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6. Muse?


Aber, ehrlich gesagt, wenn ich mal um 19h zuhause bin, weiß ich gar nicht, was ich tun soll.

So oder so ähnlich höre ich das immer wieder.

Oder: Ich bin meist 5 Tage die Woche unterwegs. So 60 – 70 Stunden sind normal, und das ist nicht alles, was ich tun muss. Aber ich will ja auch sonst noch was vom Leben haben. Doch wenn ich mal was anderes probiere, erfüllt es mich nicht wirklich. Dann hänge ich eben vor dem Fernseher.

Titanics nennen wir Hochengagierte, wenn wir uns Sorgen machen. Kurs halten! Wer weiß schon, was für ein Gebilde das am Horizont ist. Die anderen auf der Brücke machen es doch genauso. Und auf wen sonst wäre man bereit zu hören, solange es nicht knirscht?

Was soll man einem Menschen sagen, der ein solches Unwohlsein, einen Mangel benennt? Erstmal vorsichtig klären, ob es wirklich das eigene Empfinden ist. Oder sind es übernommene Ansprüche, die auch noch erfüllt werden sollen? Das Leitbild unserer Zeit ist der Athlet, meint Sloterdijk.6 Müssen wir nun auch noch in Sachen Muse unser Leistungssoll erbringen? Vielleicht sollte man das in einer sehr belasteten Phase seines Lebens nicht erwarten. Ist Erholung irgendwie nicht schon genug? Wer auf dem Treppchen stehen will, muss sich seiner Disziplin ganz widmen. Dennoch: Was ist das richtige Maß? Muss nicht, wer seine Knochen heil ins Alter bringen will, rechtzeitig kürzertreten, anderes Leben lernen?

Vielleicht erstmal anerkennen, dass bei intensiver Lebensweise in einem Bereich Empfänglichkeit für andere Lebensgenüsse kaum möglich ist. Möglicherweise hat ein eh überfülltes Arbeitsleben eben keinen Raum für Weiteres. Zumindest nicht auf die Schnelle. Arbeiten geht immer. Man hat sich so daran gewöhnt. Und immer noch besser als die Leere danach. Statt schwieriger Landung lieber noch mehr Gas geben, die Flughöhe halten. Doch was, wenn der Sprit zu Ende geht? Es ist ein eigener Lernprozess, nach Kräftezehrendem Höhenflug wieder gut zu landen, sich andere Lebensräume wieder zu erschließen. Auch wenn die eine oder andere Motivklärung hilft, ist erstmal Entwöhnung angesagt. Dafür müsste man zunächst darauf verzichten, Raum auf die vertraute Weise zu füllen. Nicht unbedingt angenehm. Mit Entlastungsdepression muss gerechnet werden. Depression meint nicht unbedingt traurige Gefühle, sondern man ist sich selbst verlorengegangen.

Mit so einfachen Lebensweisheiten erntet man bei Ratsuchenden leicht Enttäuschung. Wieso Verzicht? Sie wollen doch mehr und nicht weniger. Wenn die Alternativen genügend bieten würden, wäre das was anderes. Und wieso mehr Raum schaffen, wenn man schon mit dem verfügbaren nichts wirklich anzufangen weiß? Bietet da die gewohnte Lebensweise nicht mehr, auch wenn alles etwas einseitig wird? Wieso sollte man in einem florierenden Nutzgarten ein Stück roden, wenn es dort erstmal karg bleibt, bis man seinen Musengarten zu gestalten gelernt hat? Ist nicht zumindest für Propheten Wüste angesagt, bevor Neuorientierung möglich wird? Ich habe selbst keine Neigungen zu Wüsten, wenn sie mir nicht romantisch, sondern wirklich wüst erscheinen. Und doch ist mir nach einigen Tagen Stein-Wüsten-Wanderung die eine Blume mehr im Sinn geblieben als der ganze botanische Garten, den wir zuvor besucht hatten, war frisches Wasser köstlich.

Was fehlt Ihnen? Diese Frage sollen die Ärzte früher wörtlich gemeint haben. Hat Krankheit was damit zu tun hat, dass etwas zur Gesundheit fehlt? Doch wir wissen eben oft selbst nicht, was fehlt. Und es aus einem Leiden herauszulesen, ist nicht einfach, und Antworten sind für jeden verschieden. Das Empfinden von Leere gibt nicht so leicht Auskunft über Bedürfnisse dahinter. Die anderen probieren es dann gerne mit ihren eigenen Rezepten. Sie sollen auch zu den unseren werden. Dabei gerät man damit leicht in Versteckspiele. Man sollte ja auch niemandem moralisch daherkommen. Aber wie soll man dann jemanden auf mögliche Illusionen über Lebenszusammenhänge hinweisen? Gerade Jüngere wissen oft nicht, welchen Preis sie bezahlen werden. Und wenn die Rechnung dann kommt, kann man nicht mehr umbestellen. Vieles kann man in der einen oder anderen Weise irgendwie nachholen. Für anderes ist die Uhr abgelaufen. Erfahrungsgemäß sind aufrichtige Gespräche zwischen Menschen auch unterschiedlicher Lebensphasen hilfreich. Wer von den Älteren hat nicht schon Momente erlebt, in denen er plötzlich seine Eltern besser verstanden hat? Hatten sie versucht, es einem zu sagen? Jetzt kann man vielleicht nicht mehr miteinander reden. Jüngeren kann es helfen, wenn man von sich erzählt. Manch einer ist ins Grübeln gekommen, wenn er erleben durfte, wie es jemandem ergeht, der eine solche Karriere schon hinter sich hat, für die man selbst so vieles zu opfern bereit ist.

Doch das ist eine weite Perspektive. Einsicht in kürzere Zusammenhänge reicht vielleicht auch. Unser Gehirn scheint Zeiten zu brauchen, in denen es überhaupt wenig Zufuhr und weniger derselben Art bekommt. Ruhe brauchen wir, um aus Erfahrungen des Tages das Wesentliche zu schöpfen und abzuspeichern. Dann können wir uns immer wieder neu die richtigen Fragen stellen und prüfen, ob wir dabei sind, Antworten auf diese zu finden.

Wozu also Muse? Damit das Leben Sinn macht!

6 Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009.

Wie wir unsere Zeit verbringen

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