meer. Sie führte durch unansehnliche Dörfer. Der Anblick grauer, ungepflegter, armseliger Hausfassaden vertiefte den Wunsch nach einem versöhnenden Badeplatz fernab der Siedlungen. Kurz vor dem Ziel verringerte die Straße ihren Abstand zum Mittelmeer auf wenige Hundert Meter.

Bova Marina – Antonio grübelte. War da nicht in letzter Zeit ein Gerücht im Paese im Umlauf, der Clan Stiletti versuche mit aller Macht, ein Milliardenprojekt für die Restaurierung der Bergsiedlung Bova Superiore zu akquirieren? Der Clan stand im Ruf, seine Ziele skrupellos durchzusetzen. Die Neris, deren Wurzeln im selben Dorf lagen, betrieben ebenfalls die Wiederauferstehung dieser pittoresken Siedlung mit der schmucken normannischen Burg, Wahrzeichen auf den kahlen Berggipfeln seit neunhundert Jahren. Das Bergdorf fügte sich in die Reihe verlassener, öder Siedlungen des Aspromonte ein, zurzeit nur von vereinsamten, armen Alten bewohnt. Restauriert wäre es eine Goldgrube für Tourismusgeschäfte und Immobilienspekulation der ’Ndrangheta – speziell für den Clan, der sich mit Hilfe von Gewalt durchsetzte.

Antonio setzte seine Familie am Strand ab, murmelte eine knappe Erklärung, die nach Spaziergang klang und verschwand.

Er kehrte zur Nationalstraße zurück und erkundigte sich bei einem Contandino, wo die Fundstelle zu finden sei. Die Angaben des Bauern waren präzise.

Wenig später stand er vor den Resten einer der ältesten Synagoge Kalabriens. Über seinem Kopf, in sechzig Meter Höhe, ragte die moderne Ruine am Ende der unvollendeten neuen Europastraße in den Himmel. Darunter lag das in Ansätzen freigelegte Fundament der archäologischen Anlage.

Antonio wurde von einem merkwürdigen, unbekannten Gefühl des Stolzes ergriffen. Bislang hatte ihn das Fieber der Identifikation mit jüdischer Kultur nie erfasst. Jetzt, im Angesicht einer Kultstätte, tausendsechshundert Jahre alt, überkam ihn das Gefühl, dazu zu gehören.

Das Räuspern hinter seinem Rücken weckte ihn aus den Tagträumen. Antonio drehte sich wie ertappt um und erblickte einen Fremden, der ihn aufmerksam betrachtete.

»Das ist eine tolle Entdeckung«, sagte der Unbekannte. »Wie schön, dass die Bauarbeiter so klug waren zu erkennen, dass hier unter der Erde etwas Besonderes versteckt lag. Darf ich mich vorstellen? David Moreau, Archäologe aus Paris.«

Antonio schaute erstaunt in das schmale, gebräunte Gesicht und betrachtete die hellblauen Augen, das markante Kinn, die lockigen aschblonden Haare. Schätzungsweise Ende dreißig. Sympathisch. »Freut mich«, erwiderte er und reichte seine Hand zum Gruß, »Prior der Karmelitergemeinde, eine knappe halbe Tagesreise entfernt, autodidaktischer Archäologe mit solider Vorbildung.«

»Karmeliter? Das ist interessant. In Frankreich haben wir einige Bruderschaften der Karmeliter. Stehen Sie in Verbindung zueinander?«

»Eher selten. Und wenn, dann auf den Pilgerreisen, die wir jedes Jahr organisieren. Da trifft man schon den einen oder anderen Ordensbruder.«

Sie schwiegen und wandten sich erneut dem Fundament der Synagoge zu. Die geometrischen Muster, deutlich erkennbar in den zwei großen freigelegten Räumen, ließen ein religiöses Motiv vermuten. Aber das war spekulativ, da die Vorarbeiten unzureichend waren.

»Wenn sich erweisen sollte, dass jüdische Symbole in den Quadraten versteckt sind, haben wir die Antwort«, sagte der Franzose.

Sie spazierten gemeinsam über das Terrain neben der Ausgrabungsstätte.

»Hier muss natürlich systematisch ausgegraben werden. Wer wird das machen? Das Denkmalschutzamt in Reggio?«

Antonio fragte sich, ob der Fremde eine Antwort von ihm erwartete. Er hatte keine Erfahrungen mit Ausgrabungen. Sein Wissen bezog er aus der Presse. »Seit zwei Jahren ist ein Ingenieurbüro damit beauftragt herauszufinden, worum es sich hier handelt. Vermutlich kommt nun die Sache auf den Schreibtisch der Verwaltung, die das Ganze prüfen und dann entscheiden wird, wie es weitergehen soll«, berichtete er steif.

»Ja, sicher. So wird es gehen«, stimmte der Archäologe gedankenvoll zu.

Sie wanderten ein Stück gemeinsam auf dem Areal. Bevor sie sich trennten, lud David Moreau Antonio zum Lunch ein und beschrieb in groben Zügen den Weg zu seinem Domizil. Das Fischerdorf, in dem der Franzose ein Haus gemietet hatte, lag unweit Antonios eigenen Dorfes.

Lisabetta – sie kampierte unter dem schattigen Platz des einzigen Maulbeerbaums am Strand – überraschte ihn nach der Rückkehr mit einer Frage: »Hast du die Synagoge gefunden?«

»Ja«, bestätigte Antonio erstaunt. Sie hatten nicht darüber gesprochen. »Woher weißt du?«

»Ich kann auch Zeitung lesen und eins und eins zusammenzählen«, erwiderte sie leichthin. »Was wohl der Vatikan dazu sagt?«

Diese ironische Frage traf Antonio wie ein Blitz aus heiterem Himmel. »Wieso der Vatikan?«

»Nun, es geht um etwas Heiliges aus der Konkurrenzfirma. Da wird doch der Vatikan oder irgendeine zuständige Kongregation sofort hellwach gerüttelt, vermute ich.«

Sie hat recht, überlegte Antonio. Der Vatikan wird eine Erklärung darüber abgeben, wie die Anlage historisch und religiös zu interpretieren ist. Vielleicht schicken sie einen Experten. Oder einen Beobachter.

Bella Calabria

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