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18. Mai 1990
ОглавлениеDie tanzenden Flammen, denen er nun schon eine ganze Weile zugesehen hatte, ohne ein Wort zu sagen, weil er wusste, wie sehr sein Vater es liebte, bei einem guten Glas Rotwein vor dem Kamin zu sitzen und still den Klängen klassischer Musik zu lauschen, diese Flammen machten ihn schläfrig, flackerten vor seinen Augen wie eine Schar kleiner Geister, die einen magischen Tanz aufführten, um ihm sein Bewusstsein zu stehlen. Sie folgten keinem festgelegtem Muster, sondern sprangen im Kamin wild umher, begleitet vom Knistern und Knacken des brennenden Holzes. Ganz anders war die Musik, der sie lauschten − Bach oder Brahms, Mozart oder Beethoven, irgendeiner der alten Meister halt, von denen sein Vater sagte, ihre Kompositionen hätten noch so etwas wie eine geordnete Dramaturgie, eine Syntax, die man verstehen könne, die einen nicht fortwährend mit experimentellen Klangmustern herausfordere.
Alles lief gut, auch die Quartalsnoten ließen sich sehen. Mathe sehr gut wie immer, Deutsch gut, Englisch gut, in den Naturwissenschaften war er auch gut, könnte sich aber noch etwas verbessern, in den Gesellschaftswissenschaften ebenso, wollte er jedoch nicht, denn es schien ihm den Aufwand nicht wert zu sein.
Er gähnte und rekelte sich zufrieden, streckte seine Beine aus und strich mit seinem Daumen im Rhythmus zur Musik über das dunkelbraune Leder des alten Ohrensessels. Früher, als er noch ganz klein gewesen war, hatte seine Mutter immer auf diesem Platz gesessen, aber daran konnte er sich kaum erinnern. Vermutlich hatte irgendjemand es ihm mal erzählt. Rechts neben ihm, in dem anderen Ohrensessel, saß sein Vater. Er hatte seine Arme über dem Bauch verschränkt und die Füße auf einem Hocker vor sich abgelegt. Auch er starrte in die Flammen und schien tief in seine Gedanken versunken zu sein, oder aber er konzentrierte sich auf die Musik. Auf einem kleinen Beistelltisch zwischen ihnen atmete sein Rotwein in einem großen bauchigen Weinglas, das so bemerkenswert dünn war, dass man meinen konnte, es würde sofort zerbrechen, wenn man nur versehentlich mit der Hand daran stieß.
Vom Wein zu kosten hatte sein Vater ihm stets untersagt, weil er angeblich noch zu jung dafür war. Es war sehr schwer, etwas bei ihm durchsetzen, das ihm bisher aufgrund seines Alters verwehrt worden war, denn es bestand immer die Gefahr, dass sein Anliegen gar nicht erst überdacht, sondern sofort abgelehnt wurde, weil sein Vater gewohnheitsgemäß jede Form von Veränderung erst einmal zurückwies.
Alle persönlichen Freiheiten hatte Justus sich Stück für Stück erkämpfen müssen, indem er die Aufmerksamkeit seines Vaters erregte – durch besondere Leistungen, kluge Kommentare, gute Noten in der Schule oder schlicht beharrliches Nachfragen, damit Joachim Zimmermann sich die Zeit nahm, die er brauchte, um zu erkennen, dass sein Sohn nun laufen konnte, keine Windeln mehr trug, auf der Straße nicht mehr an die Hand genommen werden musste, Freunde allein mit dem Fahrrad besuchen konnte, Hausaufgaben selbstständig erledigte, und er nicht mehr um Punkt acht ins Bett gehen musste. Neuerdings durfte er am Wochenende auch mal einen späten Film ansehen, selbst wenn dieser Gewalt- und Sexszenen enthielt.
Der studierte Anthropologe, der sich für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit begeistern konnte, die Werte traditioneller Gesellschaften wie die der Inuit in Grönland oder die der Aborigines in Australien gern mit denen moderner Kulturen verglich, in denen familiäre Strukturen mehr und mehr in Auflösung begriffen waren, dieser gelehrte Mann zeigte generell wenig Interesse an den Fragen des alltäglichen Lebens, wie der, ob für den Winter eine neue Schneefräse angeschafft werden sollte, ob die Vorhänge im Esszimmer in die Reinigung gebracht werden mussten oder welcher Elektriker die defekte Gartenbeleuchtung instand setzen sollte, jetzt, da der alte seinen Betrieb dichtgemacht hatte. Vaterschaft war nur eine der vielen Pflichten, denen er eher notgedrungen nachkam, mit einem gewissen Grad an Sorgfalt immerhin, so wie er im Grunde genommen alles recht zuverlässig erledigte, was an ihn herangetragen wurde. Begeisterung dafür durfte man von ihm allerdings nicht erwarten.
Justus betrachtete seinen Vater aus halb geöffneten Augen, sah auf die großen knochigen Hände, die langen Finger, die vornehm aussahen, besonders dann, wenn er seine Fingerspitzen aneinanderlegte, während er über irgendeinen Sachverhalt nachdachte, um zu einer wohlüberlegten Aussage oder Entscheidung zu kommen. Es passierte nicht allzu häufig. Viel eher konnte man seine Hände dabei beobachten, wie sie mit einer lässigen Bewegung etwas wegzuwischen schienen, so als würden sie eine lästige Fliege verscheuchen. Das war die Geste, die er ausführte, wenn man ihn mit allzu belanglosen Fragen belästigte. Machen Sie es so oder so, ach, ist doch egal, machen Sie es halt irgendwie, und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, schienen seine Hände dann zu sagen.
Er wusste, sein Vater war seiner Mutter zuliebe in das Unternehmen eingetreten. In einem Familienbetrieb da müsse jeder seinen Beitrag leisten, so hatte es der Großvater immer verlangt. Immerhin konnten sie sich durch das viele Geld, das sie verdienten, ein luxuriöses Leben leisten. Als er klein gewesen war, hatte er geglaubt, sein Vater und seine Mutter hätten geheiratet, weil sie beide mit Nachnamen Zimmermann hießen. Aber dann hatte er irgendwann begriffen, dass dies nur ein seltener Zufall war, der eigentlich nichts bedeutete. Inge, die alte Köchin, die zwar schon lange in Rente war, aber immer noch dann und wann mal vorbeischaute, um zu sehen, wie’s der Familie so ging, Inge hatte ihm vor Kurzem erzählt, sein Vater habe sich ins gemachte Nest gesetzt, habe in die Familie eingeheiratet, weil er mit seinem Studium nichts geworden wäre. Mit so was Exotischem, das dein Papa studiert hat, da wirst du mit viel Glück Professor an der Uni, aber wohl viel eher Sozialhilfeempfänger, hatte sie gesagt.
Er wusste nicht, ob sein Vater hätte Professor werden können. Vielleicht. Immerhin konnte er reden wie ein Professor. Doch eines wusste er ganz sicher: dass er seine Mutter sehr geliebt und sie nur deshalb geheiratet hatte. Er hatte gar keine andere Wahl gehabt, als in die Firma einzusteigen, sonst hätte der Großvater ihn nie akzeptiert. Das Wort des Großvaters war Gesetz. Man konnte versuchen, sich dagegen aufzulehnen, aber am Ende würde man doch verlieren.
Der alte Mann war halt eine echte Autorität.
Sein Blick löste sich von den Händen seines Vaters und wanderte aufwärts. Er war ein großer Mann, deutlich größer als seine Mutter gewesen war. Er hatte sie um gut einen Kopf überragt. Auch auf den Großvater konnte er locker hinuntersehen, wenn die beiden nebeneinanderstanden, und Justus ahnte, dass er selbst die Größe seines Vaters wohl nie erreichen würde. Er betrachtete sein Gesicht, das schmal war und von einer etwas zu großen und leicht gebogenen Nase dominiert wurde. Die Augen waren grünbraun so wie seine eigenen. Ja, die Augen hatte er eindeutig von seinem Vater geerbt. Gott sei Dank nicht die Nase. Und auch nicht seinen schlechten Kleidungsgeschmack. Sein Vater liebte braune Cordhosen und Pullover in erdigen Farbtönen. Manchmal trug er Strickpullunder über karierten Hemden, glücklicherweise aber nur zu Hause und nie in der Öffentlichkeit. In die Firma ging er stets in Anzug mit Hemd und Krawatte, der Bürouniform, wie er das nannte.
Vollkommen unvermittelt drehte sich sein Vater plötzlich zu ihm herüber und schaute ihm in die Augen, wodurch er prompt aus seinem leichten Dämmerschlaf erwachte und sich gerade hinsetzte. Gab es etwas zu bereden?
„Ich habe mit dem Direktor deiner Schule gesprochen. Er hat mich angerufen und sich über dich beschwert, gewissermaßen, auch wenn ich zugeben muss, dass ich den genauen Sachverhalt seiner Ausführungen nicht wirklich verstanden habe. Er war, wie soll ich sagen, etwas ungehalten über deine generelle Einstellung den Lehrern gegenüber. Er behauptete, es fehle dir an Respekt.“
Er zog die Augenbrauen hoch, in der Hoffnung sein Vater würde ihm den erstaunten Gesichtsausdruck, den er zu zeigen versuchte, abkaufen.
„Ich soll respektlos sein? Wieso denn?“
„Es ging um deinen Geschichtslehrer!“
Um wen sonst, dachte er. „Was hat er denn gesagt, der Geschichtslehrer?“
„Ich weiß nicht, was genau er gesagt hat“, antwortete sein Vater. „Eigentlich möchte ich von dir wissen, was nun schon wieder vorgefallen ist. Diese wiederholten Beschwerden werden langsam etwas lästig, Justus!“
Sein Vater schaute mit einem Mal sichtlich genervt. Damit hatte er nicht gerechnet. Nun musste er gut aufpassen, was er sagte. Schon auf dem Nachhauseweg hatte er genau überlegt, wie er die Napoleon-Geschichte am besten verkaufen konnte, und er versuchte, sich zu erinnern.
„Es war wegen Fredo!“, sagte er.
„Wegen Fredo? Das musst du mir erklären!“
Sein Vater nahm die Füße vom Hocker, schlug die Beine übereinander und schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sein Blick war wie eine glühende Zange in seinem Nacken, die sich langsam und unaufhaltsam schloss.
„Hermann wollte Fredo fertigmachen. Wieder mal. Ich konnte das nicht aushalten. Es ist so gemein, wie er ihn immer demütigt. Hermann ist ein …“
Ein Arsch. Er verkniff sich das Wort, wohl wissend, dass sein Vater solche Ausdrücke nicht duldete, auch wenn sie absolut berechtigt waren.
„Es ehrt dich Justus, dass du dich so für einen Freund einsetzt. Aber Fredo muss lernen, für sich selbst zu sorgen. Auf lange Sicht hilfst du ihm wenig, indem du ihn verteidigst, du machst ihn eher noch schwächer. Mal ganz abgesehen davon, dass du dir selbst schadest mit deinen Auftritten.“ Er wollte gerade ansetzen, etwas zu erwidern, doch sein Vater winkte ab und wendete sich wieder dem Feuer zu. „Benimm dich, Justus. Das ist alles, was ich von dir erwarte. Es bringt nichts, sich gegen Menschen aufzulehnen, die am längeren Hebel sitzen. Das musst du noch lernen!“
Sein Vater war verärgert, wohl nicht so sehr darüber, was er getan oder nicht getan hatte, sondern über den Umstand, dass man ihn mit dieser Angelegenheit belästigt hatte.
Justus schaute ins Feuer und ballte seine Hand zur Faust. Es war so ungerecht, wie ein kleiner dummer Rotzlöffel hingestellt zu werden. Wenn sein Vater nur wüsste, wie die ganze Sache abgelaufen war, er wäre stolz auf seinen Sohn, weil er überlegen und souverän wie ein Erwachsener reagiert hatte. Sein Vater musste es unbedingt erfahren.
„Du warst nicht dabei, Papa. Du weißt doch gar nicht, wie es abgelaufen ist. Aber … die genauen Fakten scheinen dich ja nicht zu interessieren.“
O ja, die Fakten … Nichts war seinem Vater so verhasst wie Menschen, die auf der Basis von bloßen Vermutungen zu argumentieren versuchten. Wer die Fakten nicht kannte, der konnte nicht mitreden. Und wer die Fakten nicht dargestellt bekommen wollte, der hatte auch kein Recht, über seinen Sohn zu urteilen.
Sein Vater zog erneut die Augenbrauen hoch und lächelte. „Die Fakten … Aha. Was sind denn die Fakten? Na ja … Wenn du der Meinung bist, dass es noch etwas gibt, das ich wissen sollte, dann will ich dir gerne zuhören.“
Na also, dachte Justus. Und dann begann er, die Geschichtsstunde zu schildern, so wie er es sich zu zurechtgelegt hatte. Er schilderte ausführlich, wie unmöglich Hermann sich verhalten hatte, wie er es liebte, Schüler zu drangsalieren, insbesondere Fredo, und wie gekonnt er selbst ihn bloßgestellt hatte, ohne Worte, allein durch seine coole Art und das Napoleon-Zitat, das er ihm doch am Morgen beim Frühstück genannt hatte.
Während der ganzen Schilderung saß sein Vater unbeweglich in seinem Sessel, blickte ins Feuer, die Ellbogen auf den Armlehnen abgestützt und die Fingerspitzen aneinandergelegt. Es dauerte einen Moment, bis er reagierte, nachdem er mit allen Details in die Fakten der Auseinandersetzung eingeweiht worden war. Er schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. Dann holte er tief Luft und verkündete sein Urteil, wobei er sich Justus zuwendete, ihm aber nicht direkt in die Augen sah.
„Ich bin entsetzt Justus! Für wen hältst du dich eigentlich? Benimmst dich wie ein … wie ein arroganter aufgeblasener Wichtigtuer. Deinen Lehrer vor der ganzen Klasse so vorzuführen! Weißt du eigentlich, wie peinlich das ist? Was ist nur in dich gefahren? Du warst doch sonst immer so vernünftig! Bist du auf einmal verrückt geworden? Bei dir schießen wohl die Hormone ein! Aber noch hast du keinen Bart, mein Freund!“ Dann schaute er ihm direkt in die Augen. „Justus, ich schäme mich für dich!“
Das Telefon klingelte. Zweimal, dreimal. Niemand ging ran. Joachim Zimmermann stöhnte, erhob sich und ging ins Esszimmer, um das Gespräch anzunehmen.
„Ja, bitte. Ja, aber das weiß ich nicht auswendig, da muss ich nachschauen. Ich rufe Sie gleich zurück“, sagte er, legte auf und verließ den Raum, vermutlich, um sein Arbeitszimmer aufzusuchen.
Justus starrte in die Flammen, sah die kleinen Geister, die immer noch für ihn tanzten, aber jetzt schienen sie ihn zu verspotten. Ich schäme mich für dich, ich schäme mich für dich, riefen sie.
Hätte er doch nur seinen Mund gehalten. Und trotzdem, er war kein kleiner Junge mehr. Sein Vater wollte es einfach nicht begreifen. Er hatte ihn zu Unrecht beschimpft. Oder nicht?
Der Rotwein auf dem kleinen Tisch an seiner Seite hatte nun schon eine halbe Stunde geatmet. Man konnte ihn jetzt genießen, wenn man alt genug war. Vorsichtig nahm er das große Glas in seine Hand und führte es langsam zum Mund.
Pass bloß auf, dass du es nicht zerbrichst, riefen die kleinen Geister. Pass bloß auf, du bist so schrecklich ungeschickt.
O Gott, nicht auszudenken, was sein Vater sagen würde. Justus‘ Hand begann zu zittern, und plötzlich wusste er ganz sicher, dass er es nicht schaffen würde, aus dem Glas zu trinken, ohne es zu zerbrechen. Mit größter Vorsicht stellte er es zurück.
Und nie wieder, wirklich nie wieder würde er einem Lehrer widersprechen.