Читать книгу Kreativ sein als Naturfotograf*in - Bart Siebelink - Страница 20

Geschmack ist ein korrupter Gradmesser

Оглавление

Wie oft hört man »Ich finde es schön« oder »nicht schön«, wenn Menschen über ein Foto sprechen? Sie lassen sich dann von ihrem persönlichen Geschmack leiten. Wenn die Geschmäcker unterschiedlich sind, gerät man in eine Sackgasse, und um die Stimmung nicht zu trüben, wird die Diskussion mit der Plattitüde »Über Geschmack lässt sich nicht streiten« abgewürgt.

Bleiben Fotobesprechungen für Ihren Geschmack zu oft auf diesem Niveau stecken? Dann haben Sie die falschen Gesprächspartner, was auf Dauer frustrierend ist. Sie bekommen schließlich kein befriedigendes Feedback, und solange man nicht weiß, wie man aus der Geschmacksfalle herauskommt, wird sich diese Frustration endlos wiederholen.

Natürlich ist ein persönlicher Geschmack völlig legitim. Ihren Geschmack brauchen Sie, um in fast jedem Bereich Entscheidungen zu treffen. Spontan denkt man dabei an Kleidung, Frisur, Wohnungseinrichtung, Partner, Auto, Schreibtisch und so weiter. Daher ist die Entwicklung eines Geschmacks nicht problematisch, sondern zwei andere Sachen, die zu Unrecht stark damit assoziiert werden.

Das erste ist die Art und Weise, wie Sie mit Ihrem eigenen Geschmack umgehen. Die Schlüsselfrage, die Sie sich stellen müssen, lautet: Haben Sie Ihren Geschmack oder sind Sie Ihr Geschmack? Die meisten Menschen betrachten ihren Geschmack als einen festen Wert, auf den sie blind vertrauen, weil er immer mit einem angenehmen Gefühl belohnt wird. Und warum sollte man gegen seine Gefühle handeln? Das sorgt nur für Unbehagen. Oder nicht? Wie oft hören Sie: »Folge deinem Gefühl«? Geschmack ist daher für viele ein absoluter Kompass. Klingt logisch, nicht wahr?

Dieses Schema zeigt (mit einem Augenzwinkern), dass Geschmack kein konstantes Merkmal ist, sondern sich pro Lebensabschnitt entwickelt und im Laufe der Jahre immer individueller wird.


Diese Übersicht bietet Ihnen Anhaltspunkte, wenn Sie Fotos mit den Phasen der Geschmacksentwicklung verknüpfen möchten. Disclaimer: Sie dient der Veranschaulichung und soll die Unterschiede (in loser Folge) benennen. Ohne Werturteil, denn eine Phase ist nicht schlechter oder besser als die andere, höchstens mehr oder weniger kompliziert.

Dennoch ist etwas grundfalsch, wenn man nur nach dem Geschmack geht. Dieser ist nämlich tatsächlich ein korrupter Indikator, weil er beeinflussbar ist. Geschmack ist wie ein kleines Kind. Er wächst, entwickelt und formt sich. Warum sollte man dann nicht seinen eigenen Geschmack erziehen, wie wir es mit Kindern tun?

Denken Sie an Ihre eigene Kindheit zurück. Welchen Geschmack hatten Sie damals? In der Wiege kennen wir nur einen Geschmack: den der Muttermilch. Nennen wir diese Phase die Milchphase. Diese Phase ist biologisch erklärbar. Die Muttermilch enthält alles, was der Babykörper benötigt. Nach dem Säuglingsalter vertragen viele Menschen Milch nicht mehr gut. Aber keine Sorge, an ihre Stelle tritt etwas anderes: Süßigkeiten wie Schokolade, Zuckerstangen, Bonbons. Nennen wir das doch die Süßigkeitenphase. Geschmacklich handelt es sich um eine unkomplizierte, vorhersehbare Phase mit einfachen Bewertungskriterien: Wenn es gut tut und süß schmeckt, ist es gut. Der biologische Hintergrund dieser Phase ist allseits bekannt. Leicht verdauliche Zuckerarten, insbesondere Glukose, geben schnell Energie und fördern das Wachstum – genau das, was ein junger Körper braucht. In der Natur gibt es die natürliche Fruchtsüße in Obst. Leuchtende Farben wie Gelb, Rot oder Orange zeigen den Reifegrad der Früchte an. Die Süßwarenhersteller reagieren auf diesen im Laufe der Evolution herausgebildeten Stimulus, indem sie ihre Produkte mit reichlich Farbstoffen einfärben.


Milchphase: All die typischen Schnappschüsse, die Menschen (auch Nicht-Fotografen) am laufenden Band machen, ohne sich um Lichteinfall, Flächenaufteilung, Komposition oder andere fotografische Ambitionen zu kümmern. Sehr oft versteht nur der Macher das Bild, weil er weiß, was darauf ist und weil er eine Erinnerung an diesen Moment hat.


Süßigkeitenphase: Dieses Porträt einer Gottesanbeterin wird vielen Betrachtern gefallen: zugängliches Thema, sichere Komposition, süße Farben, weiche Kontraste und nur eine Bedeutungsebene. Die Ästhetik spielt eine entscheidende Rolle. Nikon D810, 105 mm mit 2-fach-Konverter, 1/250 s, Blende 10, ISO 320, -0,3 EV, Stativ

Mit dem Erwachsenwerden entwickelt sich auch der Geschmack. Und so bricht eine Zeit an, in der viele Menschen anfangen, beispielsweise Bier lecker zu finden. Kein Kind mag Bier, aber das ändert sich oft ganz entscheidend um das 18. Lebensjahr herum, und die Bierphase bricht an. Zugegeben, nicht jeder wird zum Biertrinker. Darauf will ich jedoch auch gar nicht hinaus. Die Hauptsache ist hier, dass sich der Geschmack ändert. Ersetzen Sie das Wort Bier durch modische Kleidung, Frisur oder Einrichtung, und Sie werden sehen, dass sich der Geschmack in jeder Lebensphase ändert.

Es gibt auch eine (bio-)soziologische Erklärung für die Bierphase. Diese Periode reflektiert die Lebensphase der Identitätsbildung. Es ist eine turbulente Zeit, in der die Gruppenidentität von Gleichgesinnten eine entscheidende Rolle spielt.

Dies drückt sich unter anderem in der Kleidung und im Musikgeschmack aus. Die Beurteilungskriterien für diese Phase sind vielschichtiger und vielfältiger als in den vorangegangenen Phasen.

Der Geschmack entwickelt sich auch im Erwachsenenalter weiter. Schließlich entsteht eine individuelle Identität, die sich in persönlichen Entscheidungen in den Bereichen Kleidung, Einrichtung und Lebensstil ausdrückt. Um bei der Metapher der Getränkevorliebe zu bleiben, könnte man von der Weinphase sprechen. Wein mit seiner unglaublichen Vielfalt und geballten kulturellen Tradition ist eine Wissenschaft für sich. Der Geschmack ist alles andere als eindeutig und selten direkt gefällig.

Die Eigenart steht im Mittelpunkt und wird zelebriert, was zu Snobismus und Elitedenken führen kann. Zuweilen wird behauptet, dass man lernen muss, Wein (oder eine bestimmte Kunstrichtung oder bestimmte Musik usw.) zu schätzen. Die Beurteilungskriterien für Wein sind so komplex, dass es dafür Kurse und Workshops gibt. Mit dem Begriff »Kenner« ist auch ein gewisser Status verbunden. Was lernen wir daraus? Geschmack ist kein absoluter Gradmesser, Geschmack ändert sich. Und der gesamte Prozess der Geschmacksentwicklung kann von außen beeinflusst, sozusagen korrumpiert werden. Fast alle Produkte, an denen man seinen eigenen Geschmack zu erkennen glaubt, werden von Industrie und Marketing vorgekaut. Ebenfalls einen großen Einfluss haben soziologische Prozesse wie Statusdenken und Gruppenverhalten. Ein weiterer Grund also für die Disqualifizierung des Geschmacks als ultimativem Gradmesser. Schauen Sie sich die Fotos aus Ihren Anfangstagen an oder erinnern Sie sich an Ihren früheren Kleidungsstil, dann verstehen Sie, was ich meine.

Geschmack kann korrupt sein, aber natürlich verschwindet er nicht, und Sie werden weiterhin immer etwas schön oder hässlich finden. Auch bei der Beurteilung von Fotos spielt Ihr Geschmack eine Rolle. Aber von jetzt an können Sie das relativieren. Geschmack sollte niemals das einzige Kriterium sein. In diesem Buch werden Sie viele andere Kriterien kennenlernen, die es Ihnen ermöglichen, Fotos zu schätzen, auch wenn sie Ihnen nicht gefallen.


Bierphase: Dieses Bild ist für den fortgeschrittenen Betrachter. Motivwahl und Bildaufbau sind etwas weniger offensichtlich. Die Komposition ist komplex, und es gibt mehrere Schichten. Nikon D810, 210 mm, 1/20 s, Blende 16, ISO 100, Stativ


Weinphase: Dieses Bild wird nicht jedermanns Geschmack treffen. Keine gefälligen Farben und kein kuscheliges Motiv, aber schon eine grafische Qualität. Was Sie sehen, ist eine »Flotte« schiffbrüchiger, toter Segelquallen. Das sind etwa fünf Zentimeter lange, kolonienbildende Nesseltierchen, die mit Hilfe einer Art Segel auf ihrem Rücken vom Wind über die Ozeane getrieben werden. Auf dem Meeresspiegel treibend stehen sie hier kurz davor, an der korsischen Felsküste zu stranden. Nikon D810, 500 mm, 1/500 s, Blende 10, ISO 500, Stativ

Es gibt einen zweiten Grund, sich eingehender mit dem Faktor Geschmack zu beschäftigen: die Klickrate (Beliebtheit). Vielleicht kennen Sie dieses tolle Gefühl der Anerkennung für Ihre Fotos, zum Beispiel durch Likes auf Facebook oder Instagram, oder wenn eines Ihrer Fotos bei einem Wettbewerb gewinnt oder veröffentlicht wird. Dieser Stolz ist berechtigt, weil man als Fotograf Wertschätzung braucht.

Aber um weiterzukommen, werden Sie dieses Bedürfnis nach Anerkennung, genau wie Ihren Geschmack, vorübergehend aufgeben müssen.

Um das zu verstehen, sollten Sie auf die linke Koordinate im Diagramm auf Seite 16 achten. Dort sehen Sie die Anzahl der Gleichgesinnten pro Phase. Diese Zahl sinkt, wenn man sich vom allgemeinen Geschmack des Publikums entfernt.

Man kann schon behaupten, dass alle Babys Milch lieben. Die Zahl der Gleichgesinnten in dieser ersten Milchphase beträgt fast hundert Prozent. In der Süßigkeitenphase haben Sie sicherlich auch drei Viertel der Bevölkerung auf Ihrer Seite. Aber in der Bierphase verhält sich das wirklich anders. Fragen Sie eine große Gruppe von Erwachsenen, wer von ihnen Bier mag, und höchstens die Hälfte von ihnen wird die Hand heben. In der Weinphase haben Sie noch weniger Anhänger. Das ergibt Sinn, denn Ihr Weg wird individueller. Vorerst wird es mehr Suchen als Finden sein. Sie werden experimentieren und per Definition von den allgemeinen Standards abweichen. Sie müssen also nicht mit der unmittelbaren Wertschätzung durch ein großes Publikum rechnen. Das ist logisch, denn Sie entfernen sich vom Publikumsgeschmack. Übrigens ist dies oft nur vorübergehend, denn auch der Geschmack der Massen entwickelt sich ständig weiter. Deshalb könnte alles, was heute noch von einigen als geniales, innovatives Foto angesehen wird, morgen schon ein Trend und übermorgen Mainstream sein. Aber denken Sie daran: Wenn Sie der Masse einen Schritt voraus sind, dürfen Sie nicht mit allzu viel Beifall rechnen.


Nicht jedem wird dieses Bild gefallen. Aber ich fühle, dass es bei mir etwas bewirkt. Es ist düster, geheimnisvoll, introvertiert. Was sehen wir? Eine Blüte, einen Oktopus, eine Frauenfigur? Das Bild drückt eher eine bestimmte Stimmung aus als ein Motiv. Das Foto bietet daher einen symbolischen Einblick in meine innere Welt. Nikon D810, 105 mm, 2 s, Blende 20, ISO 400, -3 EV, Stativ

Deshalb lautet mein Rat, solange Sie noch auf der Suche sind: Likes sollten Ihnen schnuppe sein. Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn Ihre experimentellen Fotos wenig Resonanz finden. Im Gegenteil: Ich rate Ihnen sogar davon ab, Fotos, an denen Sie noch Zweifel haben, einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen. Sie werfen sich damit den Wölfen zum Fraß vor, und das kann Ihrer Suche sogar schaden. Der ehemalige Chefredakteur der niederländischen Ausgabe von National Geographic, Aart Aarsbergen, kritisierte in seinem Abschiedsinterview die Rolle der Plattformen: »Social Media wie Instagram sind tödlich für die Originalität in der Fotografie. Ein subtiles Bild geht dort völlig unter. Es muss alles grandios und schrill sein, um aufzufallen. Instagram führt zu kreativer Verarmung und fotografischem Konformismus.« Das ist auch meine Meinung.

Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl sollten nicht von der Bestätigung durch andere abhängen. Einer der wichtigsten Maßstäbe für Professionalität ist Ihre Kritikempfindlichkeit. Mit wachsendem (fotografischem) Selbstvertrauen lernt man, zunehmend konstruktiv damit umzugehen. Wo der Amateur sehr sensibel auf jede Art von Feedback reagieren kann, das kein Schulterklopfen ist, sieht der Profi darin eine Chance zur Weiterentwicklung.

Kreativ sein als Naturfotograf*in

Подняться наверх