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30. April 2012

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Er schaut hinunter. Aus der Höhe des Riesenrades erscheinen die vielen Menschen nur noch als dunkle Punkte, die sich langsam an den Buden des Jahrmarktes vorbeischieben, überstrahlt von leuchtenden Schriftzügen und langen bunten Lichterketten. Der Fluss spiegelt sie wider, lässt ihre Farben auf seinen sanften Wellen tanzen, Rot, Blau, Grün, Gelb, einen Schritt vor, einen Schritt zurück, immer wieder, vor und zurück.

Am liebsten jedoch betrachtet er das große lodernde Feuer, das von einem Hünen mit breiten Schultern bewacht wird. Mit einem langen Stab stochert der große Mann in der Glut, schiebt Holzscheite zusammen oder verscheucht damit ein paar Kinder, die sich keck immer wieder zu nah heranwagen. Ein paar Meter weiter, in sicherem Abstand zu den Flammen, erhebt sich der Maibaum in die dunkle Nacht. Er bildet den Mittelpunkt einer kleinen, noch leeren Tanzfläche, die von jungen Birkenbäumchen gesäumt ist. Er ist hoch, der Maibaum, der Stamm hat einen ordentlichen Durchmesser, aber von oben gesehen wirkt er dennoch wie ein dünner senkrecht stehender Bleistift, prächtig geschmückt mit einem Kranz und vielen bunten Bändern.

Marie ist bei ihm, er hält sie im Arm und steckt seine Nase wieder in ihre weichen braunen Haare. Sanft neigt sich die Gondel der Erde zu, bringt sie den vielen Menschen näher, um sich weiterdrehend gleich wieder von ihnen zu entfernen. Sie schweigen, schweben auf und ab, sieben Mal, dann ist die Fahrt vorüber.

„Das hat gutgetan“, sagt sie, während sie zur Erde herabsinken.

Es ist ein bisschen ungewöhnlich, von einer Fahrt auf dem Riesenrad zu sagen, dass sie gutgetan habe, aber er glaubt zu verstehen, was sie damit meint, denn er empfindet ganz ähnlich.

Wieder festen Boden unter den Füßen zu haben fühlt sich im ersten Augenblick ein bisschen merkwürdig an, jetzt erinnert er sich daran, wie es früher gewesen war, wenn er auf einem Karussell gefahren war, er hatte es fast vergessen. Marie nimmt seine Hand und steigt aus der wackelnden Gondel aus. Mit beinahe feierlich anmutenden Schritten geht sie auf das lodernde Feuer zu. Ein alter Mann mit einem weißen Bart, der dem des Weihnachtsmannes Konkurrenz machen könnte, rückt einen Holzschemel an die wärmenden Flammen heran und lässt sich darauf nieder. Sodann hievt er ein schwarzes Akkordeon auf seine Knie, wobei er Marie zunickt, als beabsichtigte er, nun für sie ganz allein zu spielen. Der Schein des Feuers liegt auf seinem faltigen Gesicht, sein Lächeln ist verschmitzt und gutmütig. Und dann fliegen seine Finger über die Tasten und Knöpfe, mit rasender Geschwindigkeit, als wären sie verhext. Er weiß, was er kann. Und er weiß, wie es auf seine Mitmenschen wirkt. Er ist sehr stolz darauf, man sieht es ihm an. Sein Körper bewegt sich zur Musik, doch sein Blick ruht auf Marie, die still und unbewegt in der Mitte der kleinen Tanzfläche steht, ins Feuer starrend wie eine wunderschöne Statue in einem viel zu großen weißen Mantel.

Er schaut sich um, betrachtet die Menschen, die an ihm vorbeigehen, sieht einen kleinen Jungen auf einem Kinderkettenkarussell und eine junge Frau, die am Rand auf ihn wartet und jedes Mal wild zu winken beginnt, wenn die Gondel mit ihrem Sohn vorbeifliegt. Gleich neben ihr trippelt ein Dalmatiner-Welpe auf der Stelle, aufgeregt mit dem Schwanz wedelnd, weil ihm sein Herrchen ganz bestimmt jeden Moment ein Stück von seiner leckeren Currywurst abgeben wird. Ganz bestimmt. Die Luft riecht süß und herb nach Feuer und gebrannten Mandeln, Zuckerwatte und Paradiesäpfeln. Aus einem Lautsprecher scheppert die Ansage des Losbudenverkäufers.

„Und wieder ein Hauptgewinn! Meine Damen und Herren, jedes dritte Los ist ein Gewinn. Versuchen Sie ihr Glück!“

Nebenan in der Schießbude werden mit energisch kantigen Bewegungen die Gewehre nachgeladen. Kleine weiße Kunststoffhirsche laufen in endloser Reihe und gleichbleibendem Tempo vor den Läufen der Gewehre entlang. Die meisten überleben, die Schützen sind betrunken.

Justus lacht und dreht sich um die eigene Achse, ist sein eigenes Karussell, sieht Menschen, Liebespaare, Mütter, Väter, Kinder, Jugendliche, zwei Alte, Hand in Hand, und dann einen Einzelgänger. Ein hagerer Mann, er geht leicht gebückt, die Kapuze seines schwarzen Shirts weit über den Kopf gezogen. Ein Eindringling. Der Sensenmann, ohne Sense allerdings. Vielleicht hat er gar nichts Böses im Sinn, vielleicht will er sich auch nur vergnügen.

Der Mai ist gekommen!, verkündet die Melodie des Akkordeons und wie bestellt steht Marie plötzlich vor ihm und greift nach seiner Hand.

„Jetzt müssen wir tanzen, Justus“, sagt sie, lächelnd und ein wenig außer Atem. „Nun komm doch, es ist Mitternacht! Der Mai ist gekommen und wir müssen jetzt tanzen, sonst ist es zu spät!“

„Ach ja“, erwidert er. Sein Rücken fühlt sich mit einem Mal steif wie ein Stock an. „Es ist nur … Ich kann gar nicht tanzen, ich fand das immer irgendwie lächerlich!“

„Du musst es nur mal versuchen, Justus. Jeder kann tanzen! Das liegt doch in unserer Natur! Und außerdem, wer weiß, vielleicht wählen sie mich ja zur Maikönigin! Ich war noch nie eine Königin! Also komm schon, tanz mit mir!“

Entschlossen zieht Marie ihn zu sich heran, umschlingt seine Hüfte und presst ihren Kopf an seine Brust. Dann beginnt sie, ihn hin- und herzubewegen wie eine Mutter, die ihr Kind schaukelt. Erstaunlich, denkt er, sie ist auf einmal wie ausgewechselt, fröhlich und voller Energie.

In der Nacht zum 1. Mai wird getanzt. So tun es die Lebenden. Und wenn man noch nicht ganz tot ist, sollte man wohl besser mitmachen.

Justus

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