Читать книгу Justus - Beatrice Lamshöft - Страница 14
Drei Jahre später, 18. Mai 1990
ОглавлениеEinsteins Relativitätstheorie, die mit Sicherheit niemand sonst im Klassenzimmer der 8a des Bad Windsheimer Gymnasiums begriff, einschließlich des Geschichtslehrers, der bestenfalls Jahreszahlen aufzählen konnte − Einsteins Geburt, Einsteins erste wissenschaftliche Veröffentlichung, wann er wo hingezogen war, der Tag seines Todes, Daten, die Ereignisse lediglich chronologisch sortierten, ohne jedoch deren Bedeutung zu erfassen −, diese vermaledeite Relativitätstheorie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wenn man sich schnell genug vorwärtsbewegte, konnte man in die Zukunft reisen. Schneller als Licht sein, das war der springende Punkt. Es war schwierig, sich diesen physikalischen Vorgang vorzustellen. Umso verlockender waren die Möglichkeiten, die er eröffnete.
Es gab also keine Zeit. Zeit war lediglich der irreführende Begriff für eine Welt in Bewegung, die man als einen kontinuierlichen Prozess der Veränderung wahrnahm. Die Zustände der Dinge wechselten, aus einem Spross entstand ein Baum, ein neues Auto rostete und wurde zu Schrott, und irgendwann würden auch seinem Geschichtslehrer Herrn Hermann die Haare und Zähne ausfallen, und er würde all diese dummen Daten vergessen, mit denen er seine Schüler regelmäßig quälte.
Wann wurde Napoleon geboren? Wann krönte er sich zum Kaiser? Wann war Waterloo?
Wann war diese grässliche Stunde endlich vorbei?
Noch dreißig Minuten! Die Wahrnehmung von Zeit variierte, sie konnte sich zusammenziehen und unendlich ausdehnen und hing nicht allein von äußeren Umständen ab, ganz offensichtlich wurde sie auch von der inneren Einstellung beeinflusst. Justus hatte noch keine gute innere Einstellung zum Fach Geschichte entwickelt, das wurde ihm heute wieder bewusst. Er hasste diese Stunden, sehr zum Leidwesen seines Vaters, der als studierter Anthropologe, wie er sich selbst gern betitelte, großen Wert auf die Wurzeln der menschlichen Zivilisation legte.
Wurzeln, Vergangenheit … Wen interessierte das? Was war mit der Zukunft? In Gedanken stieg er in ein Raumschiff, düste damit in rasender Geschwindigkeit um Mars, Venus und Merkur. Er überholte das Licht und kam im Jahr 2012 wieder auf die Erde zurück. 2012. Wie alt wäre er dann? Fünfunddreißig. Mein Gott, richtig alt! Wahrscheinlich würde er dann Direktor der Spielzeugfabrik sein. Wahrscheinlich würde er eine Frau haben und Kinder. Und er würde genauso geachtet und respektiert werden wie sein Großvater und sein Vater. Sein Weg war vorgezeichnet, niemand fragte ihn jemals danach, was er später einmal werden wollte. Er würde in die Fußstapfen seiner Vorfahren treten, das wurde nicht infrage gestellt. Heimlich aber träumte er davon, ein berühmter Astrophysiker zu sein und das Universum zu erforschen.
Er schaute aus dem Fenster. Die roten Rosskastanien im Schulhof blühten. Nach diesem Schuljahr musste er noch fünf lange Jahre in dem alten Gemäuer mit seinen hohen Fenstern, dem quietschenden grauen PVC-Boden und den weiß getünchten Wänden, auf denen man keine Poster kleben durfte, ausharren. Poster waren bah! Poster in Klassenräumen, so was gab es laut seiner Lehrer nur in Hauptschulen.
Nein, in diesem altehrwürdigen Klassenzimmer hingen eine Zeittafel der deutschen Geschichte von Otto dem Großen bis zum Ersten Weltkrieg, Bilder von einheimischen Vogelarten und ihren Gelegen, eine Radierung der Stadt Nürnberg um die Jahrhundertwende, drei gerahmte Kunstwerke von Schülern, die diese Schule vor zehn Jahren oder so besucht hatten − und Jesus. Er war an sein Kreuz genagelt, direkt über der Tafel. Sein Körper hing vollkommen entkräftet vornübergebeugt und ach, welch ein Wehklagen in seinem Gesicht!
Es gab keinen Zweifel, Jesus mochte auch keinen Geschichtsunterricht. Wie lange hing er schon da oben? Wie viele Stunden von Hermanns langweiligem Sermon über Ereignisse, Daten und Fakten hatte er schon anhören müssen, und wann würde endlich jemand kommen und seinen geschundenen Körper abnehmen? Mein Gott, über zweitausend Jahre Leiden, davon etliche in diesem Klassenzimmer, es war genug!
„Hoffmann, Fredo!“
An seiner rechten Seite zuckte der in sich zusammengesunkene Körper seines Freundes so heftig zusammen, dass er selbst wie vom Blitz getroffen hochfuhr. Sodann stellte sich ein Gefühl tiefen Mitleids ein. Niemand hatte so viele Pickel wie Fredo, niemand war so kurzsichtig wie er, niemand lernte so ausdauernd und gewissenhaft, niemand stotterte wie er, und niemand, wirklich niemand, war so prädestiniert, die Rolle des Opfers einzunehmen wie Fredo Hoffmann, Sohn eines evangelischen Religionslehrers und der artigsten Hausfrau, die Deutschland je hervorgebracht hatte.
„Was fällt Ihnen zu Waterloo ein, Hoffmann?“
Das war böse. Wenn Hermann Schüler siezte, dann eindeutig in der Absicht, sie anschließend bloßzustellen. Hermann war nicht nur Geschichtslehrer, er unterrichtete auch Latein und katholische Religion und war obendrein Konrektor des Gymnasiums. Nach außen gab er sich tolerant und weltoffen, aber innerlich, darin bestand kein Zweifel, innerlich konnte er Martin Luther seine fünfundneunzig Thesen nicht vergeben, wahrscheinlich weil sie stimmten und Hermann es nicht widerlegen konnte.
So etwas in der Art hatte jedenfalls sein Vater behauptet, der schon einige Male von Hermann wegen geistiger Abwesenheit seines Sohnes in die Schule zitiert worden war. Die Unterredungen gingen regelmäßig in fachliche Streitgespräche über Religion über, so viel hatte Justus längst verstanden. Alles drehte sich um Kompetenz. Wer sie besaß und wem sie fehlte. Hermann jedenfalls war eindeutig inkompetent, denn er wusste von Zahlen, Daten und Fakten, aber er konnte sie nicht interpretieren. Sein Vater hatte diesen Mangel an Verständnis immer wieder beklagt und ihn mit zahlreichen Zitaten seines Lehrers belegt.
Der Geschichtslehrer trat vor seinen und Fredos Tisch. Er war ein kleiner untersetzter Mann, manch hochgewachsene Schüler konnten ihm bereits gerade in die Augen sehen, wenn sie ihm gegenüberstanden. Sein dicker Bauch wölbte sich aufdringlich über die Tischkante. Justus zählte die Knöpfe an Hermanns rosafarbenem Hemd. War es tatsächlich rosa, oder war es weiß gewesen und hatte sich beim Waschen verfärbt? Ein Knopf hing nur noch lose an einem Faden und würde wohl bald abfallen. Er musste den starken Impuls unterdrücken, ihn einfach abzuziehen. Wenn er es täte, würde das Hemd, das um die Taille ein wenig spannte, sogleich aufspringen und vermutlich den Blick auf die baumwollene weiße Unterwäsche der Marke Schießer preisgeben. Schießer, Spießer, alter Besserwisser, dachte er.
„Waterloo, ich warte!“, donnerte Hermanns Stimme über ihm.
Bildete er es sich nur ein, oder hatte sein Lehrer eine feuchte Aussprache? Ekelhaft!
Er schielte zu Fredo hinüber, der puterrot angelaufen war. An seinen Schläfen bildeten sich kleine Schweißperlen. Vielleicht wusste er etwas über Waterloo. Ganz sicher sogar. Fredo war fleißig. Seine schriftlichen Noten bewegten sich zwischen eins und zwei. Nur mündlich reichte es nie, weil er kein Wort herausbrachte. Einige der Mädchen in der ersten Reihe gackerten leise. Wie er sie verachtete. Die Situation war unerträglich. Er musste etwas tun.
„Sie verlieren einen Knopf, Herr Lehrer!“
Herr Lehrer, das war die lächerlichste Anrede, die ihm einfiel. So redeten Erstklässler in alten Schwarz-Weiß-Filmen. Das halb unterdrückte Lachen einiger Klassenkameraden bestätigte seine Einschätzung. Der dicke Bauch drehte sich in seine Richtung. Ohne Zweifel hatte er nun Hermanns Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und Fredo war erst mal aus der Schusslinie.
„Wir reden hier nicht über Knöpfe, sondern über Waterloo! Ist Ihnen der Sinn für das Wesentliche wieder einmal abhandengekommen, Zimmermann? Was?“
Er schaute Hermann mit hochgezogenen Augenbrauen an, ohne etwas zu erwidern, als bedürfte es keiner Antwort und erst recht keiner Entschuldigung. Eine lähmende Stille füllte den Klassenraum. Jede noch so kleine Bewegung konnte nun ein Geräusch erzeugen, das laut genug gewesen wäre, Hermann eine willkommene Ablenkung zu geben, eine Gelegenheit, sich der Konfrontation mit ihm zu entziehen und seinen Unmut an einem anderen Schüler auszulassen. Aber es geschah nichts, und je länger die Stille andauerte, desto explosiver wurde die Atmosphäre.
„Nun, vielleicht tue ich Ihnen ja Unrecht, und Sie haben fleißig gelernt. Vielleicht wissen Sie ja sogar mehr als ich, und ich kann noch etwas von Ihnen lernen, was?“
Hermanns Stimme zitterte, sie bebte vor Erregung, ein Vulkan, kurz vor dem Ausbruch. Sein Lehrer konnte ihn nicht ausstehen, das stand fest, wohl weniger wegen seines Desinteresses am Unterricht als vielmehr wegen der eindeutigen intellektuellen Unterlegenheit gegenüber seinem Vater. Wahrscheinlich kam noch eine gewisse Eifersucht auf die gesellschaftliche Stellung der Zimmermanns hinzu. Das erwähnte sein Großvater immer wieder, dass er damit rechnen müsse, in seinem Leben vielen Neidern zu begegnen und dass er lernen müsse, damit umzugehen. „In solchen Situationen darfst du nie deine Souveränität verlieren. Lass dich nie zu emotionalen Reaktionen verleiten. Immer schön sachlich bleiben.“ Ja, das hatte er gesagt. Und ein anderer Satz kam ihm nun auch wieder in den Sinn: „Justus, fürchte dich nicht vor Autoritäten, sei selbst eine!“
Er lehnte sich zurück und lächelte, eine lässige Geste, die er seinem Vater abgeschaut hatte, der sich so verhielt, wenn er genau wusste, dass er seinem Gesprächspartner eindeutig überlegen war. War er seinem Lehrer überlegen? Nein, aber darum ging es jetzt auch gar nicht. Es ging um Souveränität, darum, wer sie hatte und wem sie fehlte.
„Vielleicht haben ja alle in der Klasse fleißig gelernt, und ich sollte Ihnen Gelegenheit geben, es zu beweisen … in einem kleinen unangekündigten Test! Das wäre doch was!“
Hermann wendete sich den anderen Schülern zu, die sich duckten und ihren Blick schnell auf den Tisch senkten, um nicht womöglich zu dieser heiklen Frage Stellung beziehen zu müssen. Und Justus wusste, nun war er gefordert, dieses drohende Unheil abzuwenden. Er hob den Finger.
„So, Sie haben was zu sagen, tatsächlich! Ich hoffe, es gehört zum Thema!“
Er nickte. „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat!“
Schach, dachte er. Und wenn sein Lehrer das Zitat nicht kannte, dann war er matt. So gut wie. Er musste sich zusammenreißen, um den vermeintlichen Triumph nicht jetzt schon vollends auszukosten. Schließlich kam gleich noch das Finale, das durfte er auf keinen Fall vermasseln.
„Was? Also, das ist doch …“
Hermann rannte zur Tafel. Der lose Knopf fiel ab. Einige Schüler sahen es und mussten die Lippen fest aufeinanderpressen, um nicht unvermittelt in lautes Gelächter auszubrechen. Mit einem Ruck riss Hermann den Zeigestock an sich, der in einer Halterung neben der Tafel befestigt war. Was wollte er damit? Zuschlagen? Es schien ihn selbst zu überraschen, das Holz plötzlich in der Hand zu halten. Seine Finger krampften sich so fest darum, dass die Handwurzelknochen weiß hervortraten.
„Sie wollen also provozieren, Zimmermann! Und Sie stören den Unterricht! Zum wiederholten Male stören Sie den Unterricht! Das hat Konsequenzen, das verspreche ich Ihnen!“
Er hob erneut die Hand, aber da er einsah, dass Hermann ihm nun wohl kaum noch das Wort erteilen würde, nahm er sich die Freiheit, unaufgefordert zu sprechen.
„Es tut mir leid, Herr Lehrer. Das ist ein Missverständnis. Es ist nur ein Zitat, und ich dachte, es wäre interessant, es zu erörtern.“
„Ein Zitat? Ach, ein Zitat! Von wem? John Lennon vermutlich!“
„Nein. Von Napoleon Bonaparte.“
Hermann öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er rang um Worte, brachte aber lediglich seine Empörung zum Ausdruck.
„Also, also, das ist doch, das ist doch …“
„Ich denke, es ist doch irgendwie bemerkenswert, dass ein Mann wie Napoleon so etwas sagt, und vielleicht könnten Sie uns etwas zu seiner Person erzählen, damit wir uns ein besseres Bild von ihm machen können.“
Seine Klassenkameraden hielten den Atem an. Wie wollte Hermann darauf antworten? Es musste ein Wunder geschehen, um ihn aus dieser Situation unbeschädigt herauskommen zu lassen.
Kein Wunder geschah, aber es klingelte zum Ende der Stunde. Die Erlösung! Hermann knallte den Zeigestock auf sein Pult, schmiss sein kleines schwarzes Notizbüchlein in die offen stehende Tasche und floh aus dem Klassenraum.
Voilà, dachte Justus, und nahm verwundert zur Kenntnis, wie schnell die letzte halbe Stunde vergangen war. Seine Mitschüler lachten, einige warfen ihm bewundernde Blicke zu. Andere schüttelten nur den Kopf. Er hatte nicht nur Fredo gerettet und einen unangekündigten Test abgewendet, sondern auch bewirkt, dass im Fach Geschichte zum ersten Mal seit ungefähr hundert Jahren keine Hausaufgaben aufgegeben worden waren. Sicher, es würde irgendwelche Konsequenzen nach sich ziehen. Aber was hatte er schon Schlimmes getan? Er hatte seinen Lehrer auf einen losen Knopf aufmerksam gemacht und einen Satz von Napoleon zitiert, den sein Vater am Morgen beim Frühstück erwähnt hatte. Das war doch kein schwerwiegendes Vergehen? Er war intelligent. Souverän. Überlegen. Zufrieden packte er seine Sachen ein.
Beim Rausgehen fiel sein Blick auf den kleinen weißen Hemdknopf, der auf dem Boden lag. Sollte er ihn aufheben?
Nein, er wollte sich nicht bücken.