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16. November 1987

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Der Großvater rückte die Kissen zurecht, und Justus rutschte vorsichtig nach oben, bis er einigermaßen gerade saß. Dann zog er die Bettdecke bis unter seine Arme und winkelte seine Knie an, sodass er das große Fotoalbum darauf ablegen konnte. Wann hatten er und der Großvater es zum letzten Mal angesehen? Das war schon eine ganze Weile her. Er kannte die alten Aufnahmen, doch weil es so viele waren, konnte er sie immer wieder neu entdecken. Manche Bilder glaubte er sogar zum ersten Mal zu sehen, was schön war, denn dann konnte er danach fragen und der Großvater erzählte ihm eine kleine Geschichte oder Anekdote dazu.

Andächtig schlug er das alte Album auf. Es war ein besonderer Moment für ihn, beinahe so feierlich wie Heiligabend, wenn in der Kirche die Weihnachtsgeschichte vorgelesen wurde. Es begab sich aber zu der Zeit … da lebte eine Familie namens Zimmermann in Deutschland. Die wohnte auf dem Land bei Bad Windsheim in der Nähe von Nürnberg, und sie hatte einen großen Hof, ein Gutshaus und viele Mägde und Knechte.

Gleich auf der ersten Seite war ein großformatiges Schwarz-Weiß-Foto eingeklebt, das die Familie und das Gesinde bei der Heuernte zeigte. Der Großvater kannte nicht alle beim Namen, aber an viele konnte er sich gut erinnern, nicht nur, wie sie hießen, sondern auch, wen sie geheiratet hatten, wie viele Kinder sie hatten und wie viele von diesen früh gestorben waren − an Masern, Diphterie oder diversen grausamen Unfällen. Ein Bruder des Großvaters war gestorben, weil er als zweijähriges Kind, wohl nur aus Langeweile, ganz viel Salz in seine Suppe geschüttet hatte. Der Urgroßvater war ein sehr strenger Mann gewesen und hatte darauf bestanden, dass der Kleine den ganzen Teller Suppe leerte, obwohl diese vollkommen versalzen war. Der arme Albrecht war daran gestorben, an Versalzung, sozusagen. In Justus‘ Vorstellung war dies der grauenvollste Tod von allen und eine schrecklich Strafe für ein so kleines Vergehen.

Großvater“, sagte er, „wenn ich der Albrecht gewesen wäre, ich hätte die Suppe nicht gegessen. Ich hätte einfach die Lippen zusammengepresst oder wäre davongelaufen!“

Hm …“, grummelte der Großvater. Er hatte eine sehr tiefe Stimme, und wenn er nachdenklich war, war sie sogar noch tiefer als sonst. „Das waren damals andere Zeiten, Justus, da mussten die Kinder gehorchen, sonst hat’s was gesetzt! Dein Urgroßvater hat uns immer mit einer Rute verdroschen, ich hab heut noch Narben davon!“

Aber der Albrecht war doch noch ganz klein!“

Na ja, trotzdem wird er schon gewusst haben, dass ihm was blüht, wenn er nicht gehorcht. Die Erziehung war früher anders, weißt du! Sehr streng. Als Kind musste man sich anständig benehmen, darauf wurde viel Wert gelegt.“

Heute find ich die Erziehung besser!“, sagte Justus, während er nachdenklich auf den kleinen Albrecht starrte.

Der Großvater lachte. „So, so. Na ja, aber manche Kinder benehmen sich heute, als ob sie gar keine Erziehung bekommen hätten. Und mancher Erwachsene auch. Leider.“

Der Arzt hatte sich verabschiedet und versprochen, später noch einmal vorbeizuschauen. Angelina war nicht mehr zurückgekommen, nachdem sie die Schale mit dem Eiter weggetragen hatte. Wahrscheinlich war sie sauer, weil sie ja eigentlich Köchin war. Papa hatte ganz kurz zur Tür hereingeschaut, war aber nicht näher gekommen. Er habe es eilig, hatte er gemeint, und werde seinen Krankenbesuch am Abend machen. Krankenbesuch – das Wort klang so förmlich, so wohlerzogen. Aber das war halt Papas Art zu reden.

Wo Tante Cordula steckte, wusste Justus nicht. Vielleicht schlief sie noch, weil sie von der letzten Nacht müde war. Sie konnte ausschlafen − im Gegensatz zu Angelina, der man in den letzten vierundzwanzig Stunden einiges abverlangt hatte und die nun trotzdem das Mittagessen kochen musste.

Der Großvater legte den Arm um ihn und wuschelte ihm mit der Hand durchs Haar. Seine Kleidung roch nach Pfeifentabak, ein gemütlicher Duft, der ihn entspannte, ganz ähnlich wie das Rasierwasser von Dr. Severin.

Er schlug die nächste Seite auf. „Ah, schau mal hier!“, sagte er und zeigte auf ein Ackergerät mit zwei großen Eisenrädern, einer Art Pflug vorne und einem querstehenden Rad dahinter, das aussah wie ein Propeller mit riesigen Gabeln dran. „Das ist eine Kartoffelhexe. Mit dem Schar wurde der Kartoffeldamm angehoben und aufgebrochen, und die Gabeln haben dann die Erde mit den Kartoffeln zur Seite geschleudert. Hinter der Maschine sind die Kartoffelleser hergegangen und haben die Knollen eingesammelt. Manchmal mussten wir Kinder auch helfen beim Einsammeln. Heute macht das alles eine einzige große Maschine, die erntet mehrere Kartoffeldämme gleichzeitig ab. Sie schafft in einer Stunde genauso viel wie die ganzen Leute auf dem Bild da an einem Tag.“

Justus lauschte gebannt den alten Geschichten seines Großvaters, Geschichten von fleißigen Knechten, dummen Tanten, Kinderstreichen und strengen Lehrern, von großen und kleinen Taten, Krankheit und Tod, Geburten und Hochzeiten. Er kannte sie nur zu gut, und doch mochte er sie immer wieder hören. Dies war seine Familie, es gab Gute und Böse, Schlaue und Dumme, Schöne und solche, die, was das Aussehen anging, weniger gesegnet waren, wie der Großvater es ausdrückte. Alle gehörten sie dazu, und er war einer von ihnen, denn Fotos von ihm waren auch in diesem Buch, aber natürlich erst auf den hinteren Seiten.

Hier“, sagte der Großvater, „das sind dein Urgroßvater und deine Urgroßmutter, meine Mutter.“ Er zeigte auf das Hochzeitsfoto seiner Eltern. Das Paar schaute ernst, der Urgroßvater trug ein Jackett mit Schwalbenschanz und hielt einen Zylinder in der Hand. Das Brautkleid der Urgroßmutter war schwarz. Nicht weil sich die Familie kein weißes Kleid hätte leisten können, sondern weil es damals wohl schicklich war, in Schwarz zu heiraten. Die Ehe war ein heiliges Sakrament. Justus fragte sich, ob seine Urgroßeltern bei ihrer Hochzeit nicht hatten lachen dürfen oder ob sie nur für das offizielle Foto so ernst dreingeschaut hatten. „Und hier ist deine Urgroßmutter als junge Mutter, da hat sie mich auf dem Schoß. Nach mir hat sie kurz hintereinander zwei Fehlgeburten gehabt, das waren Mädchen, und dann kam wieder ein Junge, der Albrecht.“

Ja, Albrecht, der an Versalzung gestorben war. Ihm lief ein Schauer über den Rücken.

Der Großvater fuhr mit der Familienchronik fort. Zwillinge wurden geboren, Großonkel Heinrich und Großonkel Friedrich. Sie waren mit gerade mal siebzehn Jahren am Ende des Krieges gefallen. Das war für die Urgroßmutter sehr schlimm gewesen, weil sie so an ihren Söhnen gehangen hatte. Sie war sechs Mal schwanger gewesen, und von all ihren Kindern war nur der Großvater übriggeblieben, der das Glück gehabt hatte, im Krieg nur eine Kugel in den Allerwertesten zu bekommen − eine unangenehme Stelle, aber immerhin besser als einen Arm oder ein Bein zu verlieren oder gar das ganze Leben.

Im Lazarett war er von der Großmutter, die im Krieg Krankenschwester gewesen war, obwohl sie eigentlich Sekretärin hatte werden wollen, gepflegt worden. Justus betrachtete ein Foto, auf dem sie in ihrer Schwesterntracht mit Schürze und Häubchen vor einem Lazarettzelt stand und ein wenig verschämt in die Kamera lächelte. Sie hatte fein geschnittene Gesichtszüge, und er erkannte die Ähnlichkeit zu seiner Mutter. Tante Cordula ähnelt mehr dem Großvater, aber sie lächelt genauso wie die Großmutter, dachte er. Das war ihm zuvor noch nie aufgefallen.

Dann schließlich kamen die Fotos, die er am meisten liebte, denn sie zeigten die allerersten Anfänge der Spielzeugmanufaktur Zimmermann. Seine Urgroßmutter war eine recht begabte Schneiderin gewesen, doch auf dem Bauernhof war immer so viel zu tun gewesen, dass sie nur im Winter mal dazu gekommen war, etwas zu nähen. Wenn sie sich ein Kleid geschneidert hatte und noch etwas Stoff übrig gewesen war, dann hatte sie daraus kleine Püppchen mit aufgestickten lieben Gesichtchen angefertigt. Zunächst hatte sie alle verschenkt, an ihre Nichten und an Kinder armer Leute aus dem Dorf. Irgendwann hatte sie erste Aufträge bekommen, von fremden Leuten, deren kleine Kinder Gefallen an ihren hübschen weichen Püppchen fanden, und die nicht so viel Geld besaßen, dass sie sich eine Käthe-Kruse-Puppe hätten leisten können.

Justus verstand, dass es in der Vergangenheit drei Zeiten gegeben hatte: die vor, die während und die nach dem furchtbaren Krieg. Vor dem Krieg war die Welt noch in Ordnung gewesen, während des Krieges hatten alle furchtbare Angst und Hunger gehabt, und nach dem Krieg war alles zerstört gewesen. Aber nach dem Krieg war auch die Zeit des Neuanfangs, und wer fleißig gewesen war und ein bisschen pfiffig im Kopf, wie der Großvater sagte, der hatte damals was auf die Beine stellen können.

Der Familie Zimmermann mit ihrem Bauernhof war es nach dem Krieg erst mal ziemlich schlecht gegangen, weil so viele Männer gefallen waren und kaum noch jemand dagewesen war, um die schwere Arbeit auf den Feldern zu tun. Auch hatte sich der Urgroßvater, wohl aus Verbitterung über den verlorenen Krieg und seine gefallenen Söhne, zu einem ganz schlimmen Despoten entwickelt, dem man nichts recht machen konnte und der immer nur herumschrie. Niemand hatte für ihn arbeiten wollen, weil er so jähzornig gewesen war.

Aber eines Tages, im Sommer 1948, gerade als er Luft geholt hatte, um wieder einmal loszubrüllen, konnte er plötzlich nicht mehr reden. Ihn hatte der Schlag getroffen, und fortan hatte er nur noch „sel“ gesagt. Wenn man ihn fragte, wie es ihm ging, sagte er „sel“. Und wenn man ihn fragte, ob er noch etwas Suppe wolle, sagte er auch „sel“. Manchmal sagte er es auch zweimal hintereinander − „sel, sel.“ Und wenn er wütend war, dann wiederholte er es immer und immer wieder und guckte ganz grimmig dabei. Bis zu seinem Tod fünf Jahre später hatte er kein einziges anderes Wort mehr gesprochen.

Von dem Tag an, an dem es dem Urgroßvater die Sprache verschlagen hatte, war es wieder bergauf mit der Familie gegangen. Der Großvater hatte das Sagen auf dem Hof übernommen und die Großmutter geheiratet, die eine ordentliche Mitgift bekam, weil sie aus einer wohlhabenden Familie stammte. Anfangs war diese nicht besonders glücklich darüber gewesen, dass eine ihrer drei Töchter einen einfachen Bauernsohn zum Mann gewählt hatte. Später war es dann nicht mehr so schlimm gewesen − als der Großvater die Fabrik hatte und sie reiche Leute geworden waren. Die Mitgift der Großmutter hatte es ermöglicht, neues Gesinde einzustellen, und die Urgroßmutter durfte fortan so viele Püppchen nähen, wie es ihr Spaß machte, denn sie brauchte nicht mehr auf dem Feld mitzuarbeiten.

Justus holte tief Luft. Immer wenn der Großvater an die Stelle kam, wo der Urgroßvater nichts mehr zu sagen hatte, weil er nicht mehr reden konnte, und die Urgroßmutter anfing, ganz viele Püppchen zu nähen, wusste er, jetzt begann die Geschichte der Spielzeugfirma, das Wunder der Familie Zimmermann. Er nahm einen großen Schluck Wasser.

Es tut gar nicht mehr weh, Großvater!“, sagte er.

Ja, siehst du, es lohnt sich immer, tapfer zu sein!“

Der Großvater wuschelte ihm mit der rechten Hand durch die Haare, dann blätterte er weiter und sie betrachteten die Fotos auf den folgenden Seiten. Justus sah seine Urgroßmutter vor einem Haufen kleiner Stoffpüppchen, die sie aus verschieden gemusterten Stoffen genäht hatte. Sie strahlte über das ganze Gesicht, man konnte deutlich ihre schiefen Zähne sehen. Wie alt mochte sie dagewesen sein? Er fragte den Großvater.

Das war 1949, als die Bundesrepublik gegründet wurde. Da war sie, na, so ungefähr Mitte fünfzig.“

Mitte fünfzig erst! Er zog die Augenbrauen hoch. Er hätte sie viel älter geschätzt. Nun ja, vielleicht lag das an der altmodischen Kleidung, die sie trug, und an der strengen Frisur. Links neben ihr, zurückgelehnt und nicht gut zu erkennen, saß der Urgroßvater. Er lachte nicht, er hatte ein ganz ernstes Gesicht, so wie auf dem Hochzeitsfoto. Auf der rechten Seite stand Urgroßonkel Alois, der Mann von Urgroßmutters Schwester Margarete. Er war Werkzeugmacher und ein lustiger Geselle gewesen, hatte der Großvater erzählt. Eigentlich war es Onkel Alois gewesen, der als Erster das produzierte, womit sie später die Firma gründeten. Weil ihm die Püppchen von der Johanna, so hieß die Urgroßmutter, weil ihm die Püppchen so gefielen und weil er sowieso Kinder furchtbar gern hatte und immer mit ihnen spielte, wenn er Zeit hatte, fing er an, kleine Spielzeugautos und Blechtröten zu bauen. Die Püppchen, Autos und Tröten verkauften sie zunächst so nebenbei auf dem Wochenmarkt, zusammen mit Kartoffeln, Kohlköpfen, Sellerie und Möhren. Aber dann, an einem Samstag im August 1950, kam ein junger Mann, der hieß Holderbusch oder so ähnlich, und er fragte, ob Onkel Alois die Blechteile, die den Ton in der Tröte machten, ob er die nicht in größerer Stückzahl produzieren wolle, weil er für eine kleine Spielzeugfirma arbeite, die so was gut gebrauchen könne.

Zunächst waren es fünfzig gewesen, dann kam eine neue Anfrage für hundert Stück, dann hundertfünfzig. Es waren immer neue und größere Aufträge gekommen, und schließlich waren es so viele gewesen, dass Onkel Alois nichts anderes mehr gemacht hatte, als diese sogenannten Blechstimmen herzustellen. Nun habe er als Werkzeugmacher viel Geschick bewiesen, sagte der Großvater, und auch an Fleiß habe es ihm nicht gemangelt, aber pfiffig sei er nicht gewesen, und mit geschäftlichen Dingen habe er sich nicht ausgekannt. Deshalb sei es ihm ganz lieb gewesen, alle vertraglichen Verhandlungen dem Großvater zu überlassen. Der war ein schlauer Fuchs und hatte gute Konditionen ausgehandelt. Außerdem war er mutig genug gewesen, einen weiteren Werkzeugmacher einzustellen, um die Produktion steigern zu können. Elmar Becker hatte der erste Angestellte geheißen. Justus erkannte ihn sofort auf einem der Fotos wieder, ein junger Mann mit einem breiten Gesicht und weit auseinanderstehenden Augen.

Irgendwann“, so fuhr der Großvater fort, während er langsam in den Seiten des Albums weiterblätterte, „irgendwann ist mir klar geworden, dass wir nicht nur für eine Firma arbeiten durften, weil wir dann immer von deren Gutdünken abhängig gewesen wären. Also habe ich im Dezember 1953 die Firma Zimmermann Spielzeug gegründet, deren Geschäftsführer ich wurde.“ Er hatte neue Aufträge von anderen Firmen beschafft und Spritzgussmaschinen erworben, mit denen man kleine Plastikteile herstellen konnte.

Justus betrachtete aufmerksam die Fotos der monströsen Maschinen. Sie waren der ganze Stolz der neu gegründeten Firma gewesen, gusseiserne Monster, die so altertümlich wirkten, dass es ihm schwerfiel, sich vorzustellen, dass man damit so etwas Modernes wie Plastik verarbeiten konnte.

Der Großvater hatte sich um Aufträge und Verhandlungen gekümmert, Onkel Alois hatte die Produktion geleitet. Weil niemand mehr Interesse an dem Bauernhof gehabt hatte, hatte man entschieden, das Land zu verpachten. Die Scheunen, die nun nicht mehr gebraucht wurden, waren nach und nach zu Produktionsstätten umgebaut worden. Immer neue Mitarbeiter waren hinzugekommen, 1958 waren es bereits fünfundzwanzig gewesen. Die Großmutter hatte den Versand geregelt. Sie war also tatsächlich doch so etwas wie eine Sekretärin geworden, und ihr hatte die Arbeit viel Spaß gemacht.

1960 war der nächste entscheidende Schritt gefolgt – die Firma Zimmermann Spielzeug sollte nicht länger nur eine Zuliefererfirma sein, sondern ein eigenes Spielzeugsortiment auf den Markt bringen. Die Zielgruppe waren Käufer mit mittleren und niedrigen Einkommen gewesen.

So wie die Urgroßmutter schon Püppchen für Kinder armer Leute genäht hat, weil die sich kein teures Spielzeug leisten konnten!“, bemerkte Justus.

Der Großvater lächelte. „Ja, da hast du recht! Das hat sie gemacht!“

Wieder wuschelte er über Justus Kopf, und eine Weile sagte er nichts, betrachtete nur nachdenklich ein Foto, auf dem die Urgroßmutter zu sehen war, von einem Rückenleiden gebeugt und auf einen Krückstock gestützt. Neben ihr Großonkel Alois, der lachend irgendein Papierstück in die Kamera hielt.

Als der Großvater sich räusperte, um weiterzuerzählen, ertönte im Treppenhaus die alte Messingglocke, die ankündigte, dass das Mittagessen in fünf Minuten auf dem Tisch stehen würde. Allerdings nicht für Justus, denn man hatte ihm strenge Bettruhe verordnet, auch wenn er sich nach dem morgendlichen Eingriff, dem Spalten, wie der Arzt es genannt hatte, nun deutlich besser fühlte.

Der Großvater klappte das Fotoalbum zu, legte es aber nicht auf dem Schreibtisch ab, damit sie am Nachmittag weiter darin blättern konnten, sondern nahm es mit sich, um es vermutlich in die Bibliothek zurückzubringen, einem kleinen Raum, in dem es außer alten, mit Holzschnitzereien verzierten Bücherregalen nur einen einzigen Sessel gab. Der Raum befand sich im Erdgeschoss, direkt neben dem Arbeitszimmer des Großvaters.

Die Glocke hatte zur rechten Zeit geläutet. Noch eine Seite mit Bildern vielleicht, dann hätte der Großvater bestimmt einen Vorwand gefunden aufzuhören, was er damit begründet hätte, dass er seine Stimme schonen müsse, oder damit, dass er noch ein Telefonat führen müsse, oder es schlicht für den Moment genug sei und man später mal die anderen Bilder ansehen werde, was dann aber nie geschah.

Auf den Seiten, die folgten, das wusste Justus, waren die Fotos nicht mehr schwarz-weiß. Es waren farbige Aufnahmen, von seiner Mutter Juliana, als sie noch klein gewesen war, und von der Großmutter, die, als sie mit Tante Cordula hochschwanger gewesen war, an einer Lungenentzündung erkrankt und zwei Wochen nach der Geburt gestorben war. Der Verlust seiner Frau und seiner Tochter Juliana hätten dem Großvater das Herz gebrochen, das hatte Inge immer gesagt. Sie war die einzige gewesen, die es offen ausgesprochen hatte.

Mit der Firma war es in den Sechzigerjahren steil bergauf gegangen. Die Zahl der Mitarbeiter war binnen kurzer Zeit auf knapp dreihundert gestiegen und der Umsatz in die Höhe geschnellt. Man hatte in der Nähe von Nürnberg ein großes Gelände erworben und Produktionshallen erstellt. Der alte Bauernhof, in dem der Großvater geboren worden war, war nach und nach erweitert worden, indem man die ehemaligen Stallungen und späteren ersten Produktionsstätten zu Wohnraum umgebaut hatte. Irgendwann war so ein ansehnlicher Landsitz entstanden. Es war reichlich Platz vorhanden gewesen, um eine große Familie zu beherbergen, nur dass es zum Zeitpunkt der Fertigstellung schon gar keine Großfamilie mehr gegeben hatte.

Justus liebte es, die lange geschwungene Treppe ins Erdgeschoss hinunterzugehen und sich dabei vorzustellen, wie seine Vorfahren, die er von den Fotos kannte, es fünfzig Jahre zuvor ebenso getan hatten. Doch diese Vorstellung war nicht richtig, das hatte ihm Tante Cordula einmal klargemacht, und ihm dann erzählt, was alles in der Zeit geschehen war, in der die Fotos farbig wurden.

Nachdem die Firma Zimmermann und Söhne mit der Produktion einer eigenen Spielzeugserie begonnen und diese sich als ausgesprochen erfolgreich herausstellt hatte, waren in der Familie Begehrlichkeiten aufgekommen. Ein übler Streit war vom Zaun gebrochen, als Onkel Alois den Großvater bezichtigt hatte, ihn betrogen zu haben. Der Großvater hatte ihn zwar eingestellt und ihm ein sehr hohes Einkommen gezahlt, aber er hatte ihn angeblich nie an der Firma beteiligt. In Wirklichkeit war es jedoch so gewesen, dass der Großvater ihm in den Fünfzigerjahren ein Angebot unterbreitet hatte, Teilhaber zu werden. Das Risiko, dann aber auch für die Kredite geradestehen zu müssen, die der Großvater für die Finanzierung der Maschinen hatte aufnehmen müssen, war dem Onkel Alois allerdings zu groß gewesen, und er hatte das Angebot abgelehnt. Als sie dann einige Jahre später den großen Streit gehabt hatten, hatte er sich plötzlich nicht mehr daran erinnern können. Niemand aus Großmutters Familie konnte es. Und dann, 1966, war Onkel Alois plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Da war dem Großvater dann auch noch unterstellt worden, er habe seinen Onkel mit seiner Habgier ins Grab gebracht.

Es war zum Bruch in der Familie gekommen. Der Großvater hatte Onkel Alois‘ Witwe und seinen Nichten, also Tante Margarete und ihren Töchtern, eine große Summe Geld gezahlt, sodass sie finanziell abgesichert waren, aber die Verbitterung war geblieben. 1970 war im Rahmen von umfangreichen Umbaumaßnahmen die kleine Eingangshalle mit der großen geschwungenen Treppe entstanden, doch waren auf ihr kaum noch Verwandte hinauf- und hinuntergelaufen, weil nur noch selten jemand zu Besuch gekommen war, der nicht irgendwie in den Streit verwickelt gewesen war und sich auf die Seite des Großvaters geschlagen hatte.

Als die Fotos schwarz-weiß waren, ist die Welt irgendwie noch ganz anders gewesen, dachte Justus, während er seine Kopfkissen ordnete, um sich wieder hinzulegen. Zumindest die seiner Familie. Sicher, es hatte viele furchtbare Dinge gegeben, Kinder waren an Krankheiten und schrecklichen Unfällen gestorben und dann war auch noch der furchtbare Krieg gekommen. Aber alles war auch viel einfacher gewesen. Oder nicht? Geordneter irgendwie, und alle hatten zusammengehört. Die Frauen hatten alle Röcke getragen, die Männer hatten das Sagen gehabt, und jeden Tag war Hausmannskost auf den Tisch gekommen. Nur die Erziehung war nicht in Ordnung gewesen. Auf keinen Fall. Und eigentlich sollten die Männer auch nicht alles bestimmen, Frauen sollten genauso viel zu sagen haben. Und italienisches Essen war meistens ziemlich lecker. Und chinesisches auch.

Früher war alles schwarz-weiß und geordnet und heute ist alles bunt und durcheinander, dachte Justus, als er plötzlich merkte, wie unglaublich müde er war. Er schloss die Augen und schlief ein.



Justus

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