Читать книгу Justus - Beatrice Lamshöft - Страница 10
Fünf Jahre später, 16. November 1987
ОглавлениеEr konnte nicht mehr schlucken, nicht mal seinen eigenen Speichel, und sein Hals brannte, als hätte er von Angelinas Tomatensoße speciale, gegessen, die sie nur ein einziges Mal zubereitet hatte, weil sie damit, wie der Großvater gesagt hatte, weil sie damit um ein Haar die ganze Familie umgebracht hätte, so scharf war sie gewesen.
Angelina hatte ihm eine kleine Metallschüssel gebracht, in die er nun alle paar Minuten hineinspuckte. Der Speichel zog lange Fäden, er war klebrig wie Tapetenkleister, und er hatte Mühe, seinen Kopf so weit hochzuhalten, dass er beim Spucken nicht ständig sein Kinn besabberte.
Es war acht Uhr morgens. Die Nacht war die Hölle gewesen, er hatte kaum ein Auge zugemacht. Angelina und Tante Cordula hatten abwechselnd bei ihm Wache gehalten und das Fieber kontrolliert, das gegen Mitternacht vierzig Grad erreicht hatte. Daraufhin wurde entschieden, ihm ein dickes Zäpfchen in den Po zu schieben, was er unter anderen Umständen wohl strikt verweigert hätte. Wegen der schrecklichen Schmerzen ließ er die unangenehme Prozedur jedoch kommentarlos über sich ergehen, als wäre er Gustav, der Rauhaardackel seines Großvaters. Der hasste nichts so sehr, wie gebadet zu werden. Sobald irgendwo das Rauschen von Wasser zu hören war, nahm er Reißaus. Hatte man ihn jedoch rechtzeitig geschnappt und in die Wanne gesetzt, erduldete er das Einseifen und Abbrausen widerstandslos wie ein braves Opferlamm, wobei er einen mit gesenktem Kopf und großen traurigen Augen ansah, als wollte er sagen: Da, schau mich an, du hast meinen Stolz gebrochen und mein Herz sowieso, aber wen interessiert das schon, ich bin ja nur ein kleiner Hund!
War es Tante Cordula gewesen, die ihm das Ding verpasst hatte, oder Angelina? Er konnte sich einfach nicht erinnern, aber er hoffte inständig, dass es seine Tante war.
Angelina … Sie hatte ungefähr ein Jahr zuvor ihre Stellung als Köchin angetreten, nachdem Inge in den wohlverdienten Ruhestand gegangen und zu ihrer Schwester nach Augsburg gezogen war. Nun wohnte sie in der kleinen Einliegerwohnung im Ostflügel des Gutshofes. Sie war so vollkommen anders als Inge, jung, schlank und sehr gut aussehend, eine rassige Italienerin. So hatte der Großvater sie genannt. Sie war Sizilianerin, hatte Temperament, und wenn sie lachte, zog sie ihre Nase kraus, was Justus besonders an ihr mochte. Auch die Gerichte, die sie zubereitete, schmeckten ganz anders als die von Inge, der grundsoliden Inge, die immer gesunde und deftige Hausmannskost zubereitet hatte, was sonst. Angelina koche italienisch und mit Pep, sagte der Großvater stets, wenn mal wieder ein Gericht serviert wurde, das er noch nicht kannte.
Warum hatte er sie eingestellt? Er liebte das Alte und Bewährte, hielt viel auf Traditionen, auf Anstand und Ordnung, alte deutsche Tugenden. Und dann diese Italienerin.
Je oller, je doller, hatte Tante Cordula bemerkt, nachdem ihr Angelina vorgestellt worden war. Was meinte sie nur damit? Etwa, dass der Großvater in Angelina verliebt war? Das war doch lächerlich! Angelina war vierundzwanzig und der Großvater schon irgendwas mit sechzig. Auch würde er nie wieder eine Frau so lieben, wie er Großmutter geliebt hatte, das sagte er immer wieder, wenn er ihr Ölgemälde betrachtete.
Justus drehte den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen. Es war ein übler Novembertag, nass und neblig, wie man es von diesem Monat kaum anders erwarten konnte. In der Schule, er war in der ersten Klasse des Gymnasiums, in der Schule schrieben sie jetzt eine Mathearbeit. Er würde sie verpassen, würde nicht nach der Stunde seine Ergebnisse mit denen der anderen Schüler vergleichen, die darauf brannten, zu erfahren, was er rausbekommen hatte, weil er der Mathecrack war. Das war schon was, der Mathecrack zu sein. Er lächelte, und für einen kurzen Moment vergaß er das Brennen in seinem Hals.
Klack, klack, klack machte es im Treppenhaus. Das war Angelina, die stets Schuhe mit Absätzen trug, obwohl Tante Cordula sie schon oft genug ermahnt hatte, es sein zu lassen, weil es ungesund sei und laut zudem. Aber in diesem Haus zählte das Wort der Männer, und die weigerten sich, Angelina das Absatzklackern zu verbieten. Klack, klack, klack, die Schritte kamen näher, dazu die murmelnden Stimmen vom Großvater und von Dr. Severin, dem Hausarzt der Familie.
Klack, klack, klack – deshalb hatte der Großvater Angelina eingestellt. Dieses Geräusch, es klang auf einmal so vertraut. Es waren Mamas Schuhe, die so geklungen hatten. Sie war klein gewesen wie Angelina und hatte deshalb immer diese hochhackigen Pumps getragen. Er wusste es, Inge hatte es ihm erzählt, und er hatte auf Fotos gesehen, dass es stimmte, und jetzt, da er Angelinas Schritte bewusst wahrnahm, war ihm, als erinnerte er sich ganz deutlich an das Klacken der Schuhe seiner Mutter auf den Flurfliesen. Oh, wie er hoffte, dass es nicht Angelina gewesen war, die ihm das Zäpfchen in den Po geschoben hatte.
Dr. Severin öffnete die Tür, die bereits einen Spaltbreit offen gestanden hatte. Er trug ein langes Metallgestell in seiner linken Hand, das er neben dem Bett abstellte, während er seinen Patienten mit aufmerksamem Blick musterte.
„Guten Morgen Justus! Na, du hast uns ja letzte Nacht ganz schön auf Trab gehalten!“ Er lächelte und nickte aufmunternd, als wollte er sogleich signalisieren, dass er es ihm nicht übel nahm. War Dr. Severin bei ihm gewesen? Er konnte sich nicht daran erinnern, ihn gesehen zu haben. „So, jetzt muss ich dich noch mal ein bisschen piesacken!“
Angelina, die die Tasche des Arztes getragen hatte, und der Großvater stellten sich ans Fußende. Der Großvater hielt das alte Familienalbum unter seinem rechten Arm, das mit den vielen Schwarz-Weiß-Fotos von früher, als es noch keine Spielzeugfirma gegeben hatte, als die Zimmermanns einen großen Bauernhof gehabt hatten und der Großvater ein kleiner Junge gewesen war. Wenn er mit dem alten Album ankam, dann musste das etwas bedeuten.
Eine dumpfe Ahnung beschlich Justus, so wie wenn er seine Vokabeln schlecht gelernt hatte und sein Englischlehrer mit mürrischem Gesicht hereinkam. Mit neunzigprozentiger Sicherheit hieß es dann, Hefte raus, Vokabeltest. Es kribbelte in seinen Beinen, und er zog die Knie an.
Mit einer raschen Bewegung nahm Angelina ihm die Spuckschale weg und wischte ihm unwirsch mit einem feuchten Tuch übers Gesicht. Sie sah blass aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen.
„Sachte, sachte, junge Frau!“, ermahnte der Arzt sie.
Er war ein älterer Herr mit gutmütigen Augen und einem verschmitzten Lächeln. Immer trug er diesen dunkelblauen Wollanzug und darunter einen dünnen cremefarbenen Rollkragenpullover. Alles in allem hätte er wohl wie ein sehr unscheinbarer Mann gewirkt, wäre da nicht sein Rasierwasser gewesen. Es roch ganz intensiv nach Wald, nach Tannengrün. Dr. Severin sei ein Wald- und Wiesendoktor, sagte der Großvater immer. Einer vom alten Schlag, kernig und geraderaus, mit dem Herzen am rechten Fleck. Es war logisch, dass sein Rasierwasser nach Tannengrün duftete, wie sonst hätte es riechen sollen?
Dr. Severins Bewegungen waren langsam und bedächtig, wie die eines großen alten Elefanten, den nichts erschrecken konnte. Das beruhigte Justus, mehr oder weniger. Zumindest aber verhinderte es, dass er in Panik geriet.
Der Großvater trug seine dicke Strickjacke mit Zopfmuster, deren grauer Farbton exakt zu dem seines Vollbarts passte. Sie ließ den kleinen runden Bauch gemütlich aussehen. Offenbar plante er, an diesem Tag nicht in die Firma zu gehen. Stattdessen hielt er Justus nun das dicke Fotoalbum mit seinem braunen schweren Ledereinband hin, wobei er aufmunternd nickte.
„Die schauen wir uns dann gleich zusammen an. Danach, gell, Justus? Bist ein tapferer Bub, ein echter Zimmermann!“
Also war es so. Dr. Severin würde nun irgendetwas Fieses mit ihm anstellen, das bestimmt höllisch wehtat, und quasi als Belohnung dafür, dass er sich nicht anstellte, nicht heulte wie ein Mädchen, als Belohnung dafür hatte der Großvater sich freigenommen und würde mit ihm die alten Fotos anschauen.
Er nahm das schwere Album und umklammerte es – seine Urgroßeltern, Urgroßtanten und -onkel, seine Großeltern, seinen armen Großonkel Albrecht, an dessen schreckliches Schicksal er nun wieder denken musste, seine Eltern und Tante Cordula, all die Menschen, die er kannte, und auch die, die er nicht kannte, die aber auf den Fotos abgebildet waren und irgendetwas mit seiner Familie zu tun gehabt hatten, entfernte Verwandte, Gesinde, die ersten Angestellten –, er drückte sie alle an sich, hielt sich an ihnen fest wie ein Matrose, der den Mast seines Schiffes umklammerte, das unversehens in Seenot geraten war. Er würde nicht untergehen, und wenn doch, dann mit dem ganzen Schiff, mit Mann und Maus und Kind und Kegel, wie der Großvater zu sagen pflegte.
Er kniff die Augen zusammen und sperrte den Mund weit auf, roch Dr. Severins Tannennadelrasierwasser, als dieser sich zu ihm herunterbeugte, doch statt des befürchteten Schmerzes spürte er nur etwas Kühles in seinem Hals. Pfft, pfft hatte es gemacht. Er öffnete die Augen. Der Arzt hatte ihm eine Flüssigkeit in den Rachen gesprüht. Sie roch nach Zahnarzt.
„Das ist mein Zauberfläschchen“, sagte er und zeigte auf eine kleine weiße Plastikflasche. „Jetzt warten wir ein paar Minuten, und dann spürst du gleich gar nichts.“
Dr. Severin bekräftigte seine Worte, indem er ihm wie einem kleinen Jungen die Wange tätschelte. Justus' Augen suchten Angelina, aber mit Erleichterung stellte er fest, dass sie den Raum verlassen hatte. Es war ihm peinlich, wie ein Kleinkind getätschelt zu werden.
Dr. Severin holte eine Infusionsnadel aus seiner Arzttasche, die er ihm in den Handrücken lege und nicht in den Arm, damit er mehr Bewegungsfreiheit habe und nicht steif wie ein Stock liegen müsse, wie er sagte. An das Gestell, das er mitgebracht hatte, hängte er einen Beutel mit einem Medikament. Dann schaute er noch mal kurz in seinen Hals und grunzte ein paar unverständliche Worte.
Angelina kam herein und schob ihm die Spuckschale zurück unters Kinn. Sie hatte sie im Bad gesäubert. Der Arzt indes holte eine dicke Spritze aus dem Koffer, bei deren Anblick Justus sogleich weiche Knie bekam. Aber er war ja ein Zimmermann, und er hatte seine ganze Sippe bei sich, die schwer auf seiner Brust lag, seine Familie, an der er sich festklammern konnte. Und sowieso, sein Hals war betäubt, was konnte schon geschehen?
„So mein Kleiner, bist ein tapferer Junge, jetzt machst du wieder die Augen zu und den Mund weit auf, wie du’s gerade gemacht hast, ja?“
Er gehorchte. Er war sich sicher, je weiter er den Mund aufriss, desto schneller würde die Prozedur vorbei sein. Und tatsächlich, er spürte lediglich einen kleinen Piks im Hals, sonst nichts. Überrascht öffnete er die Augen.
Dr. Severin hatte mit der Spritze in die entzündete Mandel gestochen und etwas Flüssigkeit aus ihr herausgesogen. Nun betrachtete er sie und nickte.
„Wie ich gesagt habe. Ich werde den Abszess jetzt spalten, dann hat der Junge gleich Erleichterung. Brauchst keine Angst zu haben, Justus! Rutsch mal ein bisschen höher mit dem Po und lehn dich an, dass du gleich besser spucken kannst. So, noch ein Kissen hinter den Kopf. Hier, die Schale musst du jetzt festhalten, oder …“ Der Arzt schaute Angelina an, die sogleich einen Schritt zurückwich. „Ach, wenn Sie so nett wären, junge Frau, setzen Sie sich doch gerade auf die andere Seite, und halten Sie die Schale, dann muss der Junge es nicht selbst tun.
Angelina seufzte. Warum muss ausgerechnet sie es tun?, schoss es ihm durch den Kopf. Warum nicht Tante Cordula oder der Großvater? Seinen Vater zog er nicht in Betracht. Es wäre völlig undenkbar gewesen, ihm so etwas zuzumuten. Er ekelte sich ja schon davor, Hunde zu streicheln, weil er sie für unsauber und bakterienverseucht hielt, was er im Übrigen von allen anderen Tieren ebenso dachte.
Angelina hielt die Schale, und er riss den Mund auf. Spalten, dachte er. O Gott, was bedeutet denn spalten? Als er das Skalpell in der Hand des Arztes sah, wusste er es.
Sein Herz klopfte so stark, dass er sein Blut in den Ohren rauschen hörte. Er atmete schnell, seine Knie zitterten, aber Dr. Severin versuchte gar nicht erst, ihn zu beruhigen. Vermutlich wollte er die Sache jetzt, da alles vorbereitet war, ganz schnell über die Bühne bringen.
Justus schwitzte. Er wollte die Augen schließen, doch er konnte nicht. Stattdessen presste er seinen Kopf so weit in das Kissen, wie es nur ging, und beobachtete, wie das scharfe Instrument in seinen Hals eintauchte. Wieder spürte er weniger, als er befürchtet hatte, und dann bemerkte er eine plötzliche wohltuende Druckentlastung an der rechten Seite seines Halses, die so besonders schlimm wehgetan hatte. Eine Flüssigkeit ergoss sich in seinen Mund. Er würgte.
„Na, na! Das ist doch nur ein bisschen Eiter. Ganz natürlich. Spuck mal aus!“, sagte der Arzt.
Er gehorchte. Es mochte ja natürlich sein, aber es blieb ekelhaft, und es stank.
Dr. Severin nahm ein anderes Instrument, das einem Löffel glich, und drückte damit in Justus Hals herum. Eiter, mit ein wenig Blut vermischt, schoss aus dem Mund in die Schale, aber auch direkt auf Angelinas Hand.
„Merda!“, entfuhr es ihr.
Ihre Hand zuckte zurück, doch dann hielt sie ihm die Schale wieder hin.
Dr. Severin würdigte Angelina nur eines kleinen Seitenblickes, er war zu konzentriert, um sich um die Befindlichkeiten der jungen Frau zu kümmern. Sorgsam drückte er weiter in Justus Hals herum, bis er schließlich zufrieden bemerkte, das sei’s gewesen. Fürs Erste werde es nun reichen, Justus könne wieder schlucken und das Antibiotikum werde das Seine tun, ihn schnell wieder auf die Beine zu bringen.
Angelina stand auf, einen Schwall italienischer Flüche flüsternd. „Porca vacca! Lo non sono un infermiere. Diamine …“
„Na, na“, sagte der Arzt. „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen! Was soll unser junger Patient denn von Ihnen denken!“
Dr. Severin lachte, und der Großvater stimmte mit ein. Er hatte sich im Hintergrund gehalten und kein Wort gesagt, aber nun schien auch er froh zu sein, dass es vorbei war. Er reichte seinem Enkel ein Glas mit kaltem Wasser.
Justus trank und stellte erleichtert fest, dass ihm das Schlucken nun kaum noch Probleme bereitete. Seine Augen folgten Angelina, die mit langsamen Schritten und angeekeltem Blick den Raum verließ, die Schale mit dem blutigen Eiter so weit wie möglich von sich weg haltend. Der Arzt war immerhin so nett gewesen, ihr etwas zum Desinfizieren ihrer Hände mitzugeben.
Angelina …
Was sie nun wohl vor ihm dachte? Ob sie ihn noch mochte? Oh, wie er hoffte, dass nicht sie es gewesen war, die ihm das Zäpfchen gegeben hatte.