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Abläufe sind wichtiger als Ergebnisse: Spitzenfotos sind Beifang

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»Übung macht den Meister«, lautet ein altes Sprichwort. Dies gilt nicht nur für künstlerisches Können wie das Zeichnen eines Hahns. Das gilt für alle Aktivitäten, die letztendlich zu außergewöhnlichen Ergebnissen führen.

Zurück zum japanischen Künstler: Alle früheren Skizzen, die er anfertigte, wurden von einem bestimmten Ablauf beherrscht. Sollten Sie glauben, dass dieser Ablauf nur darin besteht, immer wieder korrekte Linien flüssig zu Papier zu bringen, starren Sie blind auf die Ausführung und übersehen mindestens drei Viertel des kreativen Prozesses.

Der Künstler beginnt schon viel früher damit, Hähne zu beobachten. An vielen Morgen ist er dabei, wenn sie krähen, sich stolz strecken und bei jedem »Kikeriki« kleine Atemwolken ausstoßen. Er folgt den Kurven und dem Glanz jeder Schwanzfeder. Er vergleicht die Unterschiede ihrer markanten Kämme. Ihm fällt auf, wie die roten Hautlappen nach jeder heftigen Kopfbewegung noch nachvibrieren. Es entgeht ihm nicht, dass sich auf halber Höhe der Läufe elegante, nach hinten gebogene Sporen befinden.

Er spürt fast die Behutsamkeit, mit der ein Hahn bei jedem Schritt seine Zehenspitzen zuerst auf den Boden setzt. Während des Zuschauens wirft der Künstler kontinuierlich Kohleskizzen aufs Papier. Manchmal strichelt er grob, manchmal nimmt er sich die Zeit, Details auszuarbeiten. Er zeichnet zehn Hahnenköpfe mit verschiedenen Kammformen.



Fünf verschiedene Schwanzpartien und viele Posen. Während er skizziert und beobachtet, trifft er intuitiv Entscheidungen. Er bemerkt, dass keine zwei Hähne den gleichen Kamm haben. Welche Kammform spricht ihn am meisten an und warum? Zu Anfang dachte er, dass er den traditionellen roten Stehkamm mit seinen gleichmäßig verteilten aufrechten Spitzen bevorzugen würde. Doch allmählich findet er es viel faszinierender, wenn er ein unvorhersehbares Element im Kamm entdeckt. Der vordere Teil darf schlapp über den Schnabel fallen, entscheidet er. Das strahlt seine Ranghöhe aus.


Nach und nach entwickelt er Vorlieben für die Farben der Federn, die Haltung der Läufe, die Länge der Schwanzfedern, den Gesichtsausdruck des Hahns. Er meint, er dürfe ihn ein bisschen übertreiben. Schließlich hat der Künstler seinen Auftraggeber nicht vergessen: den mächtigen Kaiser. Ihm ist bewusst, dass von ihm ein Hahn erwartet wird, mit dem sich der Herrscher identifizieren kann.

Der Künstler hat sich selbst bereits ein Bild von den persönlichen Eigenschaften des Kaisers gemacht, die er durch die Zeichnung vom Hahn zum Ausdruck bringen will. Natürlich sollte es zumindest ein stolzer, imposanter Hahn sein, aber keine vorhersehbare Karikatur.


Glücklicherweise war der Künstler beim ersten, kurzen Kontakt mit dem Kaiser so klug gewesen, sehr genau hinzuschauen. Er bemerkte, dass der Kaiser zuerst zwar einen strengen und distanzierten Eindruck machte, gleichzeitig aber ein milder, gewinnender Ausdruck in seinem Blick lag. Also beschloss der Künstler, dass sein Hahn zugänglich und weise wirken sollte.

Deshalb beobachtete und zeichnete er auch stolze Soldaten und besuchte Dorfälteste, vor deren Weisheit man Hochachtung hatte. Er wollte einfach das Äußere der Eigenschaften erfassen, die ihn so faszinierten. Wie er diese Eigenschaften auf seinen Hahn projizieren würde, wusste er zu jenem Zeitpunkt noch nicht. Aber er wusste, dass alles gut werden würde.

Nicht einen Moment lang dachte der Künstler: Jetzt stecke ich gerade in einem Prozess. Er folgte intuitiv seinem Gefühl und tat, was er für richtig hielt. Wenn wir die Geschichte jedoch noch einmal auf einer abstrakteren Ebene analysieren, gibt es eindeutig einen Ablauf mit unterschiedlichen Elementen.

Zunächst einmal gibt es eine Orientierungsphase mit einem Forschungsschwerpunkt, wobei man sich nicht um das Endergebnis sorgt. Parallel dazu läuft die Phase der Ideenentwicklung, in der eine Idee vom Endergebnis Gestalt annimmt. Schließlich gibt es ein permanent präsentes Gestaltungselement, bei dem die Aktivitäten auf die Ausführung, Gestaltung und Verfeinerung des Endergebnisses ausgerichtet sind.

In all diesen Phasen findet eine Dokumentation in Form von vielen Skizzen und Zeichnungen statt. Da sich der Künstler (zusätzlich zu seinem bereits vorhandenen Talent und Erfahrungsschatz) so intensiv damit beschäftigte, erreichte er ein solch hohes Kompetenzniveau, dass er den Hahn im entscheidenden Moment perfekt zeichnen konnte.


Damit sind wir beim Kerngedanken dieses Buchs angelangt: Es gibt so etwas wie einen kreativen Prozess. Und gerade die nüchterne Erkenntnis dieser Tatsache wird einen gewaltigen Unterschied machen, weil sie Ihnen erlaubt, alles, was Sie als Fotograf tun, in einen größeren Kontext einzuordnen. Das hilft Ihnen, Ihre kreative Entwicklung in den Griff zu bekommen.

Obwohl der kreative Prozess grundsätzlich für alle künstlerischen Disziplinen gilt, schreibe ich ihn in erster Linie für die schnell steigende Zahl von (Natur-)Fotografen, die nach mehr Tiefe suchen und ihren eigenen Stil entwickeln wollen. Warum gerade für Naturfotografen? Erstens, weil ich selbst die Natur fotografiere. Und zweitens, weil die Naturfotografie eine Kategorie für sich ist, weit entfernt von anderen visuellen Disziplinen. Denn die Naturfotografie ist nicht in einer visuellen Tradition verwurzelt wie beispielsweise die Malerei.


Schließlich waren die ersten Naturfotografen von Haus aus keine Fotografen, sondern Biologen und Forscher. Diese Menschen arbeiteten mit einer sachorientierten Leidenschaft für ihr Thema. Zu den Pionieren der Naturfotografie gehören die Brüder Richard und Cherry Kearton, die 1897 mit ihrem Buch »With Nature and a Camera« für Furore sorgten. Sie enthüllten ihre Methoden und selbst erfundenen Techniken, mit denen sie sich Wildtieren näherten. Daraus entstanden Fotos, die damals niemand für möglich gehalten hatte. Das Buch war so erfolgreich, dass nach gut einem Jahr schon die dritte Auflage erschien.

Die Naturfotografen waren für ihr Durchhaltevermögen bekannt, weil sie beispielsweise stundenlang bei rauem Wetter in einer Schutzhütte ausharrten, nur um diesen einen Moment einzufangen. Außerdem waren sie bekanntermaßen bereit, viel Zeit zu opfern, sich viel Wissen anzueignen und viel Geld in schwere Stative mit Teleobjektiven zu investieren.

Letztere Investition hatte damit zu tun, dass sich die klassischen Naturfotografen vor allem auf Vögel und Säugetiere konzentrierten, die man naturgemäß nicht so leicht direkt vor die Linse bekam. Diese Fotografen wurden eher von dem Bedürfnis nach Registrierung getrieben. Spezifische Bildmerkmale wie Farbe, Rhythmus, Form, Konzept oder Komposition spielten kaum eine Rolle. Das erklärt vielleicht, warum die Naturfotografie trotz der digitalen Revolution immer noch stark wissens- und motivorientiert ist. Nachbearbeitung war lange Zeit ein Tabu, und selbst jetzt beschränkt sie sich meist auf die Optimierung des Motivs.


Die ersten Naturfotografen waren keine Künstler, sondern Naturforscher, wie diese Bilder aus dem Buch »With Nature and a Camera« (1897) der Gebrüder Kearton belegen.

Daran gibt es natürlich nichts auszusetzen. Es wird lediglich deutlich, dass die Naturfotografie, anders als beispielsweise die Mode- oder Werbefotografie, nicht in einer visuellen Tradition verwurzelt ist.

Die Aufmerksamkeit für das Bild ist noch nicht so alt. Obwohl in diesem Bereich immer ausgiebiger experimentiert wird, bleibt das Motiv oft der Ausgangspunkt. Das Streben nach einem maximalen ästhetischen Wert wird in der Regel als das Endziel angesehen.

Momentan findet jedoch ein Umdenken bei immer mehr Naturfotografen statt, und sie erkennen, dass schöne Fotos von schönen Motiven sich auf Dauer nicht von der Masse abheben. Vor allem dann nicht, wenn viele Fotografen die gleiche Art von Bildern an den gleichen Orten machen. Früher oder später wächst bei jedem Naturfotografen das Bedürfnis nach größerer Individualität.

Eine neuer Trend zeichnet sich bereits ab: die Verlagerung vom Bild zum Erlebnis. Das Motiv ist nicht verschwunden, aber das Foto wird stärker, wenn es sinnvoll erlebt werden kann. Diese Art der Argumentation ist Naturfotografen wahrscheinlich weniger vertraut.

Wir können Folgendes festhalten: Der Weg zur Einzigartigkeit liegt nicht darin, noch besseres Equipment anzuschaffen, mit noch mehr Techniken zu jonglieren oder noch mehr Fotolocations abzuhaken. Der Weg, den wir diesmal suchen, führt nach innen, zu uns selbst.

Was Sie dafür benötigen, sind vor allem Erkenntnisse, nicht nur über sich selbst, sondern vor allem darüber, wie ein kreativer Prozess abläuft. Schlüsselkomponente dabei ist die Reflexionsfähigkeit, und dafür braucht man einen bestimmten Diskurs. All dies finden Sie in diesem Buch.

Kreativ sein als Naturfotograf*in

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