Читать книгу Justus - Beatrice Lamshöft - Страница 3
30. April 2012
ОглавлениеDie Schnürsenkel seiner Schuhe sind offen. Sie zu binden ist lebensgefährlich. Langsam geht Justus in die Knie. Seine Hände zittern, er kann sie kaum noch kontrollieren. Vor dreißig Jahren, an seinem fünften Geburtstag, da hatte ihm die Tante gezeigt, wie man Schnürsenkel bindet. Er hatte auf einer Schaukel gestanden, und sie hatte es ihm vorgemacht: so und so und dann so. Immer wieder. So und so und dann so. Dann war die Tante einen Schritt zur Seite gegangen, und er hatte das Gleichgewicht verloren.
Nicht das Gleichgewicht verlieren. Ganz langsam. So und so und dann so. Sein Herz hämmert, er hört das Blut in den Ohren rauschen, das Atmen fällt ihm schwer. Sein Brustkorb ist ein Panzer aus Angst.
Wenn man fiel, dauerte es vielleicht vier Sekunden. Oder fünf. Nicht länger. Den Aufprall spürte man nicht. Die Zeit, etwas zu spüren, gab es nicht. Fallen und weg. Er wäre nicht der Erste, er wäre auch nicht der Letzte. Wie viele Menschen sprangen im Jahr von Hochhäusern? Zwanzig vielleicht? Weniger? Er weiß es nicht.
Langsam richtet er sich wieder auf, den Blick auf den Abgrund gerichtet. Die Angst wird flüssig und gleitet an seinem Körper hinunter. An den Knien hält sie sich fest, umschlingt sie und lässt sie heftig zittern. Er hätte fallen können, dann wäre er jetzt tot.
Und es wäre kein Suizid gewesen. Oder doch? Nein, denn er wäre ja unbeabsichtigt gefallen, mehr oder weniger. Das Schicksal hätte sein Leben beendet, nicht er. Ist er hier hochgekommen, damit das Schicksal über sein Leben entscheidet? Warum? Kann er nicht für sich selbst entscheiden?
Die Sonne ist ein glühend roter Ball am wolkenlosen Himmel. Auf dem Land werden nun die Maifeuer angezündet und die Maibäume aufgestellt. Irgendwann in den nächsten Stunden wählt irgendwo ein Komitee eine Maikönigin, um Mitternacht wird jemand mit ihr tanzen. Aber all das hat nichts mehr mit ihm zu tun. Seine Geschichte geht nun zu Ende. Sobald es dunkel genug ist, denn er wird diese Welt im Dunkeln verlassen, das hat er gerade beschlossen.
Er starrt in die Sonne, die so weit gesunken ist, dass sie seine Augen nicht mehr blendet. Er erinnert sich, gelesen zu haben, Sonnenuntergänge seien bemerkenswert emotionalisierend. Wenn das kurzwellige rote Licht auf die Netzhaut traf, erzeugte das biochemische Reaktionen, in deren Folge euphorisierende Neurotransmitter freigesetzt wurden. Geschah dies nun auch in seinem Gehirn? Offenbar war es so, denn tatsächlich fühlt er so etwas wie Melancholie, ein trauriges Glück.
Er verzieht seinen Mund zu einem zynischen Lächeln, ein anderes gelingt ihm nicht mehr. Und in einem Augenblick fällt alle Angst von ihm ab, hinunter in den gähnenden Abgrund. Er atmet tief ein. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnet ein alter Mann ein Fenster. Er könnte ihn sehen, wenn er nur den Kopf heben und zum Dach heraufschauen würde. Aber der Mann schaut nach unten, dahin, wo Justus‘ Angst gerade unsichtbar und lautlos aufgeschlagen ist.