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Wir haben die Bausteine, ihr habt die Ideen

Eine Schule in meiner Wohnregion hat den ehrlichsten Barfußpfad gebaut, den ich kenne. Tannenzapfen, Steine, Kiesel, Sand – und ein Element mit LEGO-Steinen. Die ultimative Herausforderung selbst für Könner. Man könnte meinen, der Pieks an der Fußsohle sei für jeden mit ein paar Steinen zu Hause eine Selbstverständlichkeit wie blaue Flecken für Inlineskater oder Hockeyspieler. Weit gefehlt. Die Steine gehören zu den gefürchtetsten Erfahrungen im Kinderzimmer. Umso mehr, weil man sie stets zu spät entdeckt und vor dem äußerst unbarmherzigen Stechen nie rechtzeitig zurückzucken kann. Ein fachgerecht ausgeführter, zeitgenössischer Fluch lautet nicht umsonst »I hope you step on a LEGO«. Die kleinen Plastiksteine sind der Härtetest schlechthin. Dabei fing alles doch so harmlos an. Als pädagogisch wertvolles Kinderspielzeug und eine Weiterentwicklung des Urvaters aller Bausteine, dem klassischen Holzklotz. Umgesetzt in einer Version, in der sich aufeinandergestapelte Blöcke fest miteinander verbinden lassen. Die Steine sollten zunächst die Motorik der Kinder fördern, dann ihre Kreativität. Überdies hielten die Bauwerke viel länger als solche aus einfachen Stapelsteinen (wobei aus kindlicher Perspektive grundsätzlich nichts gegen einen Holzturm einzuwenden ist, der krachend einstürzt). Die Namen für die kleinen Piesacker sind vielfältig: LEGO-Steine, Noppensteine, »LEGOs«, Bausteine, Bricks oder ganz offiziell Klemmbausteine. Sie sorgen für bunte Erfolgserlebnisse schon der Kleinsten und begleiten die Kinder je nach Neigung bis ins Teenageralter. In vielen Haushalten entwickeln sie sich zu dem einzigen Spielzeug, das kistenweise von Jahr zu Jahr mehr wird.


Nur für Waghalsige: Der Lego-Barfußpfad

In der Spielzeugbranche überleben die meisten Spielzeuge nicht sehr lange. Zwar ist der Markt äußerst ertragreich: 2019 wurden mit Spielzeugen über 70 Milliarden Euro umgesetzt. Zugleich steht die Branche aber unter dem Druck, kontinuierlich Neuigkeiten auf den Markt zu werfen. Dazu kommt eine starke Konkurrenz durch die Bildschirme, seien es Fernsehen, Social Media oder Computerspiele. Für die Spielzeughersteller ist das kein einfaches Umfeld. Werbung für die gewünschten Zielgruppen wird zudem aufwendiger und damit teuer und günstige Angebote, vor allem aus China, setzen die Preisgestaltung unter Druck. Nur LEGO weicht nicht vom Spitzenplatz der Spielzeughersteller und das mit einem Sortiment, das in seinem Kern weder breit gefächert noch kostengünstig ist. Das Unternehmen bietet praktisch nur einen Produkttyp an, mit dem auch das gesamte Merchandising verknüpft ist: Plastiksteine zum aufeinander stecken. LEGO lag 2020 mit einem Gesamtumsatz von 5,9 Milliarden Euro weit vor den beiden diversifizierten Branchenriesen Hasbro (4,6 Milliarden) und Mattel (3,8 Milliarden). In Deutschland setzte LEGO jeweils ein Vielfaches der Wettbewerber um. Das Produkt LEGO-Stein lässt sich also als etwas Besonderes identifizieren. Nur wie schaffen es die Steine, Spitzenreiter in den Haushalten zu bleiben? Die Besonderheit liegt darin, dass kein anderes Spielzeug derart viele Spielaspekte über eine so breite Altersspanne trägt. Das Bauen mit LEGO-Steinen trainiert nicht nur die motorischen Fähigkeiten, es entfacht Kreativität und Phantasie, lädt zum Rollenspiel ein. Aus den Steinen lassen sich Kunstwerke bauen, sie sind wiederverwendbar und sehr langlebig. In der schnellen und digital geprägten Welt kann das Bauen mit Steinen eine analoge Insel der Ruhe und Kontemplation schaffen. Wer baut, muss ganz bei der Sache sein und kann das über eine lange Zeit bleiben. Zugleich profitiert LEGO von seinem eigenen Mythos, der einerseits in einer langen und erfolgreichen Unternehmensgeschichte und andererseits in einem spektakulären Turnaround Mitte der 2000er Jahre gründet. Und es gibt noch einen weiteren Faktor. Was fesselt, ist die Kreativität der erwachsenen Baumeister, die LEGO maßgeblich erst zu Kult und Mythos verholfen hat.

Als ich vor rund 15 Jahren das erste Mal einen erwachsenen LEGO-Fan traf, erzählte er, mit welcher Akribie er Fahrzeuge in den Maßstäben umrechnete. Er schilderte, wie viele Stunden er in einem LEGO-Geschäft zubringen konnte, um genau die Bausteine zu finden, die er benötigte. Mittlerweile begreife ich, was ihn antrieb, denn die Faszination liegt nicht nur darin, bei solchen Projekten alles auf einmal zu stemmen. Man ist Planer, Ingenieur, Einkäufer und Konstrukteur in Personalunion. Die Kreativität liegt zu einem ganz erheblichen Teil auch darin, einem simplen, viereckigen Klötzchen aus Plastik einen neuen Auftritt zu verschaffen. Mit LEGO zu bauen ist kein klassischer Modellbau, bei dem die Materialwahl das Vorbild imitiert. Mein Vater war auch Modellbauer. Bei ihm sah Gras aus wie Gras und Fachwerkhäuser waren perfekte kleine Versionen des Originals, mit rauem Putz und strukturiertem Holz. Seine Lokomotiven wurden mit Spezialfarben für Modelleisenbahner gestrichen und nicht mit »irgendeinem« anderen Lack, der zufällig eine halbwegs passende Farbe hatte. Mit Bausteinen aus Plastik jedoch funktioniert das alles nicht. Was immer damit gebaut wird, erhält durch die glänzenden, knallfarbigen Steine einen ganz neuen Charakter.

Aus genau diesem poppigen Auftritt speist sich eine ungeheure Attraktivität. Welches Bauwerk auch nachgebaut wird, es sieht erkennbar aus wie das Original und doch so viel attraktiver! Das Umwidmen von Material für die Kunst hat Tradition und löst großartige Paarungen aus. Kunst aus Alltagsgegenständen zum Beispiel ist so spannend, weil sie ein Umdenken in Formen, Farben und ganz besonders der Nutzung erfordert. Das gilt ebenso für ein Kinderspielzeug. Viel mehr als klassische Kunst spricht LEGO obendrein alle Altersstufen an, denn mit diesen Bausteinen identifizieren sich fast alle Menschen automatisch. Selten habe ich so viele leuchtende Augen und staunende Gesichter gesehen wie auf einer Skulpturenausstellung des Künstlers Nathan Sawaya. Viele der Besucher hatten die Noppensteine zuvor offensichtlich nur mit mehr oder minder skurrilen Bauwerken im Kinderzimmer in Verbindung gebracht. Sawaya zeigte ihnen dagegen menschliche Körper, lebensgroß und formgetreu und in der Gestaltung den Bildhauern absolut ebenbürtig. Gebaut aus abertausenden kleinen, eckigen Steinen. Freilich sind die Körper hinterher gelb oder blau, doch die Kombination aus Farbe und Material macht aus dieser Kunst etwas Einzigartiges und etwas Rätselhaftes noch dazu. Denn egal ob Bauten oder Skulptur, jeder fragt sich, wie man so etwas schafft. Gleich dahinter lauert die Überlegung, ob man das nicht auch selbst hinbekommen könnte. Die Steine dazu sind ja da.


Der Lego-Künstler Nathan Sawaya bei seiner Ausstellung The Art of the Brick 2014 in London

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