Читать книгу Justus - Beatrice Lamshöft - Страница 8
1. Mai 1982
ОглавлениеDie jungen Birkenbäumchen rechts und links des Sarges waren mit weißen Bändern geschmückt, schlicht, aber dennoch dekorativ, und sie ließen seine Mutter mit ihren langen dunklen Haaren, der blassen weißen Haut und ihrem zierlichen Körper, den man mit einer cremefarbenen Spitzenbluse bekleidet und bis zur Hüfte mit einem weißen Laken zugedeckt hatte, sie ließen seine Mutter aussehen wie Schneewittchen, die im Wald in einem Sarg gelegen hatte. Schneewittchen über den sieben Bergen bei den sieben Zwergen, Schneewittchen, die sterben musste, weil ihre böse Stiefmutter, eine Hexe, eifersüchtig gewesen war und sie mit einem Apfel vergiftet hatte. Aber sie war ja gar nicht tot gewesen. Sie hatte ja nur geschlafen, bis der Prinz gekommen war, um sie wach zu küssen. Seine Mutter hatte ihm die Geschichte vorgelesen.
Er spürte die Hand seines Großvaters auf seiner Schulter, die zitterte und nicht aufhören wollte zu zittern, und ihm war so übel, so unglaublich übel, dass er keine Traurigkeit empfinden konnte. Alle hatten geweint, nur er nicht. Ihm kam der Gedanke, dass er nun auch endlich weinen sollte, aber er konnte nicht. Ihm war einfach nur wahnsinnig übel. Und sein rechtes Knie brannte. Er fühlte, wie der Stoff seiner Hose an seiner Haut festgeklebte. Eigentlich wollte er in diesem Moment nur eins, sich endlich übergeben, aber das konnte er nicht, denn es gab ja kein Klo im Esszimmer, wo man seine Mutter am Morgen aufgebahrt hatte. Also unterdrückte er den Brechreiz, so gut es ging, was ihm jedoch zunehmend schwerfiel. Immer wieder tief ein- und ausatmen, das half ein bisschen.
Der Raum war abgedunkelt, wahrscheinlich, damit man die Kerzen besser sehen konnte, die zu beiden Seiten des Sarges brannten. Sechs stolze Soldaten, die die Stille bewachten. Sie standen auf schwarzen bodentiefen Ständern, waren schneeweiß und ein bisschen dicker als die schmalen Stämmchen der jungen Birken dahinter. Justus starrte in die Flammen. Sie bewegten sich, wenn die Tür geöffnet wurde und jemand eintrat oder den Raum wieder verließ.
Niemand hatte die Kerzen auf seiner Geburtstagstorte angezündet. Alle Geschenke waren noch eingepackt. Sie lagen im Wohnzimmer auf dem Tisch mit den goldenen Löwenbeinen. Zwei große standen daneben. Der Raum war mit Luftballons und Girlanden geschmückt, in Blau und Rot, seinen Lieblingsfarben. Mama hatte sie aufhängen lassen und geschimpft, weil sie fand, dass es nicht genug waren. Dann war sie in die Badewanne gegangen. Dann hatte sie Kopfweh bekommen. Dann hatte sie sich schön gemacht. Dann hatte sie sich hingelegt. Dann waren die Gäste gekommen. Dann hatte sie getanzt. Dann war sie wieder in die Badewanne gegangen. Dann war sie gestorben.
An der Lampe im Esszimmer hatten auch Ballons gehangen, mehr rote als blaue. Jemand hatte sie weggenommen. Jetzt lag Mama da, in einem Sarg. Und sah aus wie Schneewittchen. Genau so, wie sich jeder Schneewittchen vorstellen würde. Aber Papa war kein Prinz, er konnte Mama wohl nicht wachküssen. Und kein richtiger Prinz würde kommen und es tun, denn kein richtiger Prinz hätte Schneewittchen geküsst, wenn sie schon verheiratet gewesen wäre.
Der Großvater räusperte sich. Es klang viel zu laut. Er hatte ihm zu seinem Ehrentag eine Überraschung für den Nachmittag versprochen. Im vergangenen Jahr war es ein Kettenkarussell gewesen, das er für ihn und seine Gäste im Garten hatte aufbauen lassen. Es war sehr lustig gewesen. Karussellfahren machte schwindelig. Zwei Kinder hatten es nicht vertragen und sich übergeben. Dieses Jahr war die Überraschung ein Zauberer, der nun aber gar nicht zaubern konnte. Er saß bei der Köchin Inge in der Küche und aß und trank und jammerte.
Justus holte tief Luft. Immer wieder tief ein- und ausatmen, das machte es leichter. Ein bisschen. Die Tür ging auf, die Kerzen flackerten, und Tante Cordula kam herein.
„Ach, Papa“, sagte sie kaum hörbar.
Justus drehte sich nicht um, denn er glaubte zu wissen, dass er sich jetzt nicht umdrehen durfte. Genauso war es in der Kirche, wenn er vorn saß. Man durfte sich nicht umdrehen. Das war unanständig.
Tante Cordula schluchzte. Der Großvater zog seine Hand von Justus‘ Schulter und nahm seine weinende Tochter in den Arm. Er sah nicht, wie der Großvater es tat, aber er spürte es, ganz deutlich. Das Gewicht der Hand hatte schwer auf ihm gelastet. Nun, da sie weg war, fühlte er eine deutliche Erleichterung, die die Übelkeit ein wenig verringerte.
Der Zauberer hatte ihm von seinem Geburtstagskuchen zu essen gegeben. Es war ein Schokoladenkuchen mit einer Marzipandecke und Aprikosenmarmelade in der Mitte. Auf der Torte hatte sein Name gestanden − Justus in Rot und eine blaue Fünf darunter. Über dem Namen war eine gelbe Sonne gewesen mit blauen Augen und einem roten lachenden Mund und Strahlen, die über den ganzen Kuchen liefen. Am Rand hatten fünf Kerzen gesteckt. Die hätte jemand anzünden sollen, damit er sich etwas hätte wünschen können. Er hätte sich gewünscht, dass Mama wieder aufwacht. Wie Schneewittchen. Vielleicht hätte es nicht geklappt, aber er hätte es ausprobieren können. Doch niemand hatte die Kerzen angezündet, auch der Zauberer nicht.
Mit einem langen Messer hatte er Justus, die Fünf und die Sonne zerschnitten, den Kuchen in große Stücke eingeteilt, von denen er eins für „das arme Geburtstagskind“, wie er sagte, auf einen Teller gelegt und zu ihm herübergeschoben hatte, ohne Sahne draufzugeben, denn es gab keine Sahne an diesem Tag und auch keinen Kakao. Dann hatte er sich selbst ein großes Stück genommen. Und kurz danach noch eins. Justus hatte seinen Kuchen gegessen, ohne den Zauberer auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er war ein großer blasser Mann mit langen schwarzen Haaren und fiesen Pickeln im Gesicht, sieben genau, zwei auf der Stirn, drei auf der rechten und einem auf der linken Wange und einem am Kinn, direkt neben dem tiefen Grübchen. Der Zauberer hatte die Kuchenstücke in sich hineingestopft, als hätte er ganz lange nichts zu essen bekommen. Sein Gesicht sah so käsig weiß aus, alles an ihm war farblos, bis auf die Pickel und den dunkelblauen Samtanzug, den er trug.
Der Gedanke, dass der Zauberer womöglich seinen ganzen Geburtstagskuchen allein aufessen würde, war ihm unerträglich gewesen. Er hätte etwas zaubern sollen, dann hätte er sich den Kuchen verdient. Aber so? Justus hatte ihm so viel Kuchen weggegessen, wie er schaffte, drei große Stücke, dann konnte er nicht mehr, weil ihm schlecht geworden war. Inge, die vor Mama immer Reißaus genommen hatte, hatte nichts von dem Kuchen haben wollen. Sie hatte nur geweint, die ganze Zeit, und ihre Augen waren ganz rot und geschwollen gewesen. Außerdem hatte sie ganz stark geschwitzt. Vielleicht weil sie schon alt war, oder es kam vom Weinen. Ihr Schweiß stank ganz widerlich. Sie war immer wieder zu ihm gekommen und hatte ihn fest an sich gedrückt. Das war unglaublich ekelhaft gewesen. Wenn er nur daran dachte, wurde der Brechreiz unerträglich.
Tante Cordula schluchzte wieder auf. „Papa“, sagte sie, „jetzt sind sie wieder da!“
„Ja“, antwortete der Großvater mit heiserer Stimme, „es muss wohl sein.“
Am Morgen waren Männer gekommen. Einer mit einem blauen Wagen und zwei Polizisten in einem Polizeiauto. Die Männer hatten sich mit dem Großvater gestritten. Er hatte nicht verstehen können, worum es ging, die Leute hatten am Hauseingang gestanden, und er war zu weit weg gewesen. Er hatte auf der Schaukel im Garten gestanden, weil er so ein bisschen besser sehen konnte, was vor dem Haus vor sich ging. Tante Cordula hatte ihn an diesem Morgen angezogen. Sie hatte ihn im Garten gefunden, ihn auf den Arm genommen, ins Haus getragen und ihm in die Kleider geholfen. Er hatte sich nicht selbst anziehen dürfen. Mama wollte immer, dass er es selbst tat, aber Tante Cordula erlaubte es nicht. Sie hatte ihn angezogen bis auf die Schuhe. „Da!“, hatte sie gesagt, „zieh die an, und dann geh zurück in den Garten, ich komm gleich nach.“
Ausgerechnet die schwarzen Schuhe hatte sie ihm gegeben. Wo sie doch Schnürsenkel hatten und er keine Schleife binden konnte. Dann waren die Männer gekommen, gerade als er rausgelaufen war, mit offenen Schuhen. Er war nicht stehen geblieben, sondern rüber zur Schaukel gerannt und hatte sich daraufgestellt. Dort durfte er sein, das wusste er, das war sein Ort im Garten, die Schaukel, sie gehörte ihm wie das Kinderzimmer, ganz sicher.
Der Großvater war herausgekommen. Die Männer hatten etwas gesagt, und der Großvater hatte gebrüllt, wie Justus es noch nie gehört hatte. Aber dann, ganz plötzlich, mitten im Satz, hatte er sich umgedreht und war ins Haus zurückgegangen. Der Mann und die beiden Polizisten waren ihm einfach gefolgt. Einen Augenblick später war Tante Cordula zu ihm in den Garten gekommen. Und dann hatte sie ihm gezeigt, wie man Schuhe band: so und so und dann so, immer wieder, so und so und dann so. Sie war zur Seite gegangen, und er hatte das Gleichgewicht verloren, war von der Schaukel gefallen und hatte sich sein rechtes Knie aufgeschlagen. Genau in diesem Moment war der große schwarze Wagen mit dem Sarg für Mama gekommen. Er war nicht aus Glas gewesen wie bei Schneewittchen.
Justus spürte die Hand des Großvaters, die erneut sanft seine Schulter drückte. „Komm, Justus“, sagte er. „Wir müssen die Mama jetzt gehen lassen.“
Tante Cordula weinte schrecklich laut. Der Großvater zog sie und Justus aus dem Raum. Vor der Tür standen Papa und zwei Männer in schwarzen Anzügen. Papa sah nicht zu ihm hinunter, um ihn zu begrüßen, sondern starrte nur auf die Tür des Esszimmers, die einen Spaltbreit offen stand. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass Justus ihn sah. Papa wirkte nicht, als hätte er geweint. Aber sein Gesicht war so, als wäre es eingefroren, ganz unbeweglich und grau. Er ging zu Mama hinein, und Justus wusste, dass er sie nicht wachküssen konnte. Seine Knie begannen zu zittern, und nun war die Übelkeit plötzlich so schlimm, dass er ganz dringend wo hinlaufen musste, um sich zu übergeben. Er ließ alle anderen stehen und rannte hinaus in den Garten. Seine Beine fühlten sich so merkwürdig an, als wollten sie einschlafen und nicht laufen.
Am Kirschbaum blieb er stehen. Dort hatte er am Morgen gepinkelt. Er glaubte, den Urin zu riechen, aber er roch nicht wie Pipi, sondern wie der Schweiß von Inge. Justus übergab sich. Er würgte den süßen braunen Geburtstagskuchen aus sich heraus, bis sein Magen leer war und er sich besser fühlte. Als er sich aufrichtete und wieder zum Haus zurücktrottete, bemerkte er den schwarzen großen Wagen, den er schon am Vormittag gesehen hatte. Die beiden schwarz gekleideten Männer kamen aus dem Haus. Sie trugen den Sarg, in dem Mama lag. Nun war ein Deckel drauf. Vielleicht war Mama aber auch gar nicht mehr in dem Sarg. Vielleicht wollten die Männer nur den Sarg zurückhaben und Mama war immer noch im Haus.
Papa kam heraus. Er schaute zu ihm herüber und nickte.
Justus' Herz brannte. Es tat ganz furchtbar weh. Und seine Beine wollten nicht mehr stehen. Sie knickten ein, und er fiel auf den Boden. Er weinte, weil er glaubte, nun nie mehr laufen zu können, und weil er es wusste.
Sie nahmen Mama mit. Und er würde sie nie mehr wiedersehen.