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Hamburg-Altona, Wohnung von Simon Hagelands Mutter, 15:03 Uhr

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Simon saß mit den Händen im Schoß da, und man konnte bereits an seiner Körperhaltung erkennen, dass er nicht lange bleiben wollte. Seine Mutter Anette goss ihm Kaffee in die alte, abgewetzte Tasse. Armin, der Lebensgefährte von Anette, saß zurückgelehnt und mit glasigen Augen auf dem Sofa und starrte auf den Fernseher. In den Nachrichten wurde über den Sturm berichtet, der die deutsche Nordseeküste bald erreichen sollte.

»Wird das Wetter schlecht?«, fragte Anette und stellte ein paar Spekulatiuskekse auf einem Teller auf den Tisch.

»Hochwasser«, antwortete Armin und hustete. Armin war krank. Er hatte so ziemlich alle Krankheiten, die man sich vorstellen konnte, und eine Beinprothese. Er war mit Abstand der kränkste von allen Männern, mit denen Simons Mutter zusammen gewesen war. Ein absoluter Pflegefall. Und seine Mutter war mehr eine Krankenschwester oder Pflegerin als seine Frau. Aber wenigstens war er nicht aggressiv ihr gegenüber. Solche Männer hatte sie genug gehabt und Simon so seine Auseinandersetzungen mit ihnen. Wenn es sein musste, auch körperliche. Einem hatte er so schlimm zugesetzt, dass der jetzt ähnlich wie Armin auch nur noch schlecht laufen konnte. Aber Simon fand, er konnte von Glück reden, dass er überhaupt noch am Leben war.

Da Simons freundliches, hübsches Äußeres nicht auf seine aggressive Ader schließen ließ, hatte er den Überraschungseffekt immer auf seiner Seite gehabt, wenn er in Kämpfe geraten war. Im Gerichtssaal hatte ihm das leider nicht geholfen. Er war schon dreimal wegen Körperverletzung angeklagt worden und einmal in den Bau gegangen.

Was nun kam, konnte keiner vorhersehen. Ihr Vorhaben ließ seine Zukunft nur noch nebulöser erscheinen, als sie ohnehin schon war. Aber in jedem Fall würde es ein Abschied werden. Das hier war für lange Zeit sein letztes Kaffeetrinken bei seiner Mutter. Sie wusste davon natürlich nichts. Er hatte sie noch einmal sehen wollen, bevor es losging. Armin war ihm egal. Er war einfach nur eine Figur, die hier herumsaß wie eines von diesen Weihnachtstieren, die seine Mutter in der Weihnachtszeit auf die Fensterbank stellte. Simon konnte sich noch daran erinnern, wie er als Kind damit gespielt hatte, so alt waren sie. Alt und angestaubt, wie alles hier in der Wohnung.

»Was machst du denn Heiligabend?«, fragte Anette und setzte sich. »Wenn du magst, kannst du gern vorbeikommen.«

Simon sah Armin an, der wenig begeistert die Oberlippe hochzog.

»Na ja, ich bin noch nicht verplant, weißt du, aber wahrscheinlich fahren wir … fahre ich irgendwohin. Raus aus der Stadt.«

»Ja, das ist nett«, entgegnete Anette, trank einen Schluck und blickte über den Tassenrand hinweg zu Armin.

»Zwei Meter Hochwasser«, sagte er, doch keiner reagierte darauf.

»Ich schick dir dann was«, sagte Simon. Er hatte daran gedacht, ihr Geld zukommen zu lassen, wenn alles vorbei und Gras über die Geschichte gewachsen war. Aber wahrscheinlich war es besser, ihr nur ein Weihnachtsgeschenk zu schicken. Vielleicht ein wertvolleres als sonst.

»Ach, das ist doch nicht nötig. Wir brauchen nichts.«

Simon sah sich um. Gottverdammt, sie brauchte alles. Neue Möbel, neue Gardinen, neue Tassen, eine neue Wohnung, ein neues Leben.

»Aber für dich hab ich was. Es ist nur noch nicht eingepackt.« Anette stand eilig auf.

»Mama, lass doch. Das ist …« Simon gelang es nicht, sie von ihrer Idee abzubringen.

»Nein, nein, ich bin gleich wieder da.«

Sie verließ das Wohnzimmer und raschelte im großen Kleiderschrank im Schlafzimmer herum.

»Sie hat das Ding unten bei ›Eddi’s Kiosk‹ gesehen«, informierte ihn Armin mit einem fast vorwurfsvollen Blick. »Ich fand’s überteuert, so was kauft man doch nicht im Kiosk.« Er schüttelte den Kopf und widmete sich wieder dem Bildschirm.

Anette kam zurück.

»So, eine Kleinigkeit für dich«, sagte sie und legte ein silbernes Sturmfeuerzeug vor Simon auf den Tisch.

Er nahm es in die Hand und klappte es auf.

»Das funktioniert wohl irgendwie elektrisch, und man kann es an den Computer anschließen mit UPS«, erklärte sie.

»USB«, korrigierte Simon. »Vielen Dank, Ma.«

Er nahm es an sich und zündete einmal. Ein blauer Blitz knisterte zwischen zwei Elektroden auf. »Kann ich gut gebrauchen.«

Vielleicht konnte er so etwas tatsächlich gut gebrauchen bei ihrem Vorhaben. Der Sturm war im Anmarsch, und hiermit war er gewappnet.

Seine Mutter setzte sich erfreut auf ihren Platz und leerte ihren Kaffee.

Armin grummelte unzufrieden auf der Couch, ob wegen des Programms oder wegen des Geschenks, konnte man nicht sagen.

Simon sah auf die Uhr. Brockhaus war bereits draußen. Heute Abend würden sie zum ersten Mal miteinander sprechen. Nicht persönlich, aber über ein Spiel auf der Playstation. Er hatte ihnen einiges aufgetragen. Das meiste davon war erledigt, aber es gab noch ein paar Dinge, die sie besorgen und um die sie sich kümmern mussten.

»Ich muss los«, sagte Simon leise zu Anette. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Immerhin war sie seine Mutter, und wer wusste, wann er sie wiedersah.

»Oh, wie schade«, meinte sie und legte ihr Gesicht in Sorgenfalten.

»Ja, ich hab noch einen Werkstatttermin«, log Simon, und sie erhoben sich.

Anette drückte ihren Sohn kurz, aber fest. Simon winkte Armin zu, der seinerseits kurz die Hand von der Lehne hob und hustete. Dann ging er. Er stieg im Hausflur die Treppe bis ins Erdgeschoss hinab. Seine Schritte hallten laut von den Wänden wider. Kaum war er draußen auf dem Fußweg und die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, flüsterte er: »Scheiße, Mann. Ich muss ihr was schicken.«

Erst mal musste er aber seinen Job machen, dann kam lange, lange gar nichts. Da konnte er dann ausgiebig darüber nachdenken, wie seine Mutter etwas von dem Geld bekommen konnte.

Was für ein Scheißleben, dachte er, knickte einen Ast an einer Hecke ab und warf ihn auf die Straße.

Inseldämmerung

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