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Amrumer Hafen, 23.12.2019, 13:40 Uhr

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Nils und Elke standen am Rande des Kais und blickten hinüber zu der sich nähernden Fähre, die einen weißen, sprudelnden Streifen auf dem glatten Wasser hinter sich herzog. Es war vollkommen windstill. So windstill, dass die Schreie der Möwen in der Luft über ihnen kaum nachhallten, als befänden sie sich in einem geschlossenen Raum. Föhr lag klar erkennbar und scheinbar näher als sonst im Osten; ein gelbgrüner Streifen, auf dem man vereinzelt einige Gebäude ausmachen konnte. Bald würde man davon nichts mehr sehen können, bald wäre die Stille zu Ende und der Hafen kaum mehr betretbar.

»Die typische Ruhe vor dem Sturm«, sagte Elke, drückte die Hände in die Taschen und lächelte der Fähre entgegen, die ihre Tochter über die Weihnachtsferien zu ihnen brachte.

»So schlimm ist sie doch gar nicht«, entgegnete Nils. Elke trat ihm vors Schienbein und lächelte breiter.

»Endlich ist die Familie wieder zusammen«, sagte sie. »Ob sie uns auch so vermisst?«

»In Prozent ausgedrückt, werden es so um die vier bis sechs sein.«

»Ehrlich?«

»Schatz, sie ist achtzehn Jahre alt. Niemand ist in dem Alter überflüssiger als die Eltern.«

Elke seufzte tief. Ihre Tochter besuchte auf Föhr das Gymnasium und wohnte in dieser Zeit bei Freunden, sie kam nur an den Wochenenden und den Feiertagen nach Hause.

Das Schiff schob sich fast bedrohlich groß dem Landungssteg entgegen. Der Bug öffnete sich, und ein Schiffsarbeiter mit einer Fernbedienung in den Händen tauchte auf, hinter ihm Dutzende Menschen, die zu Fuß auf die Insel kamen.

»Siehst du sie schon?«, fragte Elke ernst und ging näher. Nun senkte sich auch die Landungsbrücke herab und kam mit einem lauten Krachen auf dem Deck zum Stehen. Eine junge Frau scherte aus der Menge aus und lief an dem Mitarbeiter vorbei auf Elke zu. Anna rannte in die offenen Arme ihrer Mutter und kreischte vor Freude. Dann streckte sie einen Arm aus und winkte ihren Vater zu sich. Nils legte seine Arme um seine beiden Frauen und hielt sie einen Moment lang ganz fest, während die Touristen an ihnen vorbeiströmten.

»Schön, dass du endlich hier bist«, murmelte Elke, und sie lösten sich aus ihrer Umarmung.

»Habt ihr mich vermisst?«, fragte Anna keck und wippte ungeduldig auf und ab.

»Kaum«, sagte Nils grinsend und nahm ihre Tasche.

»Komm, wir gehen nach Hause.« Elke hakte ihre Tochter unter, und sie schlossen sich dem Menschenstrom an.

Gleich nachdem sie zu Hause angekommen waren und Anna nur rasch ihre Tasche ins Zimmer geworfen hatte, machten sie sich auf den Weg zum Strand. Nils wusste, dass es vorerst das letzte Mal war, dass sie ans Wasser gehen konnten. Die nächsten Tage würden rau werden. Zu Weihnachten würde man wegen des Sturms kaum das Haus verlassen können.

Nun jedoch schien die Sonne von einem klaren blauen Himmel, als sie die Strandstraße von Nebel hinunterradelten. Es war ein gutes Gefühl, endlich wieder zu dritt zu sein. Nils sah seiner Frau an, wie glücklich es sie machte. Diese Momente würden immer seltener werden. Kaum waren die Kinder auf der Welt, verließen sie auch schon wieder das Haus. Nils konnte kaum glauben, wie schnell Annas Kindheit quasi vorbeigeflogen war. Auf dieser Straße war er mit ihr im Kinderwagen gegangen. Ihre ersten Schritte hatte sie auf dieser Straße gemacht, und Nils hatte ihr das Fahrradfahren auf dieser Straße beigebracht. Wie oft würden sie diesen Weg noch zusammen gehen? Bald war sie aus der Schule, würde studieren, viel weiter weg, als sie jetzt schon ohnehin war. Vielleicht war es Zeit, noch ein Kind zu bekommen. Sie waren zwar nicht mehr die Jüngsten, und Elke würde ihn wahrscheinlich nur schief angucken, wenn er diesen Vorschlag machte, aber er konnte sich vorstellen, noch ein Kind zu haben. Irgendwie war er noch nicht bereit, diesen ominösen, schicksalsergebenen Satz zu sagen: Die Kinder sind aus dem Haus.

Vor ihnen lichtete sich der Kiefernwald und gab den Blick auf die Dünen frei. Selbst das Dünengras, das eigentlich immer in Bewegung war, stand vollkommen reglos da, als sei es erstarrt. Das kleine Restaurant »Strandpirat« war geschlossen, und im Fahrradständer standen nur wenige Fahrräder. Entsprechend menschenleer war der Strand. Der Bohlenweg ragte einsam in den sandigen Küstenstreifen hinein. Die Strandkörbe waren bereits in den Hallen verstaut. Sonne spiegelte sich in den Pfützen und Prielen im Watt. Es war Ebbe und das Wasser weit entfernt.

Sie spazierten zunächst weit ins Watt hinein bis zur Wasserkante und dann in Richtung Norden. Die Muscheln knackten unter ihren Schritten, während Anna erzählte, was in der Schule so passiert war. Nils musste nach einer knappen halben Stunde seine Jacke ausziehen, so warm war es in der Sonne. Irgendwann konnte er nicht mehr widerstehen, legte einen Arm um seine Tochter und zog sie an sich. Er wollte sie beschützen, um alles in der Welt. Sie hatte in so großer Gefahr geschwebt in den Händen dieses Killers. Das alles schien jetzt weit, weit weg und lange her. Doch das war es nicht. Er wunderte sich immer noch, wie gut sie sich wieder erholt hatten, sie alle drei. Sie hatten viel durchmachen müssen. Aber die Insel schien sie zu heilen. Jedes Mal, wenn er hier draußen war, hatte er das Gefühl, Kraft zu bekommen und Zuversicht. Er konnte nicht sagen, wie es gewesen wäre, wenn sie in einer Stadt leben würden, aber er bezweifelte, dass sie sich so rasch erholt hätten. Das lag nun hinter ihnen, und vor ihnen lag Weihnachten. Alles würde ruhig und friedlich sein. Bis auf das Wetter.

Inseldämmerung

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