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II. Historische Entwicklung
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Die Realisierung des Binnenmarktes (unter dem Terminus Gemeinsamer Markt) wurde bereits in Art. 2 des Gründungsvertrags der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, → Europäische Union: Geschichte) als ein wesentliches Ziel der Gemeinschaft festgelegt. Erforderlich zur Erreichung dieses Ziel sind zum einen der Wegfall jeglicher Zölle zwischen den Mitgliedstaaten, zum anderen die Eliminierung jeglicher zwischen ihnen bestehender sog. nichttarifärer Handelshemmnisse. Das sind den Handel mittel- oder unmittelbar beschränkende Maßnahmen, bei denen es sich nicht um Zölle handelt. Beispiele für nichttarifäre Handelshemmnisse sind nationale Regelungen, die bestimmte technische Anforderungen für die Zulassung von Produkten stellen, oder die beschränkte Anerkennung von ausländischen Berufs- und Studienabschlüssen.
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Während die Zollunion bereits im Jahre 1967 errichtet werden konnte, erschwerten nichttarifäre Handelshemmnisse noch über Jahrzehnte hinweg massiv die ungestörte Ausübung der Grundfreiheiten (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren) und damit auch die Verwirklichung des Binnenmarktes. Einen ersten wichtigen Schritt zur Beseitigung dieser Hemmnisse stellt das Cassis-de-Dijon-Urteil des → Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahre 1979 dar, in dem der Gerichtshof zunächst für den Bereich der → Warenverkehrsfreiheit den sog. → Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung formulierte (EuGH, Urt. v. 20.2.1979, 120/78 – Cassis de Dijon –, Rn. 14). Nach diesem Grundsatz ist jedes aus einem Mitgliedstaat eingeführte Erzeugnis grundsätzlich im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten zuzulassen, sofern es im Ausfuhrland rechtmäßig – d.h. in Einklang mit den entsprechenden nationalen Regelungen oder den dortigen verkehrsüblichen, traditionsgemäßen Herstellungsverfahren – produziert und in Verkehr gebracht worden ist. Die Anwendung dieses Grundsatzes hat der Gerichtshof im Laufe der Zeit – mit den entsprechenden Anpassungen – auf weitere Grundfreiheiten erweitert.
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Von grundlegender Bedeutung für die weitere Verwirklichung des Binnenmarktes war das Inkrafttreten der sog. Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) im Jahre 1987, einem Programm zur Änderung und Ergänzung der damaligen EG-Verträge. Es diente der Umsetzung von mehr als 282 Gesetzesinitiativen, die zuvor von der → Europäischen Kommission in einem Weißbuch formuliert worden waren und mit denen u.a. materiell-rechtliche und technische Schranken zur Verwirklichung des Binnenmarktes (z.B. handelshemmende nationale Vorschriften) beseitigt werden sollten. Im Rahmen einer sog. neuen Strategie wurde hierzu u.a. der Plan gefasst, den Erlass rechtsharmonisierender Vorschriften auf grundlegende Aspekte zu beschränken und im Übrigen auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu rekurrieren. Zur rascheren Umsetzung der angesprochenen Gesetzesinitiativen konnten nach Inkrafttreten der EEA erstmals Entscheidungen im → Rat (Ministerrat) auch mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden (→ Rechtsetzungsverfahren). Das mit der EEA explizit formulierte (politische) Ziel bestand in der tatsächlichen Realisierung des Binnenmarktes bis zum 31.12.1992. Anfang 1993 waren bereits 95 % der im angesprochenen Weißbuch aufgeführten Gesetzesinitiativen verwirklicht.
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Zur weiteren Konsolidierung und Progression des Binnenmarktes hat die → Europäische Kommission seither in regelmäßigen Abständen – nämlich 1993, 1999, 2003, 2007, 2010, 2012 und zuletzt 2015 – sog. Binnenmarktstrategien (BMS) erarbeitet. Die Schwerpunkte der BMS sind in der Regel stark von den jeweils vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umständen abhängig. Bestimmte Themen zeigen sich jedoch in nahezu allen Strategiepapieren omnipräsent. Hierzu zählen die Beseitigung nationaler, den grenzüberschreitenden Verkehr hindernder Regelungen oder in jüngerer Zeit v.a. Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarktes im Bereich der → Dienstleistungsfreiheit. Dies verdeutlicht, dass es sich – allein aufgrund des technischen, immer neue Produkte generierenden Fortschritts – bei der Verwirklichung und der Verwaltung des Binnenmarktes um eine dauerhafte Aufgabe handelt.
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Im Einzelnen lag im Strategiepapier von 1993 der Schwerpunkt der Maßnahmen u.a. auf einer verbesserten Umsetzung der binnenmarktrechtlichen Regeln durch die Mitgliedstaaten. In verfahrensrechtlicher Hinsicht besonders erwähnenswert ist der Umstand, dass die Europäische Kommission seit 1994 Jahresberichte über den Stand der Verwirklichung und Verwaltung des Binnenmarktes verfasst.
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Die BMS von 1999 formulierte als Arbeitsprogramm für die weitere Entwicklung des Binnenmarktes in den Jahren 2000–2004 folgende vier Schwerpunkte: Die Verbesserung der Lebensqualität der Bürger, die Stärkung der Effizienz der gemeinschaftlichen Güter- und Kapitalmärkte, die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft sowie die Nutzung der Errungenschaften des Binnenmarktes in einer im Wandel begriffenen Welt. Als nennenswerte legislative Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität der Bürger sind aus dem Zeitraum insbesondere die Änderungen bzw. der Erlass von Verbraucherschutz-Richtlinien zu den Themen Produktsicherheit, Haustürgeschäfte, aber auch zum Schutz vor irreführender Werbung zu nennen.
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In der BMS von 2003 – mit einem Geltungszeitraum für die Jahre 2003–2006 – lag der Fokus zum einen auf der weiteren Entwicklung des Binnenmarktes insbesondere im Bereich der Dienstleistungen. Diesen Bereich hatte der → Europäische Rat bereits im Jahr 2000 bei Vorstellung seiner sog. Lissabon-Strategie als Kernelement für das zu jener Zeit erklärte Ziel ausgemacht, die EU in zehn Jahren zum wirtschaftsstärksten Raum der Welt zu transformieren. Zum anderen sollten die Herausforderungen für den Binnenmarkt bewältigt werden, die mit der für 2004 geplanten Osterweiterung bevorstanden.
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Die BMS von 2007 für den Zeitraum von 2007–2009 trug den Titel „Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. Jahrhunderts.“ Ihre wesentlichen Ziele bestanden in einer weiteren Vertiefung des Binnenmarktes, insbesondere im Bereich der Dienstleistungen, der Stärkung des Verbraucherschutzes sowie in einem verbesserten Zugang für kleine und mittelständische Unternehmen zum Binnenmarkt. Des Weiteren sollte zur Stärkung der eigenen Position im internationalen Wettbewerb die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Regeln und Normen gefördert werden. In legislativer Hinsicht besonders erwähnenswert ist der Erlass der EU-Dienstleistungsrichtlinie. Sie verfolgte vornehmlich das Ziel, die wissensgestützte Wirtschaft weiter auszubauen.
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Die BMS von 2011, 2012 und 2015 sind geprägt von den Auswirkungen der weltweiten Finanz- und Schuldenkrise und ihren negativen Folgen für weite Teile der Bevölkerung – u.a. in Form hoher Arbeitslosenquoten – v.a. in den südlichen Mitgliedstaaten der EU. Insgesamt zeigt ein wachsender Teil der EU-Bürger – weil er sich von den Vorteilen des einheitlichen Marktes ausgeschlossen sieht – eine zunehmend skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der europäischen Binnenmarktidee. Dies erklärt – neben der 2015 in Europa einsetzenden Flüchtlingskrise und den mit ihr einhergehenden Problemen und Herausforderungen – jedenfalls zum großen Teil den erheblichen Zulauf, den populistische, EU-feindliche Bewegungen in vielen Mitgliedstaaten zu verzeichnen haben. Den aus EU-Sicht bislang negativen Höhepunkt dieser Entwicklung markiert das Mitte 2016 im Vereinigten Königreich abgehaltene Referendum über das zukünftige Verhältnis des Landes zur EU, das mit einem mehrheitlichen Votum der Bevölkerung für einen → Austritt (aus der EU) endete (sog. Brexit). Inwieweit es der EU und ihren Mitgliedstaaten – wie in den jüngsten BMS angekündigt – tatsächlich gelingt, verloren gegangenes Vertrauen etwa durch eine stärkere Rückbesinnung der Binnenmarktpolitik auf die Belange der Bürger zurückzugewinnen, bleibt abzuwarten.
B › Binnenmarkt (Mahdad Mir Djawadi) › III. Maßnahmen der EU zur Verwirklichung des Binnenmarktes