Читать книгу Justus - Beatrice Lamshöft - Страница 17
2. Mai 2012
ОглавлениеDer Bankangestellte vor ihm schüttelt den Kopf kaum wahrnehmbar, aber Justus hat es doch bemerkt, und er fragt sich, was dem jungen Mann einfällt. Sicher, es mag ein wenig ungewöhnlich sein, zwanzigtausend Euro in Fünfhundertern ohne Voranmeldung abheben zu wollen. Aber was geht das den Banker an? Muss er sich dafür etwa rechtfertigen? Nein, erst recht nicht vor so einem jungen Kerl, einem Azubi womöglich, dem es ganz eindeutig am nötigen Respekt gegenüber einem bedeutenden Kunden fehlte.
Während ein Kollege den Auszahlungsbeleg absegnet und ihm der Bankangestellte dann die Scheine vorzählt, schaut er sich betont desinteressiert in der großen Schalterhalle um, in der an diesem Vormittag nur wenige Kunden ihren Geschäften nachgehen. Wie viel verdiente so ein kleiner Angestellter im ersten Jahr der Ausbildung? Schätzungsweise sechshundert Euro im Monat. Vielleicht sollte er gleich bei ihm anfangen und ihm einen Fünfhunderter Trinkgeld in die Hand drücken. Aber das wäre zu aufsehenerregend, man kennt ihn hier. Sie würden sagen, er sei übergeschnappt oder größenwahnsinnig. Außerdem ist ihm der junge Mann unsympathisch. Nein, er wird sich andere Kandidaten für sein kleines Experiment aussuchen. Und er wird es heimlich tun, anonym sozusagen. Er will nicht erkannt werden.
Marie hat sich nicht bei ihm gemeldet, und er hat sie auch nicht angerufen. Warum, kann er nicht sagen, denn er sucht immer noch nach einem plausiblen Grund, um es vor sich selbst zu entschuldigen. Dass ihm schlicht der Mut dazu gefehlt hat, kann er sich nur schwer eingestehen. Vielleicht ist er ja deshalb auf diese Schnapsidee gekommen. Eine Art Übersprunghandlung, um Zeit zu schinden wie ein Huhn, das sich nicht zwischen Angriff und Flucht entscheiden konnte und deshalb erst mal ein paar Körner vom Boden aufpickte.
Schon die Vorstellung, seinen verrückten Plan nun tatsächlich in die Tat umzusetzen, lässt ihn erschaudern. Es ist aufregend, es fühlt sich fast an, als beabsichtigte er, eine Straftat zu begehen. Wie damals, als er sieben oder acht Jahre gewesen war und Tilman ihm eine Mutprobe abverlangt hatte. Er hatte eine Tüte Gummibärchen in einem Supermarkt klauen sollen, um seinem Freund ein für alle Mal zu beweisen, dass er kein Weichei war. Beinahe wäre es ihm gelungen, er war schon fast an der Kasse vorbei gewesen, da hatte sich eine Hand auf seine Schulter gelegt. Es war, wie sich dann herausgestellt hatte, eine Sekretärin seines Großvaters gewesen, die ihn kannte und offenbar genau beobachtet hatte. Sie hatte für ihn gezahlt und ihm die Gummibärchen geschenkt. Immerhin hatte Tilman den missglückten Versuch gelten lassen, insofern war die Aktion zunächst als Erfolg verbucht worden. In den folgenden Tagen und Wochen aber hatte Justus in ständiger Angst gelebt, zur Rede gestellt zu werden. Zu seiner Erleichterung war nichts geschehen. Anscheinend hatte die Sekretärin ihn nicht verraten.
Erst viel später war ihm aufgefallen, dass der Kontakt zu Tilman von seinem Vater seit dem Vorfall stark eingeschränkt worden war. Vermutlich hatte man die Angelegenheit im Familienrat besprochen und war zu dem Schluss gelangt, dass allein Tilman die Verantwortung für das Fehlverhalten seines Freundes trug, weshalb man den schlechten Einfluss, den dieser Junge auf den Sohn und Enkel hatte, zu unterbinden versuchte.
Er tritt aus der Bank und schaut sich um. Der einzige historische Platz in Frankfurt, denkt er, der einem ein Gefühl dafür vermitteln kann, dass die Gründung dieser modernen Finanzmetropole schon ein paar Jahre zurückliegt, ist der Römerberg, auch wenn die imposanten Fachwerkhäuser aus der Patrizierzeit lediglich Rekonstruktionen aus den Achtzigern sind. Sie tragen recht poetische Namen. Er kennt sie alle, und nun, da er nach langer Zeit zum ersten Mal wieder vor ihnen steht, versucht er, sie richtig zuzuordnen. Dort ganz am Ende, neben der Nikolaikirche, steht das Restaurant Schwarzer Stern, die Häuser davor heißen Großer Lauderberg und Kleiner Lauderberg, der Kleine Dachsberg, dann der Wilde Mann, der Goldene Greif und schließlich, ganz am Anfang, der Große Engel. Dort hatte man im 17. Jahrhundert Frankfurts erste Bank gegründet.
Er schmunzelt. Ausgerechnet im Großen Engel. Aus heutiger Sicht wäre der Goldene Greif eindeutig die passendere Wahl gewesen. Was die alte Justitia auf dem Gerechtigkeitsbrunnen wohl dazu sagen würde, wenn sie nur denken könnte, mit ihrem Kopf aus Stein.
Langsam schlendert er über den Platz und beobachtet die Menschen, die an ihm vorbeigehen. Passanten auf dem Weg irgendwohin, eine Alte, die ein Fahrrad mit zwei prall gefüllten Plastiktüten am Lenker schiebt. Die Henkel haben sich verdächtig in die Länge gezogen. Sollte man sie warnen? Zwei junge Hunde springen aufgeregt umeinander her, sodass sich ihre Leinen verheddern, sehr zum Leidwesen ihrer Herrchen. Vor dem alten Römer, dem Rathaus der Stadt, posieren einige Japaner für ein Gruppenfoto. Ohne die Japaner mit ihren Kameras wäre die Kulisse des Römerbergs unvollständig. Sie gehören dazu, sind sie doch überall so etwas wie ein sicherer Indikator für bedeutende historische Sehenswürdigkeiten. Der geschlossene Regenschirm einer Dame in dunkelblauem Kostüm schießt in die Höhe, worauf sich die Asiaten artig um sie gesellen, um ihrem Vortrag zu lauschen.
Er holt den Umschlag mit dem Geld aus der Jackentasche seines Trenchcoats, zieht einen Fünfhunderter heraus und rollt ihn vorsichtig zusammen. Den Rest steckt er schnell wieder zurück. Mit wem soll er nun anfangen? Gerechterweise mit einem Menschen, der das Geld vermutlich gut gebrauchen kann. Die Alte mit dem Fahrrad! Sie macht den Eindruck, als ob sie ein paar Euro extra gut gebrauchen könnte. Entschlossen eilt er ihr hinterher. Nach ein paar Schritten hat er sie eingeholt.
„Entschuldigen Sie“, sagt er ein wenig zu laut, worauf die Frau ängstlich zusammenzuckt. „Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich glaube nur, Ihre Plastiktüten da, also, lange können Sie die nicht mehr so transportieren, die Henkel werden gleich reißen.“
Er zeigt auf die Tragetaschen, den Fünfhunderter in seiner rechten Hand verborgen.
„Jaja, danke“, sagt sie ein wenig ratlos und blickt sich Hilfe suchend um.
Das ist der Moment, auf den er gewartet hat. Schnell lässt er den Geldschein in einer der Taschen verschwinden, so, dass er nicht aus Versehen herausfallen kann.
„Ich wollte Sie nur warnen, nicht, dass Ihnen das hier alles gleich auf die Straße fällt. Vielleicht sollten Sie sich ein paar neue Tüten besorgen oder einen großen Karton, den man auf den Gepäckträger stellen kann.“
Mit diesen Worten verabschiedet er sich von der Frau, die sich nicht besser zu helfen weiß, als ihr Rad nun deutlich langsamer weiterzuschieben. Sie ahnt noch nichts von dem Geld. Natürlich nicht. Aber irgendwann wird sie es finden.
Er lächelt zufrieden und wünscht sich, dass Marie bei ihm wäre. Es kribbelt wieder in seinem Bauch. Ja, er ist verliebt! Und gerade hat er fünfhundert Euro verschenkt, und eine alte, arme Frau sehr glücklich gemacht. Ein berauschendes Gefühl. Schade nur, dass er nicht ihren Gesichtsausdruck sehen kann, wenn sie den Schein findet.
Wer wird nun sein nächstes Opfer? Er sieht eine junge Mutter in Punkerklamotten. Sie albert mit drei Freunden herum, die sich brennend für Fotos auf ihrem Handy interessieren und nicht so aussehen, als gingen sie einer geregelten Arbeit nach. Der kleine Junge im Buggy neben ihr, vielleicht ein Jahr alt, zerbröselt andächtig ein Brötchen. Er sieht übermüdet aus, nicht mehr lange, dann werden ihm die Augen zufallen. Wie zufällig bewegt er sich auf die kleine Gruppe zu. Neben dem Kinderwagen lässt er seinen Schlüssel fallen, hebt ihn auf und drückt dabei dem Kind einen zusammengerollten Fünfhunderter in die freie Hand. Weder die Mutter noch die jungen Männer bemerken es.
Schnell geht er weiter und bleibt erst an einem Zeitungsstand in etwa dreißig Metern Entfernung stehen. Er kauft die Frankfurter Allgemeine, über deren Rand er die Punker heimlich beobachtet. Immer noch schaut niemand nach dem Kleinen, der den Geldschein mittlerweile auseinandergefriemelt hat und nun mit der Zunge dessen Geschmacksrichtung erkundet.
„Scheiße, Mann!“
Endlich! Einer der Freunde hat das Geld entdeckt. Er schubst die anderen beiseite und stürzt auf den Buggy zu. Der Junge, sichtlich erschrocken, brüllt los.
Sofort springt seine Mutter herbei. „Hey, du Arsch, was soll … Scheiße, was ist das denn?“ Sie reißt ihrem Sohn den Fünfhunderter aus den Händen, worauf dieser herzzerreißend zu schluchzen beginnt. Aber das kümmert seine Mama wenig. Sie starrt den Geldschein an. „Ich … ich werd bescheuert!“, stammelt sie, während sich ihre Freunde vor Lachen nicht mehr einkriegen.
Einige Passanten bleiben stehen und beobachten verwirrt den Vorfall. Empört schütteln sie den Kopf. Diese Verrückten! Und das arme Kind!
Er schmunzelt und faltet die Zeitung zusammen. Geld heimlich zu verschenken ist nicht nur aufregend, es ist auch ausgesprochen amüsant. Was Dr. Sein wohl hierzu sagen würde?
Der Gedanke, wie sein ehemaliger Therapeut eine bestimmte Angelegenheit beurteilen könnte, hat sich wieder einmal in sein Bewusstsein geschlichen. Sofort ist ihm schmerzlich klar, dass er ihm nie wieder etwas von sich erzählen wird. Warum nur kann er sich nicht von diesem dummen Wunsch befreien, Dr. Sein überraschen und beeindrucken zu wollen? Wenn es einen Menschen in seinem Leben gibt, der seinen Respekt nicht verdient, dann ist es Dr. Sein.
Ein Kellner findet fünfhundert Euro in einer Tasse auf seinem Tablett mit schmutzigem Geschirr, eine Gruppe osteuropäischer Straßenmusiker entdeckt gleich zwei Scheine in ihrer Sammeldose. Das war ein Versehen, ihnen war eigentlich nur einer zugedacht, aber das Geld ist neu und wenig griffig, die Scheine lassen sich nicht gut voneinander trennen. Vor dem Schwarzen Stern steht ein fassungsloser Postbote. Sein Geschenk klemmt in der Fahrradklingel seines Dienstfahrzeugs, einem dicken gelben Drahtesel, ungefähr hundert Jahre alt und eine Tonne schwer. Er hält den Schein hoch in die Luft und dreht sich lachend im Kreis, wobei seine Augen die Umgebung absuchen. Glaubt er, es handelte sich um einen schlechten Scherz? Wonach sucht er, nach einer versteckten Kamera?
Überall auf dem Römerberg werden Menschen von dem unerwarteten Geldsegen überrascht. Eine euphorische Stimmung breitet sich aus. Neugierige Blicke in alle Richtungen. Wer ist der Wohltäter? Gibt es noch mehr Scheine zu entdecken? Die Japaner reden wild durcheinander und knipsen die glücklichen Finder, die ihnen stolz ihre Geldscheine präsentieren. Wahrscheinlich diskutieren sie, ob dem Ganzen so etwas wie eine deutsche Tradition zugrunde liegt. Nach einer knappen Stunde trifft die Presse ein, beinahe zeitgleich mit der Polizei. Menschen werden interviewt. Wer hat was gesehen? Gibt es zuverlässige Informationen? Schnell macht das Gerücht die Runde, ein bekannter Aktionskünstler könnte der Gönner sein. Wie war noch gleich sein Name?
Justus lacht. Geld verschenken als Kunstprojekt! Na ja, so kann man es vielleicht auch sehen.
Ein Fünfhunderter wird zeitgleich von zwei Männern gefunden, einer vielleicht gerade mal zwanzig, der andere im Rentenalter. Ein heftiger Streit bricht vom Zaun, und nun schlagen sie mit den Fäusten aufeinander ein. Sie hatten Glück, aber sie konnten es offenbar nicht teilen. Heißt es nicht, geteiltes Glück sei doppeltes Glück? Geld allerdings verdoppelt sich nicht, wenn man es teilt. Es ging den beiden also wohl nur ums Geld und nicht ums Glück. Ihr Pech. Nun haben sie die Gesetzeshüter am Hals, die sie auseinanderzerren, ihre Personalien aufnehmen und die fünfhundert Euro erst mal beschlagnahmen.
Aufmerksam verfolgt er das Geschehen auf dem Römerberg, spaziert dabei auf dem Platz hin und her, bis er einen freien Tisch in einem Straßencafé entdeckt. Er setzt sich und bestellt einen Milchkaffee.
Dieses ganze Theater ist seine Inszenierung, ein Experiment mit zwanzigtausend Euro in vierzig Scheinen. Das Resultat fasziniert ihn. Eigentlich hatte er vermutet, nur Einzelreaktionen beobachten zu können, doch nun ist eine ganze Menschenmenge involviert. Einige Passanten machen mit ihren Handys Fotos und tippen sodann eifrig auf dem Display herum. Wahrscheinlich verbreiten sie die Neuigkeit im Internet, bei Facebook und über Twitter. Wie viele Menschen werden von dem Vorfall erfahren? Wird man davon in der Tagesschau berichten? Wird es in der FAZ stehen?
Nachdenklich rührt er einen Löffel Zucker in seinen Kaffee. In Gedanken nehmen seine Freunde und Verwandten an seinem Tisch Platz, die Lebenden wie die Toten, einer nach dem anderen. Sie reden zu ihm, bewerten seine Tat. Ist sie gut oder böse? Du bist ein Hans-guck-in-die-Luft!, würde sein Großvater sagen. So leichtfertig geht man nicht mit Geld um. Ein bisschen mehr Verantwortung, bitte!
Jaja, wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert. Er hat auch schon vorher größere Summen gespendet, zum Teil sogar deutlich mehr als zwanzigtausend Euro. Aber er hat es in aller Öffentlichkeit getan, hat sich dabei von der Presse ablichten lassen. Seine Spenden an wohltätige Organisationen waren alles andere als selbstlose Akte der Barmherzigkeit gewesen. Es gehörte schlicht zum Marketing eines bedeutenden Unternehmens dazu. Tue Gutes und rede darüber. Das war die Devise. Geld zu verschenken, ohne einen Gegenwert dafür zu erhalten, das war ein Sakrileg. Dafür konnte man womöglich entmündigt werden. Besonders, wenn man, wie er selbst schon mal, in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie gewesen war.
Sein Vater hätte seine Tat wohl ebenfalls nicht gutgeheißen, aber nichtsdestotrotz hätten die beobachtbaren Reaktionen der Menschen seinen Intellekt angeregt, und er hätte sicher darüber philosophiert, wie primitivere Völker mit einem unerwarteten Geldsegen umgehen würden. Nach allem, was er ihm von Eingeboren erzählt hat, war zu vermuten, dass sie zunächst alle Scheine eingesammelt und dann stundenlang um ein Feuer herumgesessen und beratschlagt hätten, was mit dem Geld zu tun sei, und ob es von guten oder bösen Geistern geschickt worden wäre. Sofern sie überhaupt wussten, was Geld war.
Er fragt sich, ob ihn auch irgendjemand für seine Tat bewundern würde. Fredo und Anne vielleicht. Vermutlich würde Anne so etwas sagen wie: „Wow, das hätte ich dir wirklich nicht zugetraut!“ Und dann: „Justus, was willst du damit erreichen?“ Das war so etwas wie ihre Lieblingsfrage.
Nein, er kann sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand aus seinem näheren Umfeld für sein spontanes Geldverschenken begeistern würde. Es passte einfach nicht zu ihm, nicht zu seiner Erziehung, nicht zu seinem bisherigen Leben und wohl auch nicht zu seinem Charakter. Er war eine Autorität, ein moderner Unternehmer. Oder zumindest versuchte er, einer zu sein. Diese verrückte Aktion würde man ihm höchstwahrscheinlich als Symptom seiner schlechten psychischen Verfassung auslegen.
Und Marie? Was würde sie sagen? Soll er es ihr überhaupt erzählen? Es wird höchste Zeit, sie endlich anzurufen.
Der junge Bankangestellte, der ihn am Morgen bedient hat, setzt sich mit einem anderen jungen Mann, vermutlich einem Kollegen, an den Nachbartisch. Die zwei unterhalten sich angeregt und schütteln dabei immer wieder den Kopf. Kopfschütteln scheint bei jungen Bankern in Mode zu sein.
Er winkt die Kellnerin herbei, bezahlt seinen Kaffee und eilt davon. Die Vorstellung, von dem Bankangestellten wiedererkannt zu werden, ist ihm äußerst unangenehm. Nicht auszudenken, wenn dieser eins und eins zusammenzählen und das Gerücht verbreiten würde, Direktor Justus Zimmermann habe zwanzigtausend Euro auf dem Römerberg verschenkt. Er müsste es öffentlich dementieren und sich selbst verleugnen.