Читать книгу Bella Calabria - Barbara Collet - Страница 7
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Die Prozession zu Ehren der Heiligen Maria vom Berg Karmel in diesem Jahr, 1985, rückte näher. Antonio, Prior der Bruderschaft des Karmeliterordens, parkte den Fiat auf dem Platz vor der Barockkirche und steuerte auf das Hauptportal zu. Schweiß lief ihm über die Stirn. Sein nasses Hemd klebte auf dem Rücken. Das gleißende Licht der Julisonne, reflektiert durch die weißen Marmorplatten des Vorplatzes, brannte in den Augen. Eine Meeresbrise streichelte sein Gesicht. Er drückte die Hand gegen das schwere Eingangsportal, das sich knarrend öffnete, und betrat das Mittelschiff der Kirche. Einen Moment genoss er die frische Luft, warf einen Blick auf den mit weißen Lilien reich geschmückten Altar. Aus der Sakristei drangen aufgeregte Stimmen. Neun Frauen, zur Verschwiegenheit verpflichtet, war der Zutritt zu dem gehüteten Geheimnis vergönnt: Die Madonna, dreihundertvierundfünfzig Tage umhüllt von einer Mönchskutte aus schwerem Baumwollstoff, wurde elf Sommertage lang zum Leben erweckt: Auf dem Podest stehend, von emsigen Händen menschengleich gestaltet, wandelte sie sich zum glänzenden Mittelpunkt der mehrtägigen Festlichkeiten ihres ehrfürchtigen Publikums. Die Attribute – in den Schatzkammern der Bruderschaft gehütet – bestanden aus einem goldenen Gürtel, passend zum Kleid aus kostbarem Stoff, einem goldbestickten Umhang, wallenden braunen Lockenhaaren, einer juwelenbesetzten Krone und dem Stoffskalupier um ihr Handgelenk. Das alles verwandelte sie in eine anbetungswürdige imposante Heilige. Ihr Kind hielt sie auf dem linken Arm. Die Finger der rechten Hand wie zur Segnung gespreizt, blickte dieses stoisch mit geneigtem Kopf herab – wie die Mutter. Der goldene Kopfschmuck, das Brokatkleid, das kunstvoll bestickte Kleinod um sein linkes Handgelenk ließen keinen Raum für Zweifel an der königlichen Herkunft. Das Skalupier – Zeichen ausgezeichneter Gläubiger, die vor mehr als achthundert Jahren die Verbrechen der christlichen Kreuzfahrer zum Anlass für einen asketischen Lebenswandel nahmen – versprach dem Träger Frieden, Gesundheit, Abwesenheit von Gefahr und den Tod ohne Angst.
Antonio betrachtete die nackte unscheinbare Figur, an der die Frauen inbrünstig arbeiteten. Warum waren Katholiken derart darauf bedacht, Bilder und Skulpturen zu berühren? Das war kindlich, einfältig. Als ob man zu Gott nicht ohne diesen Kitsch beten konnte. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. – Stand das nicht in der Bibel? Er lächelte in sich hinein. Jedes Jahr das gleiche Theater. Biedere Gläubige gerieten bei dem Anblick der sanften Madonna in Ekstase. Mit dieser ins Leere blickenden Heiligen, die aussah wie eine Königin, glaubten sie, Schutz vor der bedrohlichen Zukunft zu erlangen. Sie spenden Geld und sind in ihrer Nähe, wenn sie einmal im Jahr einen Spaziergang in die Öffentlichkeit unternimmt. Alle bewundern die Schönheit und wähnen sich in Sicherheit. Absurd. Er brauchte das nicht. Er war mit seinen Büchern nachts vereint. Unbemerkt. Solange man ihm wenigstens diese Erholung gönnte, war er bereit, die Aufgaben als Chef der Bruderschaft ernst zu nehmen.
Antonio sprach kurz mit den Frauen, die ihm ein Stück Gebäck anboten und ein Glas mit Wasser füllten. Sie berichteten von den Problemen der Vorbereitung und den Wächtern, die Neugierigen den Zutritt zur Sakristei verwehrten. Sein Sohn, zehn Jahre alt, war zum ersten Mal für die erste Nacht eingeteilt worden. Er habe die Wache klaglos überstanden. Antonio registrierte dieses Lob mit Genugtuung. Sein Sohn Orest schien wenig begabt. Er war ein gefräßiger dicker Junge, der für nichts zu begeistern war. In den Sommermonaten bevorzugte er das kühle Wohnzimmer und starrte stundenlang in die Kanäle privater Fernsehstationen. Antonio seufzte. Seine pubertierende Tochter Antonella, ebenfalls auf hilfsbedürftigem mentalen Niveau, brachte ihn auch zur Verzweiflung. Im Stillen hatte er die passende Erklärung für seine missratenen Kinder gefunden: Lisabetta. Die ausgebildete Grundschullehrerin, sie unterrichtete eine Dorfklasse in den Bergen, legte wenig Ehrgeiz bei der Erziehung seiner Kinder zu wissbegierigen Menschen an den Tag. Beim Anblick der Fachbücher, die regelmäßig aus Reggio und Catania angeliefert wurden, zeigte sie entweder höfliches Interesse mit verhaltenem Gähnen oder offene Verärgerung bei dem Gedanken an ihr vermindertes Haushaltsgeld. Nach zwanzig Ehejahren hörte sie immerhin auf, über seine elitäre Ausbildung bei den Jesuiten in Sizilien zu lästern. Sie verstand, dass der Graben zwischen ihnen weiter vertieft würde. Ihre in den Jahren angehäuften Minderwertigkeitsgefühle versuchte er in zärtlichen Nächten zu mildern. Seine Liebesbeweise genoss sie schweigend. Insgeheim gestand er sich ein, dass ihr Leben im Clan nicht sonderlich erfreulich war. Ihre bescheidene Behausung, der griesgrämige Vater, ein Despot, und seine ewig giftig dreinblickende Mutter gaben kein soziales Umfeld her, das zu Lebensfreude anregte.
Antonio wartete auf den Tod des Vaters. Dann, so hoffte er, nähme das Leben eine positive Wendung. Auf dem Mahagonischreibtisch des Verblichenen würde er seine Bücher ausbreiten und Studien über semitische Siedlungen in Südkalabrien betreiben. Fragte man ihn, warum er sich hier engagiere, fiel ihm keine plausible Antwort ein. Vielleicht störte ihn einfach die Selbstverständlichkeit, mit der die katholische Kirche ihre dominante Stellung im Lande beanspruchte. Offiziell begründete er jedoch sein Interesse mit der Schönheit und der kulturellen Vielfalt der Stadt Jerusalem. Er stieg in den Fiat Cinque und fuhr zu der Stätte seines Broterwerbs, der Tankstelle. Roberto erwartete ihn.