Читать книгу Justus - Beatrice Lamshöft - Страница 5

30. April 2012

Оглавление

Ein Flugzeug durchbricht die Schallmauer. Der laute Knall trifft ihn völlig unerwartet. Er schwankt, fängt sich im letzten Moment. Sein Herz hämmert, stolpert drei vier Schläge aus dem Takt, dann schlägt es schnell, so schnell, dass es wehtut. Er atmet ein und aus, hastig, unregelmäßig, endlich langsamer. Der Rhythmus kehrt zurück. Seine Knie werden weich und drohen nachzugeben, er muss sich setzen.

Der Tod hat angeklopft. Es dauert zu begreifen, dass der Film nicht gerissen ist. Die untergehende Sonne, die Hochhäuser, die Geräusche der Straße, seine Erinnerungen, alles kehrt zurück. Abgetaucht und wieder aufgetaucht. Wie leicht es ist, die Realität zu erschüttern, die Leinwand in seinem Kopf, auf der sein Leben spielt.

Das Dach ist mit Dachpappe eingedeckt. Sie ist grau und spröde und an einigen Stellen geflickt. Es riecht nach Teer. Unten auf der Straße behindert ein Lastwagen den Verkehr. Eine der Baumkronen hat ein riesiges Loch. Die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser harmonieren nicht, weder in der Farbe noch im Stil. Der alte Mann am offenen Fenster schaut immer noch auf die Straße hinunter.

Justus starrt auf einen krummen, verrosteten Nagel, der ein Stück von ihm entfernt liegt. Langsam rutscht er zu ihm hinüber, seine Glieder fühlen sich schwach und taub an, als wäre er gerade aus einer Narkose erwacht. Dieses Ding, dieser Nagel, er hat eine Geschichte, die er nie erfahren wird. Irgendwann einmal, als er erschaffen wurde, war er rot glühend wie die untergehende Sonne. Dann wurde er vermutlich mit einem Haufen anderer Nägel verpackt, verschickt und verkauft. Schließlich hat ihn ein Handwerker aus der Schachtel genommen, ihn verbogen und weggeworfen. So oder so ähnlich musste es gewesen sein. Die genaueren Umstände lassen sich nicht mehr rekonstruieren.

Er fragt sich, wie lange der Nagel schon auf dem Dach liegt und ob er vielleicht von irgendjemand anderem schon vorher bemerkt wurde und wo diese Person, wenn es sie tatsächlich gab, wo sie wohl lebte und was sie gerade machte. Wenn es sie gab, dann hätten sie nun etwas, das sie verband: die Erinnerung an den Anblick eines krummen, verrosteten Nagels auf einem Hochhausdach. Aber aus welchem Grund sollte sich jemand an einen verbogenen Nagel erinnern?

Er zwingt sich, seinen Blick von dem Nagel zu lösen und steht auf. Die Sonne ist ein Stück tiefer gesunken, der Himmel ist nun ganz in rotes Licht getaucht, und der Alte am Fenster auf der gegenüberliegenden Seite ist es immer noch nicht müde, auf die Straße hinunterzuschauen.

Justus tritt zwei Schritte vom Rand zurück. Er ist es leid, sich immer wieder zu ängstigen. Einen Moment überlegt er, ob man erst springen kann, wenn die Angst gewichen ist. Vielleicht ist er nun so weit. Vorsichtig tritt er vor und schaut hinunter. Autos, Bäume, Menschen, lauter Dinge. Alles einzeln, alles zusammen. Kann er nun springen? Er weiß es nicht oder will es nicht wissen, weicht wiederum zurück und schaut sich um. Das Dach ist ein schäbiger Ort, nicht gemacht, um Gäste zu empfangen. Er hebt den verbogenen Nagel auf und betrachtet ihn. Ohne sich zu fragen, warum, steckt er ihn in seine Hosentasche. Dann schaut er an sich hinunter. Die schmal geschnittene graue Hose aus teurem Wollstoff schlackert um seine dünnen Beine, das schwarze Hemd mit dem feinen türkisfarbenen Streifen hängt halb aus dem Hosenbund heraus. Die Schuhe allerdings, die Schuhe sind sauber und ordentlich gebunden, so wie es ihn die Tante gelehrt hat.

Er versucht ein Lächeln. Es gelingt, im Ansatz wenigstens. Dann steckt er das Hemd in die Hose, ohne dabei den schwarzen Ledergürtel zu öffnen. Es ist nicht notwendig, ihn zu öffnen, sein ausgemergelter Körper ist so schmal, dass er bequem eine Hand zwischen Taille und Hosenbund bringt. Nun, da er sich geordnet hat, streicht er über seine eingefallenen Wangenknochen. Er ist kein besonders hübscher Mann, aber auch nicht unansehnlich. Sein labiler Zustand hat ihn gezeichnet, das ist ihm wohl bewusst. Aber seine grünbraunen Augen sind die eines intelligenten Mannes, und sie können einen Menschen allein durch ihren scharfen Blick würdigen oder vernichten. Er ist seit drei Tagen unrasiert und überlegt, ob es verwegen oder verwahrlost aussieht. Ließe er sich einen Bart stehen, wäre dieser wohl schon grau durchsetzt, anders als sein kurzes dunkelblondes Haar, in dem sich nur an den Schläfen ein paar vereinzelte silberne Härchen entdecken lassen.

Die Sonne steht jetzt so tief, dass nur noch ein Drittel über den Dächern der gegenüberliegenden Häuser herausragt. Das warme, intensive Licht vermag selbst dem trostlosen Dach einen Hauch von Idylle zu verleihen. Er schaut auf den mit roten Backsteinen gemauerten Treppenhausausstieg, sieht die schwere graue Stahltür. Er hat sie aufgeschlossen, dann ist er herausgetreten, er weiß es, kann sich aber nicht mehr daran erinnern. Ihm ist, als wäre er auf diesem Dach geboren worden, als hätte er sein ganzes Leben hier verbracht. Allein. Fast allein.

Der alte Mann am Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ist er noch da? Justus geht zum Rand zurück und schaut hinüber. Ja, dort steht er, immer noch.


Justus

Подняться наверх