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II.Die Aufgabe des Strafrechts: Rechtsgüterschutz

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9Vor der Erörterung der Struktur einer Straftat und der Darstellung des Prüfungsaufbaus ist es jedoch sinnvoll, sich kurz Gedanken darüber zu machen, welche Aufgabe dem Strafrecht in unserem Rechtssystem eigentlich zukommt und warum es sinnvoll und notwendig erscheint, auf ein bestimmtes Verhalten überhaupt mit Strafe zu reagieren. Der Zweck des Strafrechts (und damit der Grund, warum der Gesetzgeber die einzelnen Straftatbestände ins Gesetz aufgenommen hat), liegt im Schutz bestimmter Rechtsgüter. Unter diesem Begriff fasst man bestimmte Werte zusammen, die durch die Rechtsordnung geschützt werden sollen. Es kann sich hierbei sowohl um Rechtsgüter des Einzelnen als auch um solche der Allgemeinheit handeln.

10Als „klassisches“ Rechtsgut des Einzelnen (auch „Individualrechtsgüter“ genannt) ist das menschliche Leben zu nennen. Schon in der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) wird klargestellt, dass das menschliche Leben ein zentrales Grundrecht des Einzelnen darstellt. Es ist daher folgerichtig, dass dieses Recht auch durch das Strafrecht gegen Verletzungen nicht nur seitens staatlicher Organe, sondern auch seitens anderer Mitbürger geschützt wird. Das menschliche Leben ist daher als Rechtsgut anerkannt und schützenswert. Als weitere individuelle Rechtsgüter sind die körperliche Unversehrtheit, die Ehre, die Freiheit, aber auch Vermögen und Eigentum zu nennen.

11Daneben existieren allerdings auch Rechtsgüter der Allgemeinheit (Allgemeinrechtsgüter oder auch kollektive Rechtsgüter) wie z. B. das ordnungsgemäße Funktionieren der staatlichen Verwaltung oder der Rechtspflege. Wenn dem Staat z. B. die Aufgabe zukommt, ein funktionierendes Gerichtswesen zu schaffen (dies schon deshalb, damit die Einzelnen ihr Recht nicht mit „Gewalt“ im Wege der Selbstjustiz durchsetzen), muss dieses auch sicherstellen, dass Zeugen vor Gericht die Wahrheit sagen. Eben diesem Zweck dienen die Aussagedelikte, §§ 153 ff. StGB, durch welche die innerstaatliche Rechtspflege als Rechtsgut geschützt wird. Aber auch die „Sicherheit des Straßenverkehrs“ oder die „Umwelt“ sind als kollektive Rechtsgüter anerkannt. Bedeutsam ist, dass diese Rechtsgüter dem Gesetzgeber nicht statisch vorgegeben sind. Vielmehr bestimmt die staatliche Gemeinschaft regelmäßig auf der Grundlage der jeweiligen Gesellschaftsordnung Werte und Grundsätze, die für das menschliche Zusammenleben als so wichtig angesehen werden, dass auch ein Schutz durch das Strafrecht erforderlich scheint. Einen wesentlichen Anhaltspunkt für die zu schützenden Werte bildet dabei die jeweils geltende Verfassung. Die als schützenswert angesehenen Rechtsgüter sind insoweit einem zeitlichen Wandel unterworfen. Während manche Rechtsgüter, wie z. B. die Umwelt, erst im Laufe der vergangenen Jahre hinzugekommen sind, sind andere weggefallen, wie z. B. die „Reinhaltung der mitmenschlichen Beziehungen vor sexuell unzüchtigen Handlungen“ (früher geschützt durch den Kuppeleitatbestand, § 180 StGB a. F.).

12Die zu schützenden Rechtsgüter sind Grundlage der jeweiligen Strafbestimmung, sie sind die Motivation des Gesetzgebers, eine bestimmte Vorschrift zu erlassen. Diese Motivation ist allerdings im Gesetz selbst nicht ausdrücklich niedergeschrieben, sondern durch Auslegung des Straftatbestandes im Einzelfall zu ermitteln. Dies ist mitunter recht einfach. So ist es z. B. nicht zweifelhaft, dass der Tatbestand des Totschlags, § 212 StGB, das Rechtsgut „Leben“ oder der Tatbestand des Diebstahls, § 242 StGB, das „Eigentum“4 schützt. Zuweilen kann die Ermittlung des geschützten Rechtsguts aber auch schwieriger sein. Als Beispiel sollen hier nur die Bestechungsdelikte, §§ 331 ff. StGB, genannt werden, deren Rechtsgut seit langem umstritten ist.

13Entscheidend ist, dass jeder Straftatbestand zumindest ein anerkanntes Rechtsgut schützen muss. Ist dies einmal nicht der Fall, dann verstößt die entsprechende Vorschrift gegen die Verfassung, da sich der mit jeder strafrechtlichen Verurteilung verbundene Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen in diesem Fall nicht rechtfertigen lässt. Möglich ist es jedoch, dass ein Straftatbestand mehrere Rechtsgüter schützt, wie z. B. bei der „falschen Verdächtigung“, § 164 StGB: Neben dem einzelnen Staatsbürger, der sich nicht zu Unrecht staatlichen Strafverfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sehen soll, wird darüber hinaus auch die staatliche Rechtspflege geschützt, damit diese nicht durch unrichtige Anzeigen überflüssig in Anspruch genommen wird – was Zeit und Geld kostet und dementsprechend zu vermeiden ist. Diese „Doppelung“ der Rechtsgüter spielt insbesondere dann eine Rolle, wenn der betroffene Einzelne (also das Opfer hinsichtlich des verletzten Individualrechtsguts) in die falsche Verdächtigung einwilligt. Denn eine solche Einwilligung ist nur im Hinblick auf Individualrechtsgüter, nicht aber bei kollektiven Rechtsgütern möglich – weswegen die Einwilligung in diesem Beispiel niemals alle geschützten Rechtsgüter gleichsam abdecken „kann“.5

Klausurtipp

Bei der juristischen Fallbearbeitung muss das durch die jeweilige Strafnorm zu schützende Rechtsgut nicht bei jeder Prüfung im Einzelnen festgestellt werden. Das Rechtsgut kann jedoch bei der Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale und im Hinblick auf den durch die Vorschrift geschützten Rechtsgutträger (z. B. hinsichtlich einer möglichen Einwilligung oder bei der Berechtigung, als Verletzter einen Strafantrag zu stellen) durchaus eine Rolle spielen und ist in diesen Fällen einer genaueren Prüfung zu unterziehen.

14Umgekehrt ist aber nicht immer dann, wenn ein konkretes Rechtsgut durch ein bestimmtes Verhalten betroffen ist, zwingend auch eine Strafvorschrift einschlägig. Es kann also durchaus gesellschaftlich unerwünschte und möglicherweise auch zivilrechtlich rechtswidrige und schuldhafte Verhaltensweisen geben, welche auch zivilrechtliche Schadensersatzansprüche begründen, die aber nicht als so gravierend angesehen werden, dass sie auch mit Strafe bedroht werden müssten (so macht sich z. B. derjenige, der fahrlässig eine fremde Sache beschädigt, nach § 823 BGB schadensersatzpflichtig, da er das Eigentum – ein an sich strafrechtlich geschütztes Rechtsgut! – eines anderen verletzt hat. Strafbar macht er sich daneben jedoch nicht, da § 303 StGB nur die vorsätzliche, nicht aber die fahrlässige Sachbeschädigung mit Strafe bedroht). Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom fragmentarischen Charakter des Strafrechts. Die Anwendung des Strafrechts bzw. die Bestrafung eines Menschen darf lediglich ultima ratio sein. Diese Anforderung ist erfüllt, wenn ein ganz besonders sozialschädliches Verhalten vorliegt. Wann dies der Fall ist, liegt in den Händen des Gesetzgebers, der diese Wertentscheidung durch die Tatbestände des StGB manifestiert.

15Vom geschützten Rechtsgut (z. B. vom abstrakten Rechtsgut „Eigentum“) zu unterscheiden sind der durch die jeweilige Vorschrift geschützte Rechtsgutsträger (z. B. der konkrete Eigentümer der beschädigten oder gestohlenen Sache) sowie das „Handlungs-“ oder „Tatobjekt (z. B. das beschädigte oder gestohlene Mobiltelefon).

Literaturhinweise

Rönnau, Der strafrechtliche Rechtsgutsbegriff, JuS 2009, 209 (kurze, prägnante Einführung in die Thematik); Swoboda, Die Lehre vom Rechtsgut und ihre Alternativen, ZStW 122 (2010), 24 (ausführlicher, verständlicher Gesamtüberblick)

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