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Kapitel 6

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Er knallte mit dem Rücken gegen das Eisengerüst und hatte plötzlich die eigene Klinge an der Kehle.

»Muss ich mich wiederholen?«, zischte der Rattenkönig ungeduldig. »Entweder gehst du jetzt brav mit nach oben, oder ich schicke meine Männer los, deinen kleinen, wunderschönen Bruder zu suchen, und dann mache ich vor deiner wütenden, machtlosen Fresse, all die Dinge mit ihm, die ich doch eigentlich mit dir tun wollte.«

»Fick dich!«, spie Darcar ihm entgegen. »Ich töte dich, wenn du ihn auch nur ansiehst!« Es war das erste Mal, dass er so eine Drohung überhaupt aussprach, und er meinte sie aus tiefstem Herzen ernst. Für Veland würde er alle Todsünden begehen. Es gab nichts, was er nicht für ihn tun würde.

Der Rattenkönig lächelte hämisch. »Bevor oder nachdem ich euch aufgeschlitzt habe?«

Darcar war sich sicher, dass er so oder so nach Veland suchen lassen würde, trotzdem fruchtete die Drohung immer wieder. Er wollte es nicht riskieren. Aber er wollte auch nicht dieses Gerüst hinaufsteigen und wehrte sich deshalb wie ein wildbockendes Pferd. Beinahe hätte er einen der Handlanger über die Brüstung und somit in den Tod gestoßen. Leider nur beinahe…

»Vorwärts!« Der Rattenkönig packte ihn grob am Arm, verdrehte ihn, sodass Darcar aufschreiend nach vorne sank und ein paar Schritte taumelte. »Geh!« Er drückte ihm die Klinge in den Rücken. Darcar ging vorwärts. Er wollte nicht, aber er ging. Auf zittrigen Beinen und mit einem dicken Kloß im Hals stieg er die schmale, gewundene Treppe im inneren des Uhrenturmes hinauf, bis ganz nach oben in die Spitze, wo ein Torbogen hinaus in die kalte Luft auf ein weiteres Gerüst führte.

So weit oben auf einem wackeligen Eisengitter schwindelte es Darcar. Er hasste Höhe, immer schon, ihm wurde ganz komisch, als ob der ganze Turm schwanken würde. Der Wind war in diesen Höhen deutlicher, schneidender. Kälter. Er peitschte Darcar die Schneeflocken ins Gesicht, sodass sie sich auf seinen Wangen wie fliegende Kristallsplitter anfühlten.

Doch der Wind trug noch mehr als Schnee zu ihm heran, auch das Stimmengewirr aus der Stadt. Nahe dem Elendsviertel befand sich der Scharfrichterplatz. Der Galgen, das Schafott. Auf dem runden Platz hatte sich eine Traube Menschen versammelt, der Pöbel und der Adel, die gesamte Stadt war herangetreten, sodass die Straßen rund um den Ort des Geschehens dunkel durch unruhige Schatten waren. Die Menschenmassen tummelte sich in jeder Ritze. Von oben konnte Darcar niemanden speziellen erkennen, sie sahen aus wie Insekten. Ameisen, die die Straßen fluteten. Ein schwarzbrauner Teppich, der sich unruhig wellte.

Er war froh, dass er keine Einzelheiten erkennen konnte, doch er sollte noch feststellen, dass es selbst aus dieser Entfernung nur durch Erahnen erschreckend genug werden würde.

Darcar wehrte sich gegen die Griffe der anderen, doch es war zwecklos. Er drehte den Kopf weg, da trat der Rattenkönig so dicht an seine Seite, als wollte er ihn umarmen, packte sein Kinn mit zwei knochigen Fingern und zwang es herum, sodass er hinsehen musste. Darcar jedoch wusste, dass niemand seine Augen festhalten konnte, als starrte er an der Hinrichtungstribüne vorbei.

Der Boden unter seinen Füßen war vom Wetter zerfressen, rostig und löchrig, hauchdünn. Der Turm schien durch den Wind zu schwanken. Es war selbstmörderisch hier oben zu stehen. Er konnte durch die Löcher hinabblicken, der Boden war so weit entfernt, dass er nur noch verschwommen zu erkennen war. Nur noch eine Ahnung. Und Darcar hatte plötzlich ein ganz seltsames, beengtes Gefühl in der Brust, sowie Schwäche in den Knien und seiner Blase. Er schluckte nervös.

Als die Stadt in Buh-Rufe ausbrach und das Stimmengewirr so laut anschwoll, dass es keines Windes benötigt hätte, um sie dort oben auf dem Turm zu hören, schossen Darcars Augen wie von selbst zum Platz. Er wollte nicht hinsehen, wirklich nicht. Er hatte sich die ganze Zeit damit getröstet, dass er, wenn er seinen Vater nicht sterben sah, sich immer noch vormachen konnte, dass er noch lebte. Dass man ihn und Veland vielleicht nur angelogen hatte, dass es eine Art Intrige gab und ihr Vater nur totgesprochen wurde, aber insgeheim irgendwohin verschleppt werden würde. Dass er lebte, in irgendeiner Zelle, und nicht getötet wurde!

Darcar konnte ihn nicht erkennen, nicht seine vertrauten Gesichtszüge, sein Kopf war nur ein heller Punkt mit dunklem Schopf. Mit wild schlagendem Herzen sah er, wie zwei Männer eine Gestalt durch die Menge zerrten. Die Menschen teilten sich und gaben den Weg frei, schrien und bewarfen den Gefangenen mit faulem Obst und Gemüse. Darcar konnte die Geschosse nur als dunkle, winzige Schatten erkennen, aber trotzdem wusste er, dass sie da waren. Ebenso wie er wusste, dass dieser arme Mensch, der dort in Lumpen gehüllt völlig entkräftet zum Schafott gezerrt wurde, sein Vater war, ohne dessen Augen zu erkennen. Er wusste nicht, woher er diese Gewissheit nahm. Er wusste es einfach. Es war in Stein gemeißelt.

Darcar wollte wegsehen, konnte aber nicht, war wie festgefroren. Plötzlich vergaß er sogar seine Angst vor der Höhe, spürte weder die Kälte noch den bösartigen, zufriedenen Blick des Rattenkönigs.

Wie in Trance schüttelte er den Kopf. Er wusste gar nicht, wie sein Vater hingerichtet werden würde, ob er gehängt oder ihm der Kopf abgeschlagen wurde. Er wollte es auch nicht wissen. Doch sein Blick wollte sich auch unter Zwang nicht abwenden.

Es wurde plötzlich ganz still, als das Urteil verkündet wurde. Darcar konnte die Worte nicht hören, dafür aber das zustimmende Gejubel der Menge, als der Vertreter des Schwarzen Rates zu Ende verkündet hatte.

Was dann geschah, vergaß Darcar nie wieder. Er konnte es gar nicht vergessen.

Sein Vater wurde wieder hinabgestoßen, mit dem Gesicht in den Dreck. Die Menge machte Platz für die herbeigeführten, starken Pferde. Darcar musste nicht viel erkennen, um zu wissen, dass die Tiere aus ihren eigenen Ställen stammten. Die schönsten und kräftigsten Kutschpferde. Sein Vater hatte diese Pferde geliebt, sie hegen und pflegen lassen, sie behandelt wie seine Kinder. Und jetzt…

Darcar taumelte zurück, aber da packten ihn die anderen wieder, stießen ihn so kräftig nach vorne, dass er auf seinen zittrigen Knien nichts entgegenwirken konnte und gegen das Geländer stieß. Es gab beunruhigend nach, quietschte. Doch Darcar nahm es gar nicht wahr.

»Nein!«, keuchte er, »bitte nicht!« Er sprach nicht mit dem Rattenkönig.

Dieser packte ihm ins Haar, riss daran. »Sieh genau hin, das ist eine meiner Lieblingshinrichtungsarten«, säuselte er ihm mit einer widerwärtig lüsternen Stimme zu und leckte ihm dann über das Ohr.

Darcar wehrte ihn mit einer Schulter ab, doch seine ganze Aufmerksamkeit lag auf dem Platz, wo sie seinen Vater jeglicher Würde beraubten, als sie ihn an die Pferde banden. Jedes seiner vier Gliedmaßen an einen anderen Gaul.

Der Rattenkönig drückte sich an ihn, rieb sich an Darcars Hüfte. »Macht es dich auch so an?« Eine Frage, die die Grausamkeit dort unten noch verstärken sollte. Er nahm Darcars Hand und legte sie in seinen Schritt. Darcar zog sie zurück, drehte sich zu ihm um und starrte ihn hasserfüllt an.

Der Rattenkönig lachte gehässig, strich sich selbst über die harte Beule, seine dunklen Augen glänzten so erregt, wie es unterhalb seiner Gürtellinie aussah.

Darcar wollte ihn über das Geländer stoßen, er erfasste bereits den Entschluss und spannte sich an, als ihn der markerschütternde Schrei seines Vaters herumfahren ließ.

Die Pferde wurden auseinandergetrieben. Die Menge jubelte, bewarf seinen Vater weiterhin mit Obst und allerlei. Doch die plötzlichen Schreie seines Vaters übertönten alles und ließen Darcars Blut in den Adern gefrieren. Er hatte seinen Vater nie unbeherrscht erlebt, nie vor Wut oder Angst außer sich. Er war ein besonnener, ruhiger Mann gewesen. Als Darcar ihn nun schreien hörte, wusste er intuitiv, welche Qualen ihm bereitet wurden.

»Nein!« Er schrie hinab, warf sich an das Geländer, sodass seine Begleiter tatsächlich besorgt zusammenzuckten. »Nein! Hört auf!«, brüllte er den Turm hinab. »Lasst ihn gehen! Lasst ihn sofort gehen! Hört auf, verdammt noch mal, hört auf!« Er brüllte weiter, immer weiter, beschwor und drohte denjenigen, die seinen Vater vierteilten. Es dauerte lange, viel zu lange, er schrie sich die Kehle wund und drohte, in den Abgrund zu stürzen. Der Rattenkönig umfing ihn von hinten mit einem Arm und zerrte ihn zurück, ein kerniges Lachen in der Kehle.

Darcar wehrte sich gegen ihn, wollte so schnell wie möglich hinab, seinem Vater helfen.

Er musste etwas tun. Er musste doch irgendetwas tun, konnte doch nicht einfach nur hilflos zusehen…

Doch genauso war es, er wurde festgehalten und eine Mauer trennte ihn vom Rest der Welt. Hätte er doch nur auf Vic gehört. Die Manege! Keine Mauern umgaben sie, er hätte von dort aus in die Stadt gelangen, irgendetwas unternehmen können. Irgendetwas…

Als die Schafrichter mit Äxten an seinen gefolterten, brüllenden Vater herantraten, schrie Darcar umso mehr. Sie halfen nach, hackten. Er musste nicht nah dran stehen, nicht das Knacken, das feuchte Schmatzen hören und das Blut in voller Pracht erleben, um einen Schock zu erleiden.

Mit einem verzweifelten Aufschreien sackte er zusammen, wusste, dass es vorbei war, zu spät. Die Endgültigkeit zerriss ihn fast und seine Sicht verschwamm.

Als seine Knie nachgaben, ließ der Rattenkönig ihn los. Er machte sich über Darcar lustig, äffte ihn mit seinen Kameraden nach. Sie waren auf ihre Kosten gekommen. Darcar nahm sie gar nicht mehr wahr, als die Schreie seines Vaters abrupt abbrachen, erfasste ihn eine Kälte, die ihn gefrieren ließ.

Er saß auf den Knien, alles um ihn herum trat in den Hintergrund, da war nur noch er, der Wind und die Kälte. Er wusste nicht, wie lange er so dort saß, wie gelähmt, es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, und immer wieder sah er vor sich, wie sein Vater ermordet wurde.

Es war Mord!

Darcar ballte die Hände zu Fäusten, seine gefrorenen Knöchel traten weiß hervor. Und als er so dort saß, wurde die Kälte, seine Ohnmacht nur von einem einzigen Gefühl vertrieben.

Unbändige Wut.

In diesem Moment schwor er sich hoch und heilig, dass die gesamte Stadt dafür büßen würde. Egal wie lange es dauern mochte, ganz gleich was er dafür geben müsste. Sie würden bezahlen. Alle. Für das, was sie seinem Vater angetan hatten. Für das, was sie ihm und Veland und Evi angetan hatten.

Er würde sie finden, alle. Bis hin zu seiner Stiefmutter, die nun in seinem Haus saß und mit ihrem kühlen Lächeln Tee trank, während gerade alles, was den van Bricks je gehört hatte, ihr zufiel.

Er würde seinen Vater rächen.

Blut für Gold

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