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Hamburg-Wandsbek, Wandsbeker Chaussee, 23:43 Uhr

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Brockhaus saß an die Wand gelehnt auf einer Klappmatratze, die er sich in einem Supermarkt gekauft hatte, vor dem Fernseher, der vor ihm auf dem Boden stand. Die Konsole war angeschlossen, das Spiel gestartet. Jetzt wartete er darauf, dass Simon und Till der Runde beitraten, indem sie seiner Einladung zum Spiel folgten. In der Wohnung unter ihm entfachte sich gerade ein Ehestreit. Die dumpfen Stimmen drangen durch den Boden zu ihm herauf und klangen dadurch, dass das Zimmer nicht möbliert war, so nah, als stritten sie direkt neben ihm. Anfänglich amüsierte Brockhaus der Streit, er versuchte aufzuschnappen, um was es ging, und lachte über die Schimpfwörter, die sie sich gegenseitig an den Kopf warfen. Doch bereits nach kurzer Zeit wurde er immer gereizter ob der Stimmen, und er wünschte sich, dass einer der beiden dem anderen an die Gurgel ginge oder dem Gegenüber mit der Pfanne eins verpasste, damit der Lärm endlich ein Ende hatte.

Erst um Viertel nach zwölf meldeten sich Simon und Till.

»Gut, dass ihr endlich da seid. Wie ist es gelaufen bis jetzt?«, schrieb er.

»Ich habe mich und Simon morgen auf derselben Tour untergebracht. Besser geht’s nicht. Alle anderen Besorgungen sind gemacht«, antwortete Till.

»Du hast von uns ja schon deine Sachen bekommen. Wenn du noch was brauchst, sag Bescheid«, meldete sich Simon.

»Ich habe alles, danke.«

»Und die Wohnung? Kommst du klar?«, wollte Till wissen.

»Besser als da, wo ich herkomme«, schrieb Brockhaus zurück, »Nur meine Nachbarn gefallen mir nicht.«

»Ab morgen ist alles besser.« Das kam wieder von Simon.

Ja, ab morgen würde sich alles ändern.

Brockhaus wusste, dass das eine seiner größten Entscheidungen überhaupt war, vielleicht die Entscheidung seines Lebens. Ab morgen konnte sein Leben einen anderen Verlauf nehmen, einen besseren, leichteren und von beschwerenden Altlasten völlig unabhängigen Verlauf. Er würde frei sein, frei für alle Zeit, und dann könnten sie ihn alle am Arsch lecken. Seine Vergangenheit, die Bullen, das ganze verdammte Rechtssystem und jeder Knast, in dem er eingesessen hatte.

»Benutzt die Handys nur im Notfall, klar? Alles andere ist und bleibt wie besprochen.«

»Ich hab gehört, dass ein Sturm aufkommen soll«, schrieb Simon.

Brockhaus lächelte und tippte weiter. »Etwas Besseres hätte uns gar nicht passieren können. Der Sturm ist das i-Tüpfelchen des Plans, er wird uns den Arsch retten.«

Der Cursor blinkte regelmäßig, aber keiner der beiden antwortete.

»Ihr werdet sehen, er ist unsere Lebensversicherung. Und jetzt ab ins Bett. Legt euch hin, und kein Alkohol heute Abend.«

Brockhaus blickte zu der einzelnen Flasche Bier, die auf dem Fenstersims zur Kühlung stand.

Sie beendeten das Spiel, und Brockhaus stellte irgendeinen Film im Fernsehen an. Er musste die Lautstärke hochregeln, weil die Stimmen unter ihm nicht nachließen. Die Frau kreischte jetzt nur noch, und es polterte und rumpelte. Es klang, als würde er sie durch die Wohnung jagen.

Er stand auf, um sich das Bier vom Fenstersims zu holen. Draußen war es kühl, aber immer noch windstill, und er fragte sich, ob das mit dem Sturm vielleicht nur Panikmache gewesen war. Unten ging die Haustür auf, und eine Frau lief schluchzend und sich das Gesicht haltend über den Hof. Dann verschwand sie im Schatten des Vorderhauses, und es war endlich still. Kein Laut war mehr zu hören. In den meisten Fenstern seiner Nachbarn standen Weihnachtslichter, Pyramiden, Sterne und Tiere. Er blickte sich ein letztes Mal um und schloss anschließend das Fenster.

Gerade als er die Flasche öffnete und zum Trinken ansetzte, stellte sein Untermieter die Musik an. Eine nicht enden wollende Salve an Trommelstößen und Gitarrenriffs, die klangen, als würden sie mit einer Gartenkralle erzeugt werden. Die dumpfe, gutturale Stimme des Sängers erhob sich zu einem unverständlichen Brüllen, und sein Untermieter meinte, dabei »mitsingen« zu müssen.

Brockhaus stellte energisch sein Bier ab und ging zur Wohnungstür, wo er allerdings zweifelnd stehen blieb. Es war nur diese eine Nacht, die er durchstehen musste, er konnte es sich nicht leisten, jetzt auffällig zu werden, indem er seinem Nachbarn die Meinung sagte. Er dachte kurz an die Waffe, die unter der Decke versteckt auf der Matratze lag, schüttelte dann aber den Kopf. Nein, es ging nicht, er musste es ertragen oder warten, bis ein anderer Nachbar es ihm ausredete oder gleich die Bullen rief. Andererseits …

Die Wohnungstür vibrierte von den Bässen. Brockhaus war im Dunkeln nach unten gegangen, um nicht gesehen zu werden. Unter der Tür gegenüber sah er kein Licht, also vermutete er, dass die Bewohner nicht zu Hause waren.

Brockhaus drückte die Klingel fünfmal. Das Licht unter der Tür wurde von zwei Schatten durchbrochen. Der Kerl musste es also gehört haben und würde gleich die Tür öffnen.

Als das geschah und eine Welle von Grölen und Donnern den Flur flutete, als der Kerl mit einem selbstgefälligen Grinsen im Türrahmen erschien, trat Brockhaus so fest zu, wie er konnte. Er traf den glatzköpfigen Fettwanst auf Magen- und Brusthöhe und sah ihn lautlos nach hinten fliegen. In seinem schmutzigen Unterhemd und den schwarzen Sportshorts krachte er rücklings gegen die Tür zu dem einzigen Zimmer der Wohnung. Blitzschnell huschte Brockhaus hinein und schloss die Tür hinter sich. Der Kerl lag nun mit weit aufgerissenen Augen vor ihm auf der Schwelle zu seinem dunklen Zimmer. Überall hingen Bilder und Tücher mit Totenkopf- und Zombiemotiven. Er versuchte, sich aufzurappeln, griff dabei hektisch links neben die Tür und zog einen alten Baseballschläger hervor. Brockhaus schritt geradewegs auf ihn zu, der Typ hievte sich auf die Beine und machte ein paar Schritte rückwärts, um besser ausholen zu können. Kaum war Brockhaus ihm in den stinkenden, lärmenden Raum gefolgt, ging der andere mit dem Knüppel auf ihn los. Er holte weit aus und ließ das Ding auf Brockhaus niedersausen. Der amüsierte sich noch über die völlige Geräuschlosigkeit, denn die Musik übertönte einfach alles.

Der Schläger traf ihn an der rechten Hüfte, und ein heller Schmerz durchzuckte den Knochen. Brockhaus, der sich nach links geduckt hatte, holte mit geballter Faust aus und schlug sie dem Mann mit Wucht gegen die Schläfe, woraufhin der sofort zusammensackte und ohnmächtig liegen blieb. Er richtete sich auf und stellte sich über den Kerl. Ein schneller Blick zum Fenster sagte ihm, dass die Jalousien runtergelassen waren und keiner das Schauspiel mit ansehen konnte.

Tja, so schnell kann das gehen, dachte Brockhaus. Er verzog abschätzig den Mund, bückte sich, nahm den Baseballschläger auf und fing an, auf den Kerl einzuprügeln. Zuerst nahm er sich die Arme vor, dann die Beine, den Brustkorb. Schließlich hob er zum finalen Schlag auf den glatten, fettig glänzenden Schädel an. Das Blut spritzte, und nach Brockhaus’ Einschätzung würde der Typ, falls er den Schlag überlebt hatte, sein Leben lang kein Wort mehr sprechen können. Mit dem Ärmel wischte er seine Fingerabdrücke vom Holz und ließ das Ding fallen. Dann, endlich, konnte er diese verdammte, nervtötende Musik ausmachen. Die Stille, die nun eintrat, war so unwirklich, dass er meinte, eben erst hier im Zimmer angekommen zu sein und nichts von dem gesehen zu haben, was passiert war. Fast staunend blickte er sich um. Gleichzeitig horchte er ins Haus hinein, ob Stimmen zu vernehmen waren oder Türen, die sich öffneten, Schritte. Aber es blieb totenstill. Langsam ging er durchs Zimmer, an seinem Opfer vorbei, ohne es auch nur anzusehen, und drückte im Flur ganz sachte die Klinke der Wohnungstür nach unten. Dunkelheit im Treppenhaus und immer noch keine Geräusche.

Brockhaus verließ die Wohnung, ging nach oben und warf sich erleichtert auf sein Bett. Jetzt konnte er endlich schlafen.

Inseldämmerung

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