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2.Selbsttötung und Fremdtötung

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Schaubild:


85Die Fremdtötung ist auch bei einem Tötungsverlangen des Opfers zumindest nach § 216 strafbar. Hingegen ist die (versuchte) Selbsttötung straflos, da §§ 211 ff. die Tötung eines anderen Menschen voraussetzen177. Da in solchen Fällen keine vorsätzliche, rechtswidrige Haupttat vorliegt, ist die Teilnahme an einem Suizid nicht strafbar178. Und solange der Suizident frei verantwortlich handelt, ist auch die Veranlassung zu einer Selbsttötung nicht als mittelbare Täterschaft strafbar. Ebenso scheidet in diesen Fällen eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung aus, weil der Erfolg dem Dritten auf Grund des eigenverantwortlichen Handelns des Opfers nicht objektiv zurechenbar ist. Letztlich ist auch eine Täterschaft durch Unterlassen – das Vorliegen einer Garantenstellung vorausgesetzt – zu verneinen, da die Tatherrschaft bei einer autonomen Selbsttötung allein beim Suizidenten liegt. Straflos ist im Hinblick auf Tötungsdelikte daher auch derjenige, der den Suizidenten nicht von seiner Tat abhält179. Anders konnte hier nur gelten, wenn ausnahmsweise ein Fall des § 217 vorlag180.

86a) Grundlagen der Abgrenzung von Selbst- und Fremdtötung. Zunächst stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Selbst- und Fremdtötung voneinander abzugrenzen sind. Die h. M. und Rspr. stellt zunächst ganz formal auf den unmittelbar lebensbeendenden Akt ab181. Wird die Tötungshandlung vom Opfer vorgenommen, liegt die Tatherrschaft bei diesem, so dass eine Selbsttötung gegeben ist182. Nimmt hingegen der Beteiligte den lebensbeendenden Akt vor, so ist eine Fremdtötung gegeben. Entscheidend soll sein, ob sich das Opfer in die Hand eines anderen gibt, weil es duldend von ihm den Tod entgegennehmen will oder es bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal besitzt183.

Bsp. (1):184 T besorgt der lebensmüden O Gift, füllt dieses in ein Glas und reicht es der O. O trinkt das Gift und stirbt. – Obwohl T erhebliche Beiträge geleistet hat, ohne die die Tat nicht hätte durchgeführt werden können, ist eine Selbsttötung mit strafloser Beteiligung des T gegeben, da O die unmittelbar lebensbeendende Handlung – das Austrinken des Glases – selbst vorgenommen hat.

Bsp. (2): T besorgt wiederum das Gift, spritzt dieses nunmehr aber der lebensmüden O. – Da T nunmehr selbst den lebensbeendenden Akt vorgenommen hat, liegt eine Fremdtötung i. S. d. § 212 bzw. § 216 vor.

Hinweis

Auch die Rechtsprechung, die ansonsten im Rahmen der subjektiven Theorie für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme auf den Täterwillen abstellt185, orientiert sich hier maßgeblich an der Tatherrschaft. Dies vor allem deshalb, weil in Fällen des § 216 sich der Beteiligte regelmäßig dem Willen des Opfers, das das Tötungsverlangen ausspricht, unterordnet und daher bei subjektiver Betrachtung zumeist nur ein Teilnehmerwillen anzunehmen wäre. Damit läge aber praktisch immer eine Selbsttötung vor, so dass die Vorschrift des § 216 weitgehend leer laufen würde186.

87b) Fälle der Mitherrschaft und „Quasi-Mittäterschaft“ 187. Die Grenzen der Tatherrschaft lassen sich freilich beliebig verschieben, so dass im Einzelfall diffizile Erwägungen anzustellen sind, wenn eine Mitherrschaft der Beteiligten vorliegt.

Bsp.: T füllt das Gift in den Mund des O, wobei sich dieser aber noch selbst entscheiden kann, ob er das Gift schluckt oder ausspuckt. – Hält man an der oben genannten Regel fest, gelangt man hier noch zu einer Selbsttötung, weil O die letzte Entscheidung über sein Schicksal allein in seinen Händen hielt und er insoweit noch Alleinherrschaft besitzt.

88aa) „Quasi-Mittäterschaft“. Liegt eine solche zwischen Täter und Opfer vor oder liegt die Tatherrschaft „zumindest auch“188 als Mitherrschaft bei Ersterem, so soll nach Rechtsprechung des BGH stets eine Fremdtötung anzunehmen sein189.

Bsp.: Der lebensmüde O nimmt Gift, das kumulativ mit einer Spritze, die T zeitgleich verabreicht, zum Tod führt.

Nach Ansicht der Rechtsprechung ist eine Fremdtötung gegeben, weil die Tatherrschaft nicht uneingeschränkt beim Suizidenten liege, vielmehr zwei gleichgewichtige Beiträge den Erfolg herbeiführten. Die in der Literatur vertretene Gegenansicht nimmt hingegen mit Recht eine straflose Beteiligung an einem Suizid an, da letztlich eine eigenverantwortliche Selbstschädigung vorliegt. Die für den Tod unabdingbare selbstschädigende Handlung des Opfers kann dem Täter nämlich nicht zugerechnet werden. § 25 Abs. 2 ist in solchen Fällen von vornherein nicht einschlägig, weil das Opfer selbst keinen Straftatbestand verwirklicht und daher kein Fall einer Mittäterschaft vorliegt190. Für die Annahme einer straflosen Beteiligung an einem Suizid spricht auch, dass es das Opfer mit der Entscheidung über die Vornahme des eigenen Tatbeitrags selbst in der Hand hat, ob der Erfolg eintritt oder nicht.

89bb) Doppelselbstmord. Entsprechende Erwägungen sind auch für den vieldiskutierten Fall des (einseitig fehlgeschlagenen) Doppelselbstmordes anzustellen.

Bsp.:191 T und O beschließen, gemeinsam eine Selbsttötung zu begehen, wozu T Auspuffgase in den Pkw leitet. O verriegelt auf ihrer Seite die Tür und kommt durch die Abgase ums Leben. T, der das Gaspedal im Wagen tritt, wird ebenfalls bewusstlos, überlebt jedoch.

Nach Ansicht des BGH soll ein Fall des § 216 vorliegen, da der Beteiligte das Geschehen bis zuletzt in der Hand hatte und die auf den beiderseitigen Tod zielende Ausführungshandlung bis zum Eintritt der eigenen Bewusstlosigkeit fortsetzte192. Dagegen spricht jedoch, dass aus einem Gesamtvorgang letztlich nur ein Akt herausgegriffen wird und der freiverantwortlichen Willensentscheidung des Opfers und seinen eigenen Handlungen zu wenig Raum gegeben wird. Richtigerweise liegt auch hier eine die Fremdtötung ausschließende Mitherrschaft des Opfers vor, weil dieses selbst in den Wagen gestiegen ist, die Tür verriegelt und die Abgase eingeatmet hat193. Das Opfer hätte ohne weiteres wieder aussteigen und damit den Tod verhindern können. Für die rechtliche Beurteilung macht es letztlich auch keinen entscheidenden Unterschied, ob auf das Gaspedal ein schwerer Gegenstand gelegt wird und das Opfer erst anschließend in den Wagen steigt oder der Beteiligte das Gaspedal nach dem Einsteigen noch weiter drückt.

90c) Fälle der mittelbaren Täterschaft. Selbst wenn das Opfer den lebensbeendenden Akt selbst vornimmt und damit auf den ersten Blick ein Suizid vorliegt, kann (ausnahmsweise) eine abweichende Beurteilung geboten sein, wenn die Tatherrschaft nach den Kriterien der mittelbaren Täterschaft beim Beteiligten liegt. Maßgeblich hierfür ist, ob das Opfer freiverantwortlich handelt oder nicht. Streitig ist allerdings, wann eine eigenverantwortliche Willensentscheidung zur Selbsttötung vorliegt194.

91Teilweise wird für die Beurteilung nur auf die für Fremdverletzungen geltenden Regeln zurückgegriffen. Es wird demnach gefragt, ob das handelnde Opfer im Falle einer Fremdschädigung rechtlich verantwortlich gewesen wäre195. Dies ist zu verneinen, wenn zugunsten des Handelnden eine Exkulpationsvorschrift eingreifen würde (§§ 19, 20, 35, § 3 JGG). Liegt etwa die Situation eines Nötigungsnotstands vor, so wäre das Opfer – hätte es einen Dritten geschädigt – auf Grund der Zwangslage gem. § 35 entschuldigt196. Kommt es in einem solchen Fall zur Selbsttötung, fehlt es stets an einer freiverantwortlichen Entscheidung.

92Bsp.: T veranlasst den O, der sich in einer tiefgreifenden Bewusstseinstörung befindet, zur Selbsttötung. – Hat T Kenntnis von dieser Störung, ist er gem. §§ 212, 25 Abs. 1 Var. 2 zu bestrafen. O handelt dann nicht freiverantwortlich, da er im Falle der Tötung eines Dritten gem. § 20 rechtlich nicht verantwortlich gewesen wäre.

93Streitig ist, ob über diese Fälle hinaus eine mittelbare Täterschaft in Betracht kommt. Dies ist grundsätzlich zu bejahen, da auch in anderen Fällen eine Wissens- und Willensherrschaft des Beteiligten vorliegen kann und daher ein eigenverantwortlicher Suizid ausscheidet. Mit Recht wird überwiegend auf diejenigen Regeln abgestellt, die – einmal abgesehen von der fehlenden Dispositionsbefugnis hinsichtlich des Rechtsguts Leben – für die rechtfertigende Einwilligung gelten197. Für eine solche Lösung spricht, dass bei der Disposition über das eigene Leben ähnlich strenge Regeln gelten müssen wie im Rahmen einer Fremdverletzung oder bei der Beurteilung der Ernstlichkeit des Tötungsverlangens i. S. d. § 216 und damit dem Verantwortungsprinzip Rechnung getragen werden kann. Demnach muss das Opfer vor allem einsichtsfähig sein, d. h. die Tragweite seiner Entscheidung übersehen, ferner dürfen keine wesentlichen Willensmängel (Drohung, Täuschung oder Zwang) vorliegen. Einen rechtsgutsbezogenen Willensmangel veranlasst der Täter beispielsweise, wenn er das Opfer darüber täuscht, dass es durch seine eigenen Handlungen zu Tode kommen wird.

Bsp.:198 O ist dem T hörig, was T ausnutzen möchte, um sich zu bereichern. T spiegelt O vor, er sei ein Gesandter des Sternes Sirius und habe den Auftrag, vor dem Untergang der Erde einige Menschen, wozu auch O gehöre, zu retten. Hierzu sei aber erforderlich, dass sie ihren Körper durch einen neuen Körper ersetze. Nachdem T die O dazu bringt, eine Lebensversicherung zu seinen Gunsten abzuschließen, trägt er ihr auf, sich in die Badewanne zu setzen und einen Fön in das Wasser zu werfen. Sie werde dann in einem roten Raum am Genfer See in einem neuen Körper erwachen. Als O den Fön in das Wasser wirft, spürt sie jedoch nur ein leichtes Kribbeln. – Für die Frage, ob sich T wegen versuchten Mordes (Habgier) strafbar gemacht hat, ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Handlung, die unmittelbar zum Tode führen sollte, von O selbst vorgenommen wurde. Eine Selbsttötung würde nur dann ausscheiden, wenn O nicht freiverantwortlich handelte und damit als ein sich selbst schädigendes Werkzeug i. S. d. § 25 Abs. 1 Var. 2 anzusehen wäre. Ob die Verursachung eines Irrtums beim Opfer hierfür ausreichend ist, hängt im Einzelfall von Art und Tragweite des Irrtums ab199. Wird das Opfer bewusst darüber getäuscht, dass es eine Ursache für den eigenen Tod setzt, so ist der Täuschende Täter eines Tötungsdelikts, wenn er kraft überlegenen Wissens den Irrenden lenkt und dadurch zum Werkzeug gegen sich selbst macht (sog. „Irrtumsherrschaft“)200. T ist demnach mittelbarer Täter, da er O vorspiegelte, dass sie ihren alten Körper gegen einen neuen tauschen werde und diese daher nicht glaubte, dass sie sich selbst töten werde.

94Umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob auch das Hervorrufen eines bloßen Motivirrtums, der einen anderen zur Selbsttötung veranlasst, zur Irrtumsherrschaft und daher zur mittelbaren Täterschaft führt.

Bsp. (1):201 T täuscht seine Ehefrau O darüber, dass sie an einer unheilbaren Krankheit leide, an der sie qualvoll sterben werde. Daraufhin tötet sich O – wie von T beabsichtigt – selbst.

Bsp. (2):202 T spiegelt seiner Ehefrau O vor, dass er bereit sei, mit ihr aus dem Leben zu scheiden; in Wahrheit denkt er jedoch nicht daran. Er möchte das weitere Leben lieber mit der Geliebten G verbringen.

95In solchen Fällen bezieht sich der Irrtum des Opfers nicht auf die Tötung selbst, sondern lediglich auf das maßgebliche Motiv. Zwar verfügt das Opfer hier bewusst über das Leben, gleichwohl steuert der Hintermann die Entscheidung des Opfers auf Grund seiner Wissens- und Willensherrschaft planmäßig, weshalb auch in diesen Fällen mittelbare Täterschaft anzunehmen ist203.

96d) Unterlassungsstrafbarkeit. Für die Frage, ob ein Beteiligter, der nach einem Suizid die Rettung unterlässt, strafbar ist, muss zunächst geklärt werden, ob der Suizid freiverantwortlich war.

97aa) Kein freiverantwortlicher Suizid. In diesem Fall kann sich ein Garant unter den Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts gem. §§ 212 (bzw. § 216), 13 strafbar machen, wenn er den Suizid nicht verhindert204. Im Übrigen kommt eine Strafbarkeit gem. § 323c in Betracht.

Bsp.: Ehemann O, der volltrunken ist (Alkoholgehalt: 3,2 Promille), ist gerade dabei, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ehefrau T als Garantin (vgl. § 1353 Abs. 1 BGB) unternimmt nichts, obgleich sie erkennt, dass O nicht freiverantwortlich handelt. – T macht sich gem. §§ 212, 13 strafbar, da die Tatherrschaft auf Grund der Trunkenheit des O – dieser befindet sich im Zustand der Schuldunfähigkeit i. S. d. § 20 – bei ihr liegt.

98bb) Freiverantwortlicher Suizid. Hier scheidet hingegen eine Strafbarkeit wegen Tötung durch Unterlassen aus, wenn der Garant den Suizidenten nicht an der Tat hindert. Dies lässt sich damit begründen, dass in solchen Fällen die Tatherrschaft allein beim Suizidenten liegt. Ein anderes Ergebnis wäre zudem widersinnig. Denn ansonsten wäre zwar straffrei, wer aktiv den Suizid unterstützt, strafbar jedoch derjenige, der den Suizidenten an seinem Tun nur nicht hindert.

Bsp. (1): Ehefrau O möchte mittels Gift aus dem Leben scheiden. Ehemann T hindert sie auf ihren Wunsch hin nicht daran. – T ist nicht gem. §§ 216, 13 strafbar, da die Tatherrschaft allein bei O liegt. Dies folgt auch daraus, dass T selbst dann straflos wäre, wenn er sich aktiv am Suizid – etwa durch Beschaffen des Giftes – beteiligt hätte.

Bsp. (2):205 O wird wegen Suizidgefahr in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Arzt T stuft ihn nicht als suizidgefährdet ein. In der ersten Nacht erhängt sich O mit einem Gürtel. – T ist zwar kraft Behandlungsvertrag Garant. Soweit O jedoch eigenverantwortlich handelt, bleibt T straflos.

99cc) Nachfolgendes Unterlassen. Streitig ist hingegen die Frage, ob eine Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdelikts (§§ 212, 13) in Betracht kommt, wenn der Garant erst im weiteren Verlauf eines freiverantwortlichen Suizids untätig wird.

Bsp.: Ehemann T reicht seiner Ehefrau O einen Becher mit Gift, den diese auf Grund einer freiverantwortlichen Entscheidung zum Zwecke der Selbsttötung trinkt. Nach wenigen Minuten wird O bewusstlos. T unternimmt nichts, O stirbt geraume Zeit später.Da Ehefrau O auf Grund einer eigenverantwortlichen Entscheidung selbst die unmittelbar zum Tode führende Handlung vornimmt, hat sie die Tatherrschaft über den lebensbeendenden Akt. Die Übergabe des Bechers ist damit eine straflose Beteiligung am Suizid. Eine Strafbarkeit wegen aktiven Tuns kommt damit nicht in Betracht. Möglicherweise ist T jedoch als Garant (vgl. § 1353 Abs. 1 BGB) anschließend verpflichtet, den Erfolg abzuwenden.

100Ein nachfolgendes Unterlassen kann nach (noch) überwiegender Ansicht in der Rechtsprechung zu einer Strafbarkeit des Garanten führen206. Verliert das Opfer nach Vornahme der Selbsttötungshandlung das Bewusstsein oder wird es handlungsunfähig, so gehe die Tatherrschaft zu diesem Zeitpunkt auf den Garanten über, weil das Opfer den weiteren Verlauf nicht mehr in seinen Händen hält207. Eine Strafbarkeit kann damit nur noch in sehr engen Grenzen über das Merkmal der Zumutbarkeit der Hilfeleistung verneint werden208. Keine Anwendung finden diese Grundsätze freilich in den anders gelagerten Fällen des einverständlichen Behandlungsabbruchs; selbst wenn der Patient hier bewusstlos wird, soll gerade keine Behandlunsgpflicht entstehen209.

101Die überwiegende Ansicht im Schrifttum lehnt eine Strafbarkeit des Garanten jedoch zu Recht ab210. Das Erfordernis einer Hilfeleistung widerspricht nämlich im Regelfall dem Willen und damit dem Selbstbestimmungsrecht des Suizidenten211. Auch würde der bereits genannte Widerspruch auftreten, dass zwar die aktive Förderung des Suizids straflos ist, das Unterlassen späterer Hilfsmaßnahmen hingegen nicht212. Im Übrigen würde eine Strafbarkeit auch davon abhängen, ob der Garant nach Eintreten der Handlungsunfähigkeit des Opfers (zufällig) noch am Ort des Geschehens anwesend ist und damit die für das unechte Unterlassungsdelikt notwendige physisch-reale Handlungsmöglichkeit besitzt. Ein nachfolgendes Untätigsein des Garanten ist daher ebenfalls straflos, soweit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von einem bis zum Tod durchgehaltenen Suizidwillen ausgegangen werden kann213. Macht hingegen der Suizident deutlich, dass er von der Selbsttötung Abstand nehmen möchte, trifft den Garanten eine Rettungspflicht.

102Nach h. M. ist in diesen Fällen aber eine Strafbarkeit nach § 323c zu prüfen, da der Suizid ab dem Zeitpunkt der Hilfsbedürftigkeit aus Sicht des Beteiligten einen Unglücksfall darstellt214. Dafür spricht, dass Suizidversuche mitunter lediglich Appellcharakter für das Umfeld des Opfers haben. Auch lässt sich für einen Unbeteiligten häufig nicht ohne weiteres erkennen, ob der Suizident freiverantwortlich gehandelt hat und tatsächlich keine Rettung erhofft. Selbst wenn man generell einen Unglücksfall bejaht, muss im Einzelfall dann aber stets das Merkmal der Zumutbarkeit der Hilfeleistung sorgfältig geprüft werden. Die Zumutbarkeit ist jedenfalls dann zu verneinen, wenn der Suizident für den Beteiligten erkennbar an seinem freiverantwortlich getroffenen Willen festhält, keine Rettung wünscht und die Tat ggf. sogar wiederholen würde215.

103e) Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. Da bei Fahrlässigkeitsdelikten eine Differenzierung zwischen Täterschaft und Teilnahme nicht erfolgt (Einheitstäterprinzip216), werden die Probleme der Abgrenzung von Selbsttötung und Fremdtötung in die Prüfung der objektiven Zurechnung verlagert. Handelt das Opfer freiverantwortlich, so realisiert sich im Erfolg bereits keine vom Täter geschaffene Gefahr. Wer lediglich eine Selbstgefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, macht sich ebenso wenig wie bei einem Vorsatzdelikt strafbar217.

104aa) Fahrlässigkeit bei freiverantwortlichem Suizid. Im Ausgangspunkt ist für die Abgrenzung der fahrlässigen Fremdtötung zur straflosen Selbsttötung wiederum entscheidend, wer den unmittelbar lebensbeendenden Akt vornimmt218. Als Leitlinie kann dabei gelten, dass eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung dann ausscheidet, wenn es sich bei vorsätzlicher Begehung nur um eine straflose Beihilfe zum Suizid handeln würde. Erforderlich ist auch hier stets, dass ein freiverantwortlicher Suizid vorliegt.

Bsp.:219 T kauft Einwegspritzen für den gemeinsamen Heroinkonsum mit O. Jeder verabreicht sich selbst eine Spritze. O stirbt. – Die eigentliche Tötungshandlung wurde vom freiverantwortlich handelnden O vorgenommen. T wirkte lediglich an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung mit, so dass eine Strafbarkeit nach § 222 mangels objektiver Zurechnung des Erfolges ausscheidet. Anders wäre nur zu entscheiden, wenn eine eigenverantwortliche Gefährdung nicht vorläge, weil sich O – in Parallele zu den Fällen der mittelbaren Täterschaft beim Vorsatzdelikt220 – der Tragweite seines Handelns nicht bewusst war. Das wäre z. B. der Fall, wenn T die Betäubungsmittel mit gefährlichen Stoffen „gestreckt“ hätte und O deshalb zu Tode gekommen wäre. Ein eindeutiger Fall einer Fremdtötung wäre hingegen bei einer Fremdinjektion des Heroins nach Aufforderung durch das Opfer gegeben221.

105bb) Nachfolgende Fahrlässigkeit. Tritt der Tod des Suizidenten in seiner konkreten Gestalt erst auf Grund nachfolgender Sorgfaltspflichtverletzungen anderer Beteiligter ein, so ist trotz der vorangegangenen Selbsttötungshandlungen eine fahrlässige Tötung anzunehmen.

Bsp.:222 Arzt T unterläuft bei der Rettung des Suizidenten, der schwer verletzt ist, ein Behandlungsfehler, so dass dieser durch die Medikamentgabe zu Tode kommt. – T macht sich gem. § 222 strafbar, da ihm der Tod objektiv zurechenbar ist. Der Tod in seiner konkreten Gestalt beruht in tatbestandstypischer Weise auf dem ärztlichen Behandlungsfehler.

106cc) Suizid in (umgekehrter) mittelbarer Täterschaft. Umstritten sind Fälle, in denen das Opfer den Beteiligten gezielt als Werkzeug zur Selbsttötung einsetzt.

Bsp.:223 Ehemann O fordert Ehefrau T bei einer Aussprache über die von ihr beabsichtigte Scheidung auf, eine Pistole zu nehmen und zum Schein auf ihn zu schießen. Mit Hilfe des O prüft sie, dass keine Patrone im Magazin ist. T drückt ab. O kommt zu Tode, da T eine sich im Lauf befindende Patrone aus Unachtsamkeit übersehen hat. Genau dies hatte O beabsichtigt. – Mangels Tötungsvorsatz kommt nur eine Strafbarkeit gem. § 222 in Betracht. Da die unmittelbare Tötungshandlung von T vorgenommen wurde, läge nach den bereits geschilderten Grundsätzen eine strafbare Fremdtötung vor. Fraglich ist, ob der Umstand, dass O die T getäuscht hat, eine abweichende Beurteilung erfordert.

107Für die Annahme einer Selbsttötung wird angeführt, dass das Opfer kraft überlegenen Wissens – dahingehend, dass sich in der Waffe eine Patrone befindet – die Situation beherrscht und daher die Tat planvoll lenkt224. Es liege gewissermaßen ein „umgekehrter Fall“ der mittelbaren Täterschaft vor, bei dem das Opfer den Beteiligten zur Selbsttötung instrumentalisiert225.

108Freilich lassen sich die Grundsätze der mittelbaren Täterschaft nicht ohne weiteres auf diese Konstellation übertragen, weil die Selbsttötung keine Straftat darstellt226. Auch ist zu beachten, dass O nach dem Abdrücken, d. h. der Vornahme der Tathandlung, keine Möglichkeit mehr besaß, den tatbestandlichen Erfolg zu verhindern. Wäre der Beteiligte darüber aufgeklärt worden, dass sich im Lauf tatsächlich eine Patrone befindet, hätte es sich daher – bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen – um eine Fremdtötung auf Verlangen gem. § 216 gehandelt227. Dass dem Beteiligten bloße Fahrlässigkeit zur Last fällt, ändert an der Beurteilung als Fremdtötung nichts. Letztlich ist auch zu berücksichtigen, dass bei Fällen „echter“ mittelbarer Täterschaft das getäuschte und vorsatzlos dolos handelnde Werkzeug immerhin wegen fahrlässiger Tatbegehung strafbar sein kann228. Nachstehende Beispiele verdeutlichen dies:

Bsp. (1):229 Der schwerkranke O hat nur noch eine Atmungskapazität von zehn Prozent eines Gesunden. Der Zivildienstleistende T übernimmt für zwei Wochen die Betreuung. O möchte durch eine Täuschung des T aus dem Leben scheiden. Dazu äußert O gegenüber T den Wunsch, verpackt in einen Müllcontainer gelegt zu werden. Auf Nachfragen des T versichert er, dies aus sexuellen Motiven schon öfter gemacht zu haben und dass seine Bergung aus dem Container durch Dritte sicher sei. T packt O daraufhin in Säcke, verklebt dessen Mund und legt ihn bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in einen Container. Bei O tritt der Tod durch Ersticken, möglicherweise in Kombination mit Unterkühlung ein.

109Die eigentliche Tötungshandlung (das Verbringen in den Container) wurde von T vorgenommen, so dass nach allgemeinen Kriterien eine Fremdtötung vorliegt. Auch wurde T – anders als im Ausgangsfall – nicht über die konkreten Umstände der von ihm bewusst verursachten extremen Gefährdung (stark eingeschränkte Atmungsaktivität, Temperatur um den Gefrierpunkt) getäuscht. Die Täuschung bezog sich vielmehr lediglich darauf, dass O von einer unbekannten Person gerettet werden sollte. Auf diese Täuschung lässt sich aber eine Tatherrschaft des O nicht stützen, zumal dieser auch aus Sicht des T völlig hilflos war. T hat sich daher nach § 222 strafbar gemacht.

Bsp. (2): Wie Bsp. (1), aber der Dritte D veranlasst in Tötungsabsicht den Zivildienstleistenden T unter Vorspiegelung der Rettung, das Opfer in den Container zu legen.

110T wäre zunächst nicht nach § 212 strafbar, da er täuschungsbedingt keinen Tötungsvorsatz besaß. D ist hingegen wegen vorsätzlichen Totschlags in mittelbarer Täterschaft nach §§ 212 (211), 25 Abs. 1 Var. 2 strafbar, da er gerade durch die Täuschung den Deliktsmangel beim Vordermann hervorgerufen hat. Trotz der Werkzeugqualität wäre T aber nach allgemeiner Meinung immer noch wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 strafbar, da das Verbringen des Opfers in den Container eine Sorgfaltspflichtverletzung darstellt.

Strafrecht Besonderer Teil

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