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30. April 1982

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In den Schatten der ausgelassen tanzenden Frauen und Männer, die sich um das große Maifeuer schoben und dabei laut englische Lieder grölten, sah er ganz deutlich die Gestalten von Dinosauriern, von denen er glaubte, es seien bösartige, fleischfressende Monster, die zwar der Legende nach ausgestorben waren, aber in Wirklichkeit noch in geheimen Höhlen lebten und sich dort vermehrten, bis sie eines Tages über die Menschen herfallen und sie vollkommen ausrotten würden.

Es war der Tag vor seinem fünften Geburtstag. Eine Horde Erwachsener hatte sich versammelt, um in den Mai zu tanzen. Seine Mutter war bereits seit dem Nachmittag nicht mehr ansprechbar gewesen, denn sie hatte sich auf den Abend vorbereiten müssen, hatte ein Bad genommen, sich dann allerhand Zeug ins Gesicht und in die Haare geschmiert, um schließlich erst mal mit schlimmem Kopfweh ins Bett zu sinken.

Er wusste, dass er schleichen musste, wenn Mama Kopfweh hatte. Auf keinen Fall durfte er ihr zu nahe kommen, denn seine Anwesenheit löste Stress bei ihr aus. Stress war etwas Furchtbares, eine geheimnisvolle Krankheit, viel schlimmer als Schnupfen, und Mama hatte sie ständig. Deshalb gingen ihr alle aus dem Weg − der Großvater, der Vater, das Personal, ganz besonders Inge, die alte Köchin, die rannte immer sofort in die Küche, wenn Mama irgendwo auftauchte.

So war er an diesem Tag wieder einmal auf den eigens für ihn ausgebauten Dachboden gestiegen und hatte bis zum Abend mit seinen Dinosauriern gespielt. Er besaß die gesamte Kollektion der Spielzeugfabrik seiner Familie, er besaß sie sogar zehn Mal, zweihundertvierzig Figuren, und er hatte keinen einzigen Freund, der ihn nicht darum beneidete.

Sein Spielen mit den Dinosauriern bestand im Aufstellen von Gruppen, die er nach immer wieder neuen Kriterien ordnete. Mal waren es farbig gemischte, aber ungefähr gleich große Tiere, dann teilte er sie nach Land-, Himmels- und Meeresbewohnern ein, oder er sortierte die unterschiedlichen Arten und stellte sie nebeneinander auf, in exaktem Abstand und so, dass die Füße eine gedachte Linie bildeten. Nach etlichen Gruppierungen und Umgruppierungen entdeckte er ein neues spannendes Spiel. Er verband die gegenüberliegenden Seiten des großen, trapezförmig geschnittenen Raumes durch lange Dinosaurierreihen, wobei die Herausforderung darin bestand, von vornherein eine Lücke zwischen den Figuren zu wählen, die gerade so groß war, dass am Ende alle Tiere in die Kette passten und der Abstand zwischen den Köpfen und Schwänzen gleich lang war. Das war ein sehr anstrengendes Unterfangen. Es erforderte seine ganze Konzentration und nahm viel Zeit in Anspruch.

Wenn er es endlich zu seiner Zufriedenheit zustande gebracht hatte, zählte er seine Sammlung. Natürlich wusste er, dass es zweihundertvierzig Figuren waren, aber das Zählen war ein Ritual, mit dem er seinen Erfolg feierte, und es erinnerte ihn zudem daran, dass der Großvater gesagt hatte, er sei ein verdammt schlauer Junge, weil er schon so gut zählen könne, obwohl er noch lange nicht in die Schule komme.

Ab und zu organisierte seine Mutter, dass Freunde auf die alte Gutshofanlage kamen, zum Spielen, damit er nicht so allein war. Er mochte diese Freunde nicht besonders, sie wollten meistens nicht das tun, was er ihnen vorschlug, und fanden seine Art zu Spielen langweilig oder einfach doof. Natürlich konnte keiner von ihnen so gut zählen wie er. Und manche hatten sowieso nur Freude am Kaputtmachen. Sollten sie doch so viel Spielzeug kaputt machen wie sie wollten, es war ihm egal, er bekam davon so viel er wollte, na ja, so lange es Zimmermann-Spielzeug war, natürlich.

Die einzigen Jungen, mit denen er etwas anfangen konnte, waren der kugelrunde Fredo, der immer noch Windeln trug, worüber zu reden seine Mutter streng verboten hatte, und Tilman. Fredo tat alles, was man ihm sagte, weil er sonst gar nichts tat, außer in der Ecke zu stehen und zu gucken. Tilman hingegen war anders: flachsblond, mit kleinen scharfen Schlangenaugen, die stets die Lage sondierten. Tilman musste bestochen werden, damit er kooperierte. Der Preis wurde nie verhandelt, sondern einfach von Tilman festgelegt. Meistens wollte er kleine Dinge haben, die sich gut in Hosentaschen oder unter dem Pullover verstecken und so aus dem Haus schmuggeln ließen. Er gewährte ihm jede Forderung, denn es gab nichts, an dem sein Herz hing, was nicht ersetzt werden konnte.

Nun saß er im Schneidersitz auf einer umgedrehten Regentonne am Rande der kleinen Wiese, die sich direkt hinter dem Gemüsegarten befand, und schaute den Erwachsenen zu, die immer genau wussten, was sie taten und alles richtig machten, sogar wenn sie merkwürdig um ein Feuer tanzten und dabei schrecklich sangen. Er war sehr müde, ohne Frage hätte er eigentlich längst im Bett sein müssen. Aber daran dachte an diesem Abend wohl niemand, und es schien, dass auch das Personal keine Instruktionen erhalten hatte, sich um ihn zu kümmern. Das Zimmermann‘sche Regiment, das sonst so zuverlässig auf die Einhaltung von Regeln achtete, war außer Kraft gesetzt.

Wahrscheinlich lag es daran, dass der Großvater und der Vater nicht im Haus waren. Sie bestanden darauf, Regeln einzuhalten, damit nichts aus den Fugen geriet, wie sie sagten, und weil es sich eben so gehörte. Am Morgen war der Großvater mit strahlendem Gesicht und in wetterfester Kleidung zum Angeln aufgebrochen, seinen Vater im Schlepptau. Der hatte verbissen gelächelt, als Mama ihm zum Abschied fürsorglich eine Thermoskanne mit Kräutertee unter den Arm geschoben und ihm gesagt hatte, er solle sich bloß nicht erkälten. Papa war ein Büromensch, ein Büchermuffel, der sich schnell mal einen Schnupfen zuzog. Mama war ganz anders. Sie machte sich nicht so viel aus Büchern und Regeln, jedenfalls behauptete sie das.

Nun waren die Männer also irgendwo an einem See, den er nicht kannte, und er hatte die einmalige Chance zu erfahren, was Erwachsene taten, wenn er längst im Bett war. Er beobachtete seine Mutter, die eine klein geblümte lilafarbene Bluse und einen bodenlangen dunklen Rock trug, der sie noch schmaler aussehen ließ, als sie ohnehin schon war. Er hatte sie noch nie so gesehen. Üblicherweise bevorzugte sie kurze Röcke und einfarbige Blusen unter „figurbetonten“ Blazern, wie sie ihre Jacken nannte. Und immer lief sie in diesen hochhackigen Schuhen herum, die auf dem Steinfußboden des Hausflures klack, klack machten und alle Anwesenden vor ihrem Herannahen warnten. Die Haare pflegte Mama kunstvoll zu unterschiedlichen Frisuren hochzustecken, doch an diesem Abend fielen ihre dunkelbraunen Locken offen bis auf die Schultern, sie hielt sie nur durch ein rotes Stirnband zurück. Mamas Augen glänzten, irgendwie sahen sie anders aus als sonst, glasig und starr. Sie lachte nicht, und sie sang auch nicht so wie die anderen.

Er fand, dass seine Mutter schön war. Sie hatte auch einen sehr hübschen Namen, Juliana, aber er mochte ganz und gar nicht, wie sie an diesem Abend aussah. Etwas an ihr war ihm unheimlich, befremdend. Ihr Gesichtsausdruck ähnelte auf erschreckende Weise dem von Großmutters teurer Porzellanpuppe, die für ihn unerreichbar in einer Vitrine neben dem Ölgemälde der Verstorbenen aufbewahrt wurde. Mamas Bewegungen waren so komisch langsam, so wie die Zeitlupe in der Sportschau. Sie hob die Hände über den Kopf und neigte ihren Oberkörper von der einen auf die andere Seite, wobei der schwere, spiralförmige Anhänger ihrer langen Halskette wie das Pendel der alten Standuhr im Esszimmer hin- und herschwang. Er überlegte, ob ihr eigenartiges Gebaren vielleicht so etwas wie ein Spiel war. Ihre Freunde waren da viel dynamischer. Sie hopsten und sangen, und einige schüttelten ihren Kopf so heftig, als müssten sie dringend etwas loswerden, Läuse oder dumme Gedanken.

Die Einzige, die sich außer ihm selbst nicht an dem ausgelassenen Treiben beteiligte, war seine Tante Cordula. Vielleicht durfte sie nicht mitmachen, weil sie noch zu jung war und es sowieso auch nicht ihre Freunde waren, sondern die ihrer großen Schwester. Tante Cordula trug ein braunes Wollkleid, das wie ein Sack an ihr hing, dazu pantoffelartige Schuhe, und sie lächelte ganz schüchtern. Ihre großen dunklen Augen waren auf einen jungen Mann in weißen Hosen und Jeansjacke geheftet. Sie wippte leicht mit den Knien, allerdings nicht im Takt zu der Musik, die aus einem Kassettenrekorder dudelte.

Justus schaute wieder auf seine Mutter. Seine Augenlider fühlten sich immer schwerer an, er musste sich anstrengen, damit sie nicht zufielen. Es war ein sehr verlockender Gedanke, einfach nachzugeben und einzuschlafen. Andererseits wollte er natürlich nichts verpassen.

Mamas langsame Bewegungen wurden immer schwerfälliger. Sie waren kaum noch mit anzusehen, brannten in seinen Augen. Oder war es der Qualm des Feuers? Er verfolgte ihren Schatten, der dem eines schönen trägen Dinosauriers glich.

Ein Schrei durchschnitt die Nacht. Eigentlich war es kein Schrei, es war nur der Kassettenrekorder, den irgendein Verrückter bis zum Anschlag aufgedreht hatte. Mit einem Schlag war er hellwach. Die Tänzer gerieten aus dem Schritt, stolperten übereinander, schwankten, als wären sie in einem überfüllten Boot, auf dem jeder mit den Armen ruderte, um nicht über Bord zu gehen. Der fransige bordeauxrote Schal einer Frau fing Feuer. Rasend schnell ging er in Flammen auf, begleitet von lautem hysterischem Kreischen, das aus mehreren Kehlen gleichzeitig drang und nur von John Lennon übertönt wurde, der aus dem scheppernden Rekorder Imagine all the people brüllte.

Tante Cordula stand am Ufer des Geschehens und schrie „Wasser, Wasser!“.

Die so unglücklich Angesengte schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich den Schal vom Hals zu reißen. Er verpuffte im Gras und setzte dabei einen widerlichen Geruch frei, eine Mischung aus billiger Toilettenseife und verbranntem Kunststoff.

Er war vollkommen erstarrt. Er versuchte zu begreifen, was geschah, doch sein Verstand wurde von den einströmenden Sinneseindrücken immer wieder überholt. Endlich drehte eine rettende Hand den Kassettenrekorder wieder leise. Vom Lärm erlöst standen alle Akteure einen Moment lang wie Schaufensterpuppen vollkommen reglos da. Dann aber brach unvermittelt ein Lachen aus einer kleinen runden Frau hervor. Sie hatte ungemein große Brüste und einen krausen Lockenkopf. Die Frau lachte gackernd wie ein Huhn, und er fand, dass es irgendwie falsch klang, auch wenn er nicht wusste, wie es sein konnte, dass sich ein Lachen falsch anhörte. Vielleicht war sie eine Hexe. Vielleicht hatte sie den Schal angezündet, mit einem bösen Zauberspruch. Vielleicht würde sie nun alle in ihren Bann ziehen.

Der junge Mann mit der weißen Hose und der Jeansjacke, den Tante Cordula die ganze Zeit angestarrt hatte, verpasste ihr einen so derben Knuff in den Bauch, dass sie rücklings auf dem Po landete. Für einen kurzen Augenblick guckte die Hexe verdutzt, dann riss sie sich die Bluse auf und holte ihre großen Brüste heraus. Sie nahm sie in die Hände und pries sie an wie zwei reife Melonen.

Ich bin die Maikönigin, ich bin die Maikönigin“, schrie sie.

Er riss die Augen auf. Noch nie hatte er nackte Brüste gesehen, erst recht nicht solche. Mama hatte natürlich auch welche, doch Mamas waren viel kleiner, und außerdem war sie immer angezogen. Er schaute flüchtig zu seiner Mutter hinüber, die ein wenig abseits stand. Sie hatte ihren Anhänger in beide Hände genommen und betrachtete ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, als könnte sie in ihm lesen wie in einem Buch. Offenbar hielt sie den Busen ihrer Freundin für nicht besonders aufregend.

Der Mann in der weißen Hose und der blauen Jeansjacke hingegen schien Gefallen daran zu finden. Er kniete sich hin und begann, die Brüste zu streicheln. Einige Frauen kicherten. Plötzlich schob sich Tante Cordulas braunes Schlabberkleid zwischen ihn und den Ort der Handlung. Er schaute sie verwundert an. Wollte sie denn nicht wissen, was als Nächstes geschah?

Justus, Bettchenzeit!“, schnauzte Tante Cordula ihren Neffen an und riss ihn von der Regentonne.

Warum war sie auf einmal so böse?

Sie nahm ihn auf den Arm und verließ mit großen Schritten die Wiese. Er widersetzte sich nicht. Der Tonfall seiner Tante ließ keinen Zweifel daran, dass es sich nicht lohnte, um Aufschub zu betteln. Wie ein kleiner Affe klammerte er sich an ihren Oberkörper und blickte zurück, um vielleicht doch noch mitzubekommen, was der Mann nun mit der Hexe machte. Aber er sah nur noch seine Mutter. Sie stand da, vom Licht des großen Feuers angestrahlt, und hob ihren Kopf. Ein eiskalter Schauer durchlief ihn. Seine Mutter schaute ihn an und lächelte. Ihr Gesichtsausdruck war immer noch seltsam abwesend, aber sie sah ihm direkt in die Augen, hob ihre Hand und winkte. Justus winkte zurück. Er wollte rufen „Auf Wiedersehn, Mama, auf Wiedersehen“, doch die Worte blieben in seinem Hals stecken. Mama war da, und doch war sie weg, so unendlich weit weg.


Justus

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