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11. Handicaps


Handicap = „Benachteiligung aufgrund einer Behinderung.“ So steht es im Bedeutungswörterbuch. Da gibt es nichts zu beschönigen. Das gilt es anzuerkennen.

Aber es gibt auch eine andere Seite.

Damit, dass ich z.B. Probleme habe, Menschen wiederzuerkennen, habe ich mich schon früher geoutet10. Mit diesem Handicap waren mir einige gesellschaftliche Rollen und Bühnen unzugänglich. Was mir dadurch verschlossen blieb, schmerzt immer wieder mal. Was ich dabei aber entwickeln konnte, lässt mich einverstanden sein. Mich beeindruckt, wenn sich jemand sofort erinnert, wen er wo getroffen hat, wo dieser einzuordnen ist und wie und worauf er angesprochen werden kann. Doch ich messe mich nicht mehr daran. Gut, dass ich an Stärken anderer partizipieren kann. Dafür habe ich andere Stärken, musste diese auch kräftig entwickeln, um trotzdem zu der Wirkung und Geltung zu kommen, an der mir gelegen ist.

Ich habe noch andere Handicaps. Ich würde z.B. gerne Bildungswissen speichern können. Freunde von mir können sich, z.B. Geschichtswissen einfach merken, wann und wodurch welche Baustile Bedeutung hatten oder wann welcher Dichter, Maler, Musiker wie gelebt hat und wie das alles ins Verhältnis zu bringen ist. Ich habe solches Wissen immer wieder aufgenommen und finde es wichtig. Doch ich kann es nicht speichern. Nach einigen Wochen ist davon fast nichts übrig. Und weil ich das schon vorher weiß, halten sich meine Bemühungen in Grenzen. Manchmal stehe ich ganz schön ungebildet da, in diesem Sinne zumindest. Ideen und Lebensweisheiten aus den Begegnungen mit „Bildungsgütern“ bleiben mir schon, auch wenn ich sie keiner Quelle mehr zuordnen kann. Vielleicht gerade, weil ich die Inhalte vergesse, habe ich Einsichten oft klarer vor Augen als andere. Weil ich die Lebensgeschichten meiner Mitmenschen vergesse, bleiben mir Wesenseindrücke und ich mache mir immer wieder frische Bilder von ihnen.

Es gibt Menschen mit erstaunlichen Handicaps, welche, die z.B. den Gefühlsausdruck in einem Gesicht nicht sehen oder die Färbung in einer Stimme nicht hören, ja manchmal Stimmen überhaupt nicht wiedererkennen können, manchen nicht mal die Gesichter ihrer Kinder. Mittlerweile kann man solchen „Blindheiten“ entsprechende Gehirnfunktionsstörungen gut untersuchen. Ich kenne Menschen, die soziale Abstimmungsprozesse nicht erkennen und immer zwischen alle Stühle geraten. Oder solche, die ihre seit Jahren benutze Brille nicht identifizieren können oder nie wissen, wo sie die Autoschlüssel abgelegt haben. Auch sie müssen irgendwie zurecht kommen, ja vielleicht besondere Stärken entwickeln, um sich dennoch zu orientieren und ihr Leben zu gestalten. Derselbe, der auf Fragen nach emotionalen Regungen immer nur mit den Achseln zuckt, kann ein präzises GPS im Kopf haben und sich an jeden Ort erinnern, an dem er mal war. Sein Gegenüber hat vielleicht nur vage Erinnerungen und sollte sich besser niemals trauen, eine Weltkarte und die Verteilung der Länder darauf auch nur ungefähr aufzuzeichnen, will er nicht als geistig behindert erscheinen. Anderen ist es nicht gegeben, in Begegnungen, Sympathien zu wecken. Sie müssen dennoch eigene Formen der Beziehungsgestaltung entwickeln, in denen sie durch anderes attraktiv werden.

Bei näherem Hinsehen kann wohl jeder einige Handicaps aufweisen. Die Kunst besteht darin, mit ihnen gut umzugehen. Sie führen eher dann zu unguten Gefühlen, wenn wir uns an anderen oder Vorstellungen von Normalität messen und dann versuchen Handicaps zu vertuschen, als „normal“ zu erscheinen oder sie übermäßig zu kompensieren. Vermeidung macht oft mehr Probleme als die ursprünglichen Handicaps. Wäre es da nicht besser, die eigenen Handicaps in wohlwollende Obhut zu nehmen, sich zu ihnen zu bekennen und zu lernen, die in ihnen liegenden Chancen wahrzunehmen? Die rund um Handicaps ausgebildeten Stärken und Strategien sind oft kleine Kunstwerke, die zu studieren sich lohnt. Man kann sie anderen auch verständlich machen. Würdigt man sie offen, selbstkritisch und ohne Trotz, fühlen sich auch andere zu einem würdigenden Umgang mit Handicaps eingeladen, auch wenn das Fehlende dadurch nicht ausgeglichen werden kann.

Am Ende helfen Handicaps einen unverwechselbaren Charakter zu formen. Sollten also Handicaps nicht ins Charakterbild, ins Kompetenzprofil aufgenommen werden? Dann verstehen andere besser, was sie von einem Menschen erwarten können und was nicht - ein Beitrag zur Artgerechten Beziehung zum Mitmenschen. Wenn man weiß, dass das Felltier eine Katze ist, erwartet man nicht, dass es apportieren lernt. Wer das möchte, sollte sich auf Hunde verlegen.

Man hat eh meist wenig Wahl, deshalb kann man zu einem Bündnis im konstruktiven Umgang mit Behinderungen einladen.

10 Blogarchiv von Bernd Schmid, Blog 22. www.isb-w.eu/de/blog

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