Читать книгу Justus - Beatrice Lamshöft - Страница 13

1. Mai 2012

Оглавление

„Ich habe heute Geburtstag“, sagt Justus, und es klingt beinahe wie eine Entschuldigung.

So war es nicht geplant, es hätte anders klingen sollen – vielleicht beiläufig oder harmlos fröhlich. Ironisch wäre nicht unpassend gewesen. Wenigstens drückt die Betonung keinerlei Erwartung aus. Er fragt sich, warum er es überhaupt erwähnt hat. Marie, die ihn immer noch im Arm hält, drückt ihn ganz fest an sich. Dann hebt sie den Kopf und lächelt ihn an.

„Herzlichen Glückwunsch! Der 1. Mai ist ein wunderschöner Tag, um Geburtstag zu haben!“

Er mochte es nicht, wenn man um diesen Tag viel Aufhebens machte. Und er hatte es immer als eine eher lästige Pflicht empfunden, an die Geburtstage seiner Familienmitglieder denken zu müssen, deren Zahl sich seit seiner Geburt kontinuierlich dezimiert hatte, sodass er – es fällt ihm nun auf –, sodass er sich jetzt tatsächlich an keinen einzigen mehr zu erinnern brauchte. Außer dem von Cordula natürlich, aber die war psychisch krank und dement, oder zumindest wirkte sie so, und vermutlich wusste sie selbst gar nicht mehr, an welchem Tag sie geboren worden war.

Nun jedoch hat er seinen Geburtstag erwähnt, aus welchem Grund auch immer, und er kann sich nicht beschweren, wenn Marie diese Information nicht einfach ignoriert. Sie greift in die Taschen ihres weißen Mantels und erforscht den Inhalt, befördert diverse Zettel, zwei Büroklammern und ein Päckchen Papiertaschentücher zutage. Die Art und Weise, wie sie die Sachen betrachtet, verrät ihm, dass sie in diesem Kleidungsstück nicht zu Hause ist. Es ist der Mantel einer anderen, die deutlich größer ist als sie selbst, das ist offensichtlich. Zwischen zwei verknitterten Kassenbons steckt ein dreimal gefalteter Fünfziger. Sie zieht die Augenbrauen hoch.

„Na so was!“

„Ich hoffe nicht, dass du jetzt vorhast, dich in Unkosten zu stürzen, ich meine, du wirst mir doch jetzt kein Geschenk kaufen, oder? Das ist nicht notwendig, Marie, wirklich nicht!“

„Nein!“, sagt sie, „das ist es nicht … Aber wahrscheinlich tue ich es trotzdem.“

Sie schaut sich um, und es hat den Anschein, dass sie sich nicht entscheiden kann, ob sie ihr Glück nun am Losbudenstand oder an der Schießbude versuchen soll, doch dann läuft sie schnurstracks zum Wagen mit dem Zuckerzeug herüber. Gebrannte Mandeln, aufgespießte Bananen und Trauben im Schokomantel, rot leuchtende Paradiesäpfel, dicke Waffeln mit einer schaumigen weiß-rosa gestreiften Füllung, Zuckerwatte und jede Menge Lebkuchenherzen in unterschiedlichen Größen. Buntes süßes Schlaraffenland. Als Kind hatte er oft davor gestanden und um eine Wolke am Stil gebettelt. Man hatte sie ihm immer verwehrt. Wolken hatten nun mal keinen großen Nährwert und von denen am Stil bekam man sofort schreckliche Löcher in den Zähnen, so zumindest hatte seine Tante es ihm immer suggeriert.

Vor dem Süßwarenstand herrscht ein ziemliches Gedränge. Jeder ist der Nächste. Manche beschweren sich lautstark und werden dann prompt drangenommen, wahrscheinlich, damit sie keine miese Stimmung verbreiten. Wie junge Küken im Nest, denkt er, die am lautesten schreien und den Schnabel am weitesten aufreißen, werden zuerst gefüttert. Marie ist ein eher kleines Vögelchen zwischen all den Leuten. Statt zu schreien hebt sie den Arm und winkt wie in der Schule. Es dauert eine Weile, bis sie drankommt.

Der Sensenmann, den er eben beobachtet hatte, plötzlich steht er direkt hinter Marie und rempelt sie an. Absichtlich, das ist nicht zu übersehen. Sie taumelt und wird von dem Kapuzenträger aufgefangen, der sich tausendmal entschuldigt. So ein Scheinheiliger. Blitzschnell greift er in ihre Manteltasche, ohne dass sie es bemerkt. Er zieht etwas heraus und macht sodann einen schnellen Abgang, läuft dabei direkt an Justus vorbei. Etwas fliegt durch die Luft, und er schnappt es auf. Es ist die verschmähte Diebesbeute, ein Päckchen Papiertaschentücher, sauber in Plastikfolie verpackt. Gevatter Tod hat wohl keine Verwendung dafür.

Justus betrachtet das kleine Päckchen, überlegt, durch wie viele Hände es im Laufe seiner Existenz schon gegangen ist und wer die Frau war, die es gekauft hat. Oder hatte man es ihr geschenkt? Die Plastikfolie trägt den Aufdruck „Schlossapotheke“, also handelte es sich vielleicht um eines dieser kleinen Präsente, die ein Kunde ab einer bestimmten Summe erhielt, wenn er Medikamente kaufte. Man nahm sie an, ganz selbstverständlich, sagte Danke und weil man es eilig hatte, stopfte man es schnell irgendwo hinein, in die Manteltasche zum Beispiel.

Die meisten Dinge, die durch unsere Hände gehen, denkt Justus, sie scheinen einfach vorhanden zu sein, tauchen in einem Moment auf und verschwinden dann wieder aus unserem Blickfeld, ganz beiläufig, ohne dass wir uns jemals Gedanken darüber machen. Papiertaschentücher, Bleistifte, Briefumschläge, Konservendosen, Batterien, WC-Reiniger, Plastikbeutel, Büroklammern, Busfahrkarten, Rasierklingen, die kleinen Zettel mit einer Nummer drauf, die man beim Straßenverkehrsamt ziehen muss, damit man sich ordnungsgemäß in die Reihe der Wartenden eingliedern kann, Zahnstocher, Druckknöpfe, Schuhputzbürsten, Schrauben, Nägel.

Nägel! Er greift in seine Hosentasche. Da ist er! Er fühlt den krummen, verrosteten Nagel, den er auf dem Hochhausdach gefunden hat, dreht ihn in den Fingern, ertastet seine Form. Er ist ziemlich genau in der Mitte um ungefähr siebzig Grad gebogen. Seine Spitze ist stumpf, der Kopf flach, vielleicht drei Millimeter im Durchmesser. Die rostige Oberfläche fühlt sich rau an. Er schließt die Augen und versucht, sich den Nagel vorzustellen. Warum zum Teufel tut er das? Dieser alte krumme Nagel, er ist doch nur Müll. Ja, natürlich ist er Müll, so wie all diese vielen großen und kleinen Dinge, die einfach da sind, die man im Supermarkt oder sonst wo kaufen kann, die existieren, um uns eine Weile nützlich zu sein, bevor sie letztendlich alle dasselbe Schicksal ereilt – zu Müll zu werden.

„Träumst du?“ Er öffnet die Augen. Marie steht vor ihm, die schmalen Augenbrauen hochgezogen, eine Haarsträhne im rechten Auge, die sie mit halb geöffnetem Mund so gekonnt nach oben pustet, als hätte sie es lange geübt. Hinter ihrem Rücken hält sie etwas versteckt. „Ich habe ein Geschenk für dich!“, sagt sie und holt es hervor. „Ein Herz! Ich habe dir ein Lebkuchenherz gekauft! Da, riech mal! Riecht es nicht wunderbar? Es riecht wie … Hmmm … wie Kindheit, Lose kaufen, Karussell fahren, Zuckerwatte essen und wie Weihnachten … irgendwie.“ Er schnuppert an seinem Herz, es ist riesig und hängt an einem weißen Band. Ja, in der Tat, es duftet ganz intensiv nach schönen Erinnerungen. Es macht ihn glücklich. Für einen kurzen Moment ist ihm sogar, als müsste er gleich vor Freude weinen, aber er kann die Tränen gerade noch zurückhalten. Marie lacht. „Hey, was ist denn mit dir? Das ist doch nur ein Herz!“

Er nickt und beugt sich nach vorn, damit Marie es ihm um den Hals hängen kann.

„Danke!“, sagt er. „Es ist wunderbar … und so groß! Und es ist mein erstes! Ich hab noch nie ein Lebkuchenherz geschenkt bekommen. Danke! Vielen Dank!“

Er ist ein wenig verlegen, Marie anscheinend auch. Sie lachen. Er betrachtet die Aufschrift auf dem Lebkuchengebäck die schlicht MEIN HERZ lautet. Zuckersüße geschnörkelte Buchstaben mit blauen und roten Blümchen verziert. Vorsichtig rückt er das Band zurecht, damit das Herz auch schön gerade hängt. Dann weiß er auf einmal nicht mehr, wohin mit seinen Händen. Erst steckt er sie hinter seinen Rücken. Dann ergreift er Maries Kopf und küsst sie lange und leidenschaftlich. Als er sie anschließend anblickt, ist in ihren Augen so ein merkwürdiger Ausdruck, den er nicht recht zu deuten weiß. Dankbarkeit einerseits, aber da ist noch etwas anderes. Ist es Angst? Oder Traurigkeit?

Sie nimmt seine Hände und faltet sie wie zum Gebet in ihre, küsst dabei jeden seiner Finger. Einen Moment hält sie inne und schließt kurz die Augen, als müsste sie sich auf etwas konzentrieren. Schließlich holt sie tief Luft, und im nächsten Augenblick ist sie wieder ganz bei ihm.

„Ich soll dir noch sagen … Wenn du es essen möchtest, darfst du nicht zu lange warten. Sonst wird es steinhart, und irgendwann zerbröselt es, das … das hat der Verkäufer gesagt!“

Er nickt. Er wird es nicht essen. Es wird mit ihm alt und steinhart werden und dann werden sie gemeinsam zerbröseln.

Der Sensenmann taucht wieder auf. Allerdings hat er jetzt die Kapuze vom Kopf gezogen, sodass man seine strubbligen roten Haare sehen kann. In seinen Armen hält er einen großen Bund roter Rosen, die er für einen Euro das Stück anpreist. Mal beklaut er die Leute, dann spielt er den Rosenkavalier, denkt Justus. Wahrscheinlich hat er die Blumen auch irgendwo gestohlen, auf dem Wochenmarkt vielleicht. Man sollte ihn anzeigen. Oder nicht? Er winkt ihn zu sich heran.

„Hey, junger Mann! Ich geb dir dreißig Euro, dafür bekomm ich den Strauß, was meinst du?“

Der Sensenmann schüttelt den Kopf. „Das ist zu wenig! Er kostet fünfzig!“

Nein, bestimmt keine fünfzig, es sind kaum fünfzig Rosen. Und außerdem hat Justus Anspruch auf einen Rabatt, wenn er alle auf einmal nimmt.

„Das sind doch nicht mal fünfzig Stück. Ich geb dir fünfunddreißig und keinen Cent mehr! Also, kommen wir ins Geschäft?“

Der Sensenmann schaut mächtig genervt auf den Boden, dann auf die Fahrgeschäfte. Die Art, wie er anschließend den Kopf auf die Seite legt und ihn angrinst, erinnert ihn an Jean Paul Belmondo in Cartouche, der Bandit. Frech und doch so charmant. Er hatte den Film mit Fredo angesehen, der ein Faible für alte Streifen wie diesen hatte. Wie lange war das her? Zehn Jahre? Länger?

„Also gut“, sagt Belmondo. „Hab heute meinen großzügigen Tag!“

Er drückt Justus den Strauß in die Hand, bekommt sein Geld, nickt kurz und schlendert davon. Wahrscheinlich warten noch andere Geschäfte auf ihn an diesem Abend.

Marie hält lachend ihre Hände vors Gesicht. Dann nimmt sie die Blumen mit einem Kopfschütteln entgegen.

„Du bist verrückt. Danke! Sie sind … fantastisch. So schön. Solche hab ich noch nie bekommen, mit so langen Stielen! Wow.“

Sie legt den Strauß Rosen in ihren Arm und schaukelt sie wie ein kleines Baby.

„Meine Dame, mein Herr, wie wäre es mit einem Andenken an diese wunderbare Nacht?“

Sie drehen sich um und blicken in das grell geschminkte Gesicht eines Clowns – ein kleiner Mann mit kugelrundem Bauch, der wie ausgestopft wirkt, aber womöglich doch echt ist. Man möchte mit dem Finger reinpiksen und es herausfinden. Auf dem Kopf trägt er eine knallrote Perücke mit krausem Haar. Ein großer Pulk gasgefüllter Ballons ist an seinem Gürtel befestigt, Micky Mouse und Donald Duck, Giraffen, Löwen, dazwischen Sterne in allen Farben. Sanft schwebt die kleine Ballonherde am Nachthimmel hin und her. In der Hand des Clowns wartet eine Sofortbildkamera auf ihren Einsatz.

„Warum nicht?“, sagt Marie. „Komm, lass uns ein Erinnerungsfoto machen, ja? Oder zwei, eins für dich und eins für mich! Einverstanden?“

Der Clown wartet seine Antwort nicht ab, sondern drückt gleich auf den Auslöser.

„Und … bitte lächeln! Und noch mal. So ist es schön.“

Marie bezahlt ihn. Dann beobachten sie gemeinsam, wie aus dem Schwarz langsam zwei Bilder hervortreten, die ein Paar mit eingehakten Armen und aufgesetztem Fotolächeln zeigen. Er mit lässigem Dreitagebart, sie mit einem Strauß roter Rosen im Arm. Ihr großer weißer Mantel ist so lang, dass man ihn im ersten Moment für ein Brautkleid halten könnte, und der Blitz hat ihre Gesichter so hell ausgeleuchtet, dass sie vor dem dunklen Hintergrund ein wenig geisterhaft wirken. Zwei gelungene Aufnahmen, wenn Halloween wäre.

Justus erinnert sich an das Hochzeitsfoto seiner Urgroßeltern. Die Braut trug ein schwarzes Kleid, und die Gesichter der Jungvermählten waren absolut ausdruckslos. Das krasse Gegenteil waren seine eigenen Hochzeitsfotos mit Susanne. Auf jedem zweiten war Elvis mit im Bild und grinste ungemein gekünstelt in die Kamera, wobei er stets die Arme in Richtung des Brautpaares ausbreitete, als präsentierte er das neueste Modell eines Spülmaschinenherstellers für ein Werbeplakat.

Zuzeiten seiner Großeltern war die Ehe ein heiliges Sakrament gewesen, eine ernste Sache. Heute war sie eine Möglichkeit, eine romantische Idee, ein steuerlicher Vorteil. Und was für eine Sache war das mit ihm und Marie? Aus der Distanz betrachtet konnte man durchaus sagen, dass ihre Begegnung etwas Skurriles und Morbides an sich hatte. Insofern waren ihre beiden Sofortbildkameraaufnahmen vielleicht doch recht treffend.

„Komm, gib mir die Fotos!“, sagt Marie.

Eine klare Anweisung, der er sofort Folge leistet. Was wird sie tun?

Sie zieht den Kuli aus ihrer Manteltasche und schreibt etwas auf die Rückseite eines der Bilder. Ihre Telefonnummer.

„Und deine?“, fragt sie. „Ach was, am besten, du schreibst sie mir selbst auf!“

Er nimmt das andere Foto und notiert nun seinerseits die Nummer, unter der er zu erreichen ist. Und seine Handynummer. Und die seines Büros. Außerdem seinen Namen und die vollständige Adresse. Die Mailadresse passt leider nicht mehr drauf.

Sie tauschen die Fotos aus wie zwei Visitenkarten und fühlen sich dabei schon wieder ein wenig verlegen. Es gibt noch so viel zu sagen, so viel zu erklären, denkt er, aber im Moment geht es einfach nicht. Falscher Ort, falscher Zeitpunkt. Dieses Gefühl der Verlegenheit, es wird sich geben, es wird verschwinden, wenn sie sich erst näher kennengelernt haben. Jetzt ist es halt einfach ein bisschen merkwürdig. In einem Moment sind sie sich so nah, dass sie sich innig küssen, dann wieder kommt es ihm vor, als hätte man sie gerade erst einander vorgestellt. Wie zwei, die einander von jeher versprochen waren und sich am Tag der Hochzeit zum ersten Mal in die Augen sahen. Eine eigenartige Situation. Aber sie haben ja noch ihr ganzes Leben vor sich.

Marie atmet tief ein, als bereitete sie sich auf einen großen Sprung vor. „Justus, würdest du den Alten fragen, ob er noch mal Der Mai ist gekommen auf dem Akkordeon für mich spielt? Ich würde es so gern noch einmal hören!“

Ja, sicher, das kann er tun. Es ist immer gut, etwas zu tun zu haben, wenn Verlegenheit aufkommt.

Sie stehen einige Meter von dem Feuer und der Tanzfläche entfernt, der alte Mann mit dem weißen Bart sitzt nicht mehr auf seinem Hocker. Justus sieht sich um, kann ihn nirgends ausmachen. Vielleicht ist er schon gegangen. Er spricht den Losbudenverkäufer an, ob er vielleicht wisse, wo der Alte zu finden sei. Doch weder er noch jemand anderes kann ihm weiterhelfen. Er dreht sich um, will zu Marie, um ihr die bedauerliche Nachricht mitzuteilen, doch sie ist verschwunden. Wo ist sie nur?, denkt er, sie kann doch nicht weg sein! Unschlüssig geht er ein paar Schritte in die eine, dann in die andere Richtung.

Minuten vergehen, die sich rasch zu einer Ewigkeit ausdehnen. Sie ist weg, einfach weg, ohne sich zu verabschieden. Er kommt sich schrecklich verlassen vor – wie ein Fünfjähriger, der im Kaufhaus seine Mutter verloren hat. Gleich wird es eine Durchsage geben, die donnernden Boxen werden verkünden, dass Marie Justus sucht und er sich bitte am Stand des Losbudenverkäufers einfinden möge. Wie er sich freuen wird, wenn er sie wieder in die Arme nehmen kann.

Keine Durchsage erklingt, natürlich nicht. Marie bleibt verschwunden. Aber sie hat ihn nicht wirklich verlassen, sonst hätte sie ihm ja nicht die Telefonnummer gegeben. Sie werden sich wiedersehen. Sie wird es ihm erklären. Alles wird sich finden.

Oder nicht?


Justus

Подняться наверх