Читать книгу Bella Calabria - Barbara Collet - Страница 12

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Die Nachricht, eine neue Heilerin – von der Madonna unterstützt – helfe den Kranken, sprach sich im Paese in Windeseile herum. Domenicas Telefon klingelte im Minutentakt.

Am dreizehnten Juli begleitete Gianni seine Frau zum Treffen mit den Gläubigen. Voll besetzte Busse aus dem gesamten Kalabrien, sogar aus Rom, rollten den schmalen Weg zu der verabredeten Stelle neben der Bahnhofsstation hinab. Domenica begrüßte selbstbewusst lächelnd die Pilger.

Gianni suchte unter den Gesichtern der Anwesenden nach möglichen Störenfrieden. Beruhigt stellte er fest, dass keine Gefahr drohte. Die Carabinieri nahm er flüchtig zur Kenntnis. Woher wussten die schon wieder von der Prozession?, fragte er sich. Hatte Domenica Ordnungskräfte bestellt?

Die älteren Frauen trugen das Bild Padre Pios auf Transparenten. Wegen der Stigmata, die er vor den Augen der Öffentlichkeit versteckte, seiner Lebensweise in Armut und der Legenden, die um die Rettung Kranker rankten, erwarb er den Ruf eines Heiligen. Als er 1968 starb, hatte er so viele Anhänger wie selten jemand aus der Vatikanstadt. Hunderttausend drängten sich bei seiner Beerdigung. In abgelegensten Bergdörfern des Aspromonte errichtete man Kapellen mit einer täuschend echten Pio-Figur, zu der alte und junge Frauen zum Gebet pilgerten und sie mit Blumen schmückten. Den Wahrheitsgehalt der in den Medien gerühmten Wunder oder die Biografie des Kapuzinermönches in den Jahren der Herrschaft Mussolinis zu überprüfen, würde den Gläubigen angesichts der trostlosen Realität das Letzte nehmen, was ihnen verblieb: Hoffnung.

Domenica hielt die Madonnenfigur inbrünstig singend vor ihre Brust und führte den Zug, umgeben von Pio- Transparenten, an. Es schien, als begleite er seine Pilger, heute von einer Frau geleitet. Die Prozession bewegte sich langsam auf den Sandweg zu, der durch ein grünes Paradies voller uralter Aleppokiefern, Oleanderbüschen, Olivenbäumen, Mastixbüschen und hohen wildwuchernden Dornen und Gräsern führte. Links lagen die Villen verschiedener Reicher, in der Öffentlichkeit wegen ihrer schillernden Existenz bekannt, hinter schützenden Anlagen mit beweglichen Kameras. Auf protzigen Anwesen verlebten hier, Tür an Tür, ein stadtbekannter Mafiaanwalt und diverse christdemokratische Politiker ihre geruhsamen Wochenenden. Das Dunkelblau des Mittelmeers schimmerte durch die grünen Schutzwälle der Villen.

Der Menschenzug, versunken in die heutige Mission, schritt langsam den Sandweg hinauf. Gianni fragte sich im Stillen, ob alle Teilnehmer Leidende waren oder die Pilger seine Frau bereits als potenzielle Nachfolgerin Padre Pios anerkannt hatten. Unbehagen ergriff ihn.

Nach einer knappen Stunde erreichten die Gläubigen die Grotte Tràchina. Seit Archäologen Spuren aus der Bronzezeit fanden, war sie – zu Ruhm gekommen – Zeugnis einer prähistorischen Kultur. Ihr Eintritt lag dreißig Meter in steiler Höhe oberhalb des Weges. Dornenbüsche überwucherten den schmalen, kaum erkennbaren Zugang.

Domenica ließ sich nicht davon beeindrucken. Sie visierte ein geeignetes Stückchen Land oberhalb des Weges für die Zeremonie an und ermutigte einige Pilger, sie zu begleiten. Ein Bursche, den Gianni nie gesehen hatte, stellte einen Klapptisch auf. Die kleine Madonna aus Lourdes fand dort ihren Platz. Domenica füllte Wasser in den dekorativen Krug auf dem Tisch. Alle anderen setzten sich unten am Wegrand auf die Erde und verfolgten aufmerksam das Geschehen. Nacheinander erklommen Frauen das unwegsame Terrain bis zu Domenica, die Kopf, Oberkörper und Hände mit geschlossenen Augen abtastete und ihnen ein paar Sätze zuflüsterte. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck überließ die Ratsuchende der Nächsten den Platz. Während dieser kurzen Unterbrechungen goss der Junge Wasser über Domenicas Hände und reichte ihr anschließend ein Tuch. Der Krug erfuhr eine mythische Wandlung: Unter den Augen der andächtigen Zuschauer wurde er zum Lavabo für die rituelle Waschung. Die Priesterin vor ihrem Tempel. Unerwartet brachen die Sommergrillen ihr Konzert ab. Die Stille berührte die Seelen der Gläubigen und verlieh ihnen eine tiefe innere Ruhe und die Bestätigung, dass Hoffnung existierte.

Gianni stand abseits und betrachtete eingehend jeden Einzelnen. Er stutzte. Ein unscheinbarer Mann mittleren Alters mit unauffälligem Babygesicht in dunklem Anzug – für die Sommerhitze ungeeignet – an einem Baum lehnend, beobachtete mit ausdruckslosem Gesicht das Geschehen. Gianni verfolgte die Blickrichtung und realisierte, dass der Fremde jede Geste seiner Frau aufmerksam registrierte. – Wer war dieser Kerl?

Bella Calabria

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