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Kapitel 2

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Der dunkle Dampf war bereits zu erkennen, noch bevor der Zug in die Stadt hineinfuhr. Die schwarzen Schwaden zogen einen fast so langen Streifen wie die vielen aneinander gereihten Waggons selbst, als würde ein finsteres Feuer im Inneren der Öfen brennen, die die Räder antrieben. Sobald die Lock die Stadt erreichte, trennte der dichte Rauch ganze Stadtviertel durch eine regelrechte schwarze Wand.

Ein Zug wurde immer mit einem ohrenbetäubenden Pfeifen angekündigt, doch noch bevor man ihn sah und hörte, konnte man ihn spüren. Durch die vibrierenden Gleise, noch lange bevor der Dampf in Sicht kam. Dies war das Zeichen für die Ratten, von den Schienen zu verschwinden.

Die Ratten. Das waren keine verseuchten Nagetiere, sondern nur verseuchte Straßenkinder, die sich ein paar halbe Noten verdienten, indem sie für die Stadt den Müll und den Unrat zwischen den Schienen einsammelten.

Ein Schicksal, von dem sie hoffen konnten, dass sie es auch einmal antreten würden, dachte Darcar wie benommen. Denn selbst diese Ratten waren angesehener als sie es noch waren, immerhin hatten diese Kinder das Recht, sich in der Stadt aufzuhalten, auch wenn man sie nachts zurück in das Elendsviertel treiben würde. Darcar und Veland wurden jedoch auf direktem Wege in »Das Rattenloch« gebracht. Das war ein noch mal mit einer Mauer abgetrennter Bereich im Elendsviertel, mit streng bewachten Gittern, wo nur straffällig gewordene Kinder eingepfercht waren.

Oder Kinder von Verrätern.

Er wusste nicht, was ihn dort drinnen erwartete. Niemand wusste das. Es gab Gerüchte, gewiss, von Jungen, die freigekauft oder angeblich daraus entkommen waren, doch Darcar hatte sie alle für Lügner gehalten. Nun würde er es selbst erfahren.

Sie standen am Bahnhof, der Zug fuhr mit ratternden Rädern über die Schienen und hielt mit einem lauten Pfeifen und Kreischen an. Veland hasste dieses Geräusch, er zuckte dann immer zusammen und hielt sich die Ohren zu.

Dampf hüllte sie ein, als der Zug zum Stehen kam. Weiter vorne auf dem Gleis stiegen Passagiere aus und neue ein. Darcar und Veland standen ganz hinten, den letzten Wagon vor Augen, seine Fenster waren mit massiven Gittern versehen. Er würde sie in ihr neues Zuhause bringen.

Veland sah zu ihm auf. »Warum müssen wir dorthin?«, fragte er.

Darcar starrte wütende Löcher in die Waggonwand. Weil sie fürchten, dass wir eines Tages unseren Vater rächen, dachte er bitter. »Weil sie grausam sind«, antwortete er jedoch nur.

Zwei Deputies und Vic waren bei ihnen. Er spürte ihre Augen im Nacken, doch sie sagten nichts. Vic wollte ihm aufmunternd die Schulter drücken, aber Darcar wehrte sich mit einem energischen Schulterzucken.

Es war bitterkalt, der Winter kroch durch jede Ritze und legte sich mit seinem frostigen Atem auf die Haut, klebte sich fest, drang in jede Pore und sorgte für steife Glieder. Darcar fühlte seine Zehen und Finger kaum noch, er zitterte und versuchte, es zu unterdrücken. Er trug nur seine Unterwäsche und den langen Mantel darüber, immerhin war Veland einigermaßen gut eingepackt, doch auch seine Hand fühlte sich eiskalt an, als er Darcars ergriff und nicht mehr losließ.

Darcar rieb mit dem Daumen über die kalten Knöchel seines Bruders, um sie zu wärmen. Veland drückte sich ängstlich an ihn. Immerhin riss Vic sie nicht auseinander, er war sichtlich traurig über ihr Schicksal. Das machte Darcar beinahe noch wütender. Mitleid brachte ihnen rein gar nichts, von Vics entschuldigendem Lächeln konnten sie sich auch nicht freikaufen.

Oder ihren Vater retten.

Aber an diesen durfte Darcar jetzt nicht denken. Er hatte bereits auf dem Weg hierher mehrfach versucht, sich loszureißen, war aber immer wieder eingefangen worden. Selbst Passanten, die Freunde oder zumindest Bekannte seines Vaters gewesen waren, hatten ihn aufgehalten und der Obrigkeit übergeben, ihn wie einen Verbrecher behandelt, als würden sie ihn gar nicht kennen. Elende Verräter. Erst als Vic zu ihm sagte: »Ich weiß, dass du deinem Vater helfen willst, aber das geht nicht mehr. Du kannst ihn nicht befreien, sie würden dich fassen und auch hängen. Denk nach, Junge. Deinen Bruder kannst du noch beschützen, tu es für ihn, lass ihn nicht allein«, hatte er sich seinem Schicksal ergeben. Obwohl ihm speiübel wurde und er sich fühlte, als würde er seinen Vater im Stich lassen – ihn sogar verraten.

Er konnte dieses nagende Gefühl kaum ertragen, wollte brüllen, bis er daran erstickte.

Für Veland tat er nichts dergleichen. Veland brauchte ihn.

Pass auf deine Brüder auf.

»Wir müssen einsteigen«, drängte Vic sanft.

Es kam Darcar so vor, als würde er auf Treibsand laufen, jeder Schritt war eine Qual. Als würde er auf die Höllenpforte zulaufen. Durch die Kälte waren seine Glieder steif, doch das war es nicht, was seinen Schritt erschwerte, er wollte einfach nicht einsteigen. Aber ihm blieb keine Wahl.

Die Stufen waren steil und glatt, er half Veland darauf. Prompt rutschte sein Bruder aus, Darcar zog ihn an seiner Hand auf die Beine und setzte ihn wieder auf die Stufe. Er hielt ihn fest und trug ihn die restlichen Stufen hoch.

Im Inneren des Wagons war es dunkel, die Fenster saßen sehr hoch, sodass man nicht hinaussehen konnte. Eiserne Sitzbänke, eine Zelle am Ende, blanke Haltestangen. Der Frost hatte sich hineingeschlichen und die Sitzmöglichkeiten wie weißer Schimmel überzogen.

Darcar wickelte Veland den Schal ab, klopfte eine Bank damit ab und legte ihn dann so aus, dass Veland sich darauf setzten konnte, ohne krank zu werden.

»Und auf was sitzt du?«, fragte sein Bruder.

»Auf meinem Hintern, der ist fett genug«, versuchte er sich an einem Scherz. Und tatsächlich lächelte Veland kurz auf, als Darcar sich zu ihm setzte.

Vic und seine zwei Begleiter verzichteten darauf, sie anzuketten, obwohl eiserne Manschetten zu ihren Füßen lagen. Veland entdeckte sie und wurde auf einmal ganz still und steif. Grummelnd streckte Darcar einen Fuß aus und schob die Ketten unter die Bank, damit sein Bruder sie nicht mehr sah. »Komm her«, sagte er dann und zog den Kleinen in seine Arme, hielt ihn fest und wärmte ihn – und auch sich.

Der Zug setzte sich ratternd in Bewegung, ein lauter Pfiff ertönte und dröhnte über die Waggonwände, die Dampfbetriebenen Maschinen arbeiteten lautstark, sodass man ihren gewaltigen Kraftaufwand durch leichte Erschütterungen spürte.

»Wann wird Vater uns holen kommen?«, fragte Veland verängstigt. »Ich will nach Hause.«

Er hatte es noch nicht verstanden. Es brach Darcar das Herz, er konnte kaum atmen. Sein Blick begegnete Vics betroffenem Gesicht, sein Magen zog sich zusammen. Was sollte er bloß tun? Wie sollte er seinem kleinen Bruder erklären, dass sie kein Zuhause mehr hatten?

Statt zu antworten, zog er Veland wieder eng an sich, nahm dessen Finger zwischen seine Hände und rieb sie, bis sie auftauten, führte sie zu seinem Mund und hauchte hinein.

Veland fragte nicht weiter nach, vermutlich kannte er die Wahrheit und wollte sie gar nicht wirklich hören. Der Kleine lehnte den Kopf an die Schulter seines Bruders und ließ mit großen, kindlichen Augen den Blick durch den Waggon schweifen. All das, diese kalte, kahle Dunkelheit, die Zelle, die Uniformierten, die Gitter, mussten ihn furchtbar ängstigen, doch er zitterte nicht einmal, hielt sich nur an Darcar fest, als könnte dieser ihn vor allem Unheil bewahren.

Doch Darcar wusste nun mehr denn je, dass er das nicht konnte. Dass er genau genommen absolut machtlos war und er nichts hätte unternehmen können, wenn man ihm Veland entreißen wollen würde.

Er konnte rein gar nichts bewirken. Dieses Gefühl – diese Gewissheit – zerschlug ihn innerlich.

»Du tust mir weh«, flüsterte Veland ihm zu, sein Atem streifte Darcars Hals und wärmte ihn für einen winzigen, süßen Moment. Verwundert sah er seinen Bruder an, dessen whiskyfarbene Augen wässrig in seine blickten. Erst da bemerkte er, dass er die kleinen Finger seines Bruders vor Wut zerquetschte. Sofort ließ er locker.

»Tut mir leid«, hauchte er reuevoll und legte Velands Hände stattdessen unter seinem Mantel auf seine Brust, um sie warm zu halten. Sein Bruder kuschelte sich wieder an.

*~*~*

Phillin Burg war groß, erstreckte sich über mehrere Hügel und Ebenen, die Häuser reihten sich eng aneinander, ließen selten Platz für Gässchen. Die Stadt lag an einer Bucht, geformt wie ein Sichelmond. An den vielen Stegen, die hinaus auf das schwarze Wasser des Obsidian Meeres führten, legten täglich unzählige Dampfschiffe unterschiedlicher Größe und Form an, ihre dichten Wolken schienen den Himmel über dem Gewässer zu verdunkeln, wobei über der Stadt meistens ohnehin eine dicke Wolkendecke hing, die Sonne war so selten, dass man sie hier für einen Mythos hielt. Wenn es nicht regnete, schneite es.

Es gab das Bahnhofs- und Geschäftsviertel, das mittig und gehoben lag, dort wurde die Stadt durch die Bahnschienen einmal geteilt. Wer unterhalb wohnte, gehörte zu den Arbeitern, Menschen, die gerade so über die Runden kamen, dort waren die Straßen nicht gepflastert und wurden häufig zu einem dreckigen Sumpf. Oberhalb der Schienen spielte sich das elitäre Leben der Elite ab, wo die Straßen breit, gepflastert und gesäubert waren, sogar Bäume in Reih und Glied eingepflanzt waren, um die Straßen zu teilen. Wer es dann noch auf den Südhügel schaffte, wohnte meistens in einer riesigen Villa, war stadtbekannt und angesehen – oder gefürchtet. Es heißt, dort oben fließe pures Gold aus dem Berg, und bis es unten ankäme, wäre daraus Blut geworden. Während unten die Bewohner dreckiges Wasser abkochten, schlürfte man oben Champagner und aß Kaviar.

Darcar hatte bis zu diesem Moment zu den oberen zehntausend gehört. Er war nie herablassend gewesen und sein Vater hatte ihm beigebracht, dass man für seinen Lohn schwer arbeiten musste – dass nichts selbstverständlich war, auch wenn man in eine reiche Familie geboren wurde. Aber nun, da er all das verloren hatte, fühlte er sich ängstlich gegenüber dem Unbekannten, das ihn auf der anderen Seite der Stadt erwartete.

Das Elendsviertel war ein Stadtteil, der einst durch ein Feuer fast gänzlich niedergebrannt war. Die Flammen hatten sich wie Dämonen von einem Dach auf das andere geschwungen und sich die Häuser einverleibt. Da so viele Menschen betroffen gewesen waren und es kaum Hilfe gegeben hatte, um alle zu retten, hatte man eine Mauer um bestimmte Teile der Ruinen gezogen und es zu einem Ort der Verbannten erklärt. Oft kursierte dort die Seuche, als ob dieser Ort den Tod magisch anzog. Das Viertel lag nicht am Hafen, es erstreckte sich im Norden, mittig in der Stadt, und wurde auf den neuen Karten als schwarzes Loch angezeigt, als wäre ein Meteor an dieser Stelle eingeschlagen.

Der Zug fuhr oft an der Mauer und den Gittertoren, die diesen Ort abschirmten, vorüber. Darcar hatte ihn durch die Fenster ein ums andere Mal gesehen. Doch viel war dort nicht, meist nur halb eingestürzte, geschwärzte Häuser. Der Zug fuhr quer durch das Elendsviertel, dort gab es Zelte in den Gassen, Straßenkinder mit schmutzigen Gesichtern und mager. Manchmal versuchte jemand, den Zug zu überfallen, aber es gab bewaffnete Wachen in den Waggons, die Verbrecher mittlerweile abhielten. Tatsächlich besaß dieser Ort so etwas wie einen Bahnhof, denn Leute aus der Stadt kamen trotzdem hier her.

Um die Manege zu besuchen.

Die Manege. Darcar kannte diesen unerhörten Ort nur aus der Ferne, aber die Gerüchte sprachen für sich. Ein verbrannter Stadtteil, den die Bewohner komplett mit Zirkusplanen verkleidet hatten. Rotweiß und schmutzig leuchtete das Zelt in der Ferne. Es hieß, dort gingen viele angesehen Männer hin, um sich mit ruchlosen Mädchen oder Lustknaben zu vergnügen. Dort spielte sich ein morbides Nachtleben ab, Dekadenz sickerte aus jeder Pore. Leichte Mädchen, leichte Jungen, anzügliches Theater, gefährliche Vorführungen, wilde Tiere, vulgäre Lieder. Sein Vater hatte die Manege verachtet, er war der festen Überzeugung gewesen, dass ein rechtschaffender Mann nicht das Elend dieser Menschen ausnutzen sollte. Darcar hatte einst eine Diskussion zwischen seinem Vater und dessen jüngeren Geschäftspartner Kenneth mit angehört, als sein Vater eben jene Worte, an die Darcar gerade dachte, auch zu diesem gesagt hatte, und Kenneth entgegnete: »Wenn niemand mehr dorthin geht, alter Mann, wie sollen diese Menschen dann überleben? Ohne Kundschaft gibt’s kein Geld, ohne Geld kein Essen.«

Sein Vater war stur geblieben, er verachtete diesen Ort und all die Menschen, die dort freiwillig blieben und auf diese unrühmliche Art ihr Brot verdienten.

Was er wohl jetzt dazu sagen würde, wüsste er, dass Vic sie genau dort unterbringen wollte, um sie vor dem Rattenloch – dem Herz des Elendsviertels – zu bewahren.

*~*~*

»Nein«, weigerte sich Darcar, noch bevor sie hineintraten. Die Straßen waren eng und trotz der Ruinen dunkel. Alles wirkte einen Hauch grauer und kälter, der Nebel kroch wie ein schwebender Teppich über den gepflasterten Boden. Alles hatte den Anschein, als würde es in der Stadt noch brennen, selbst die Schneeflocken, die durch den Wind wehten, sahen wie Asche aus. Darcar glaubte, dass es sogar immer noch nach Rauch roch.

Vor einem der vielen Hintereingänge der Manege blieb er stehen und zerrte Veland an sich. Der Kleine hatte keine andere Wahl, als dicht bei ihm zu bleiben, obwohl sein kindliches Staunen ihn für einen Moment von seiner Angst abgelenkt hatte.

Darcar warf nur einen flüchtigen Blick nach drinnen. Dort war es schummrig und es roch nach einer Mischung aus Schweiß und schweren, süßen Parfums. Der exotische Duft biss in seiner Nase, bis er Kopfschmerzen davon bekam, dabei verwehte der Wind draußen bereits die Geruchsnoten. Da war noch etwas, was er erschnüffelte, aber nicht zuordnen konnte. Vielleicht war es dieses Opium, vor dem Vater ihn immer ausdrücklich gewarnt hatte, und das die Freier, die die Manege besuchen kamen, berauschen sollte. Es glühten Lampen im Inneren, rote Tücher waren über sie gelegt, sodass es gar kein richtiges Licht gab, nur eine rötliche Dämmerung, künstlich erzeugt. Es handelte sich um einen schlichten Durchgang, und mehr als ein paar zigarettenrauchende Gestalten mit verschmierter Schminke und abgesetzten Perücken konnte er nicht erspähen. Aber die Menschen, die sich in den Straßen vor der Manege tummelten, genügten ihm bereits. In bunte Lumpen gehüllt lehnten oder saßen sie an den teils bis zur Hälfe eingestürzten Hauswänden und sahen mit leeren, menschlichkeitsfernen Blicken in seine Richtung, wie Geister aus der Dunkelheit. Sie sahen ungepflegt aus, regelrecht heruntergekommen, viele waren missgestaltet oder ihnen fehlten Gliedmaßen. Die Wände waren mit bunten Plakaten zugekleistert, jede Woche prangte ein anderes Gesicht darauf. »Die beinlose Lolita, die auf ihren Händen tanzt«, verkündete eine Überschrift aus roten Zahlen über einer Zeichnung einer beinlosen Frau, die mit dicken und roten Lippen ihre Brüste nach vorne drückte. »Nach der Show könnt ihr sie im Séparée buchen!«

Auf einem anderen stand: »Charly, der Goldjunge! Seht, wie schnell er sich aus seinen Ketten befreit – nach der Show befreit er euch gerne von euren Hosen.«

Es war auf den ersten Blick deutlich, dass das hier ein buchstäblich hartes Pflaster war. Bunt, aber in Darcars Augen trostlos. Ein Leben, das er nicht antreten wollte, nicht würde.

Ein Obdachloser saß unter seinem improvisierten Zelt aus braunen Leinen, kraulte einen dreibeinigen Hund, um den die Fliegen selbst im Winter schwirrten, und grinste zahnlos zu Darcar herüber. Sein rechtes Ohr fehlte und war durch eine Art bronzenen Trichter ersetzt worden.

Beklommen wandte Darcar das Gesicht ab, obwohl der Mann freundlich gewirkt hatte. Er drückte Veland enger an sich, da er plötzlich Angst hatte, ihn zu verlieren.

»Mein Junge…« Vic kam mit drei großen Schritten auf ihn zu, augenblicklich baute Darcar sich stolz auf. Der Sheriff beugte sich zu ihm herab und senkte seine freundliche Stimme, als fürchtete er, Darcar könnte die Umstehenden gegen sich aufbringen. »Hier habt ihr es wenigstens warm und ein Dach über dem Kopf. Essen!« Vic lächelte Veland an und wollte ihm das Haar verwuscheln, aber Darcar hielt seinen Bruder weg, starrte böse. Der Sheriff seufzte schwer und ging in die Hocke. »Darc…«

»Nenn mich nicht so. Wir sind keine Freunde. Nicht mehr.« Es war leichter, wütend zu sein, als traurig.

Vic wirkte bedauernd, ließ ihm aber seinen Willen. »Darcar«, betonte er dann, »das hier ist das Beste, was euch in dieser Situation passieren kann. Ich habe dafür gesorgt, dass ihr hier ein Zimmer habt, du wirst es mit Putzen abarbeiten können, wenn du Älter bist, kannst du hinter die Bar oder Rausschmeißer werden.«

Darcar verzog angeekelt das Gesicht. »Du hast Leute geschmiert, um uns in ein Hurenhaus zu bringen!«

Vic senkte betroffen den Blick, schüttelte kurz den Kopf, dann sah er wieder auf, versuchte es mit neuem Mut: »Das hier ist eine Chance, mein Junge. Glaub mir, was du auch über diesen Ort denkst, er ist im Vergleich zum Rattenloch ein Königshaus. Eine gute Gelegenheit, du hättest Arbeit und könntest sparen, um irgendwann wieder Fuß zu fassen! Und immerhin seid ihr hier sicher!«

»Sicher?«, rief Darcar aus, und der Hund des Obdachlosen zuckte wimmernd zusammen. Nervös sah Vic sich um, aber das kümmerte Darcar einen Scheiß. »Weißt du, wo du Veland hier reinbringst? Oh ich kann mir vorstellen, dass sie uns mit Freuden aufnehmen. Junge, naive Kinder…«

»Darc, bitte…«

»Ich bleibe hier nicht!«

»Denk an Veland!«

»Ich denke sehr wohl an ihn. Lieber schlafen wir unter einem Mantel in der Kälte als in diesem … diesem Sündenpool.« Er spuckte das letzte Wort aus, die Blicke der Umstehenden, die ihn feindselig musterten, kümmerten ihn nicht. »Ich weiß, wie es hier zu geht, und ich lasse V nicht in die Gegenwart von Dirnen und Rauschmitteln und Schwarzmarktgeschäften!«

Vic rieb sich verzweifelt den Nacken. »Ich fürchte, du hast keine Wahl!«

»Man hat immer eine Wahl«, sprach Darcar die Worte seines Vaters nach, »und nur weil wir alles verloren haben, heißt das nicht, dass wir auch noch unsere Würde verlieren müssen!«

»Dein Stolz ist hier nicht angebracht!« Langsam verlor Vic seine Geduld.

»Das hat nichts mit Stolz zu tun«, Darcars Stimme klang erstickt, als sich seine Verzweiflung an die Oberfläche kämpfte, er schniefte schnell, seine Hände zitterten, als er sie in Velands Schultern krallte. »Heute putzen wir noch die Böden, morgen liegen wir auf dem Rücken. Du weißt, dass ich recht habe!«

Schuldbewusst senkte Vic erneut den Blick.

Veland sah verwirrt zu Darcar auf: »Was soll das bedeuten?«

»Nichts.« Darcar legte ihm beruhigend die Hand auf den Kopf. »Schon gut.«

Vic versuchte es weiter mit vernünftigen Argumenten: »Niemand zwingt euch zu etwas.«

»Ach nein?« Darcar konnte nicht glauben, dass der Sheriff ihn für so naiv hielt. »Man muss uns nicht zwingen, wenn uns am Ende jedweder Ausweg verwehrt bleibt. Jetzt habe ich noch die Wahl, hier zu bleiben oder ins Rattenloch zu gehen – und ich gehe lieber ins Loch, als mir hier irgendwelche Schulden zu machen, die sich häufen, bis mir doch keine Wahl bleibt.« Seine Stimme wurde schneidend. »Man kann uns alles wegnehmen, aber niemand wird uns zu Huren machen, lieber gehe ich betteln.«

»Oder stehlen?«, warf Vic ihm vor.

»Wenn du dich mehr sorgst, dass aus Kindern Diebe werden könnten, als darum, dass sie … in der Manege arbeiten könnten, kann ich dich beruhigen. Ich habe nichts dergleichen vor.« Nein, er wusste nämlich gar nicht, was er ansonsten vorhatte, aber er wusste ganz genau, was er nicht tun wollte.

Die Diskussion ging noch eine Weile hin und her, Vic versuchte mit einem warmen Bett und Essen Darcar dazu zu bewegen, hinein zu gehen, es sich wenigstens mal anzusehen. Darcar blieb stur.

Währenddessen bemerkte Veland einen Jungen am Straßenrand, der auf dem Bordstein saß und Plakate malte. Er war etwa in seinem Alter, vielleicht etwas älter, von magerer Statur, schwarzes, schulterlanges Haar, das in einem lockeren Zopf steckte, jemand hatte ihm die linke Seite seines Schädels rasiert und in die Stoppeln ein Muster aus Linien hinein geritzt. Er trug ein schwarzes Hemd und Stoffhosen, die bis zu den Knien abgefressen waren, statt eines Gürtels hatte er sich eine Kordel umgebunden, damit der Bund seiner Hose nicht von seiner mageren Hüfte rutschte. An seinen Ohren klimperten unzählige silberne Ringe, und jemand hatte ihn weiß geschminkt und um seine verschiedenfarbigen Augen mit Kohle schwarze Ränder gemalt, er besaß einen – vermutlich aufgemalten – Schönheitsfleck unter dem rechten Auge. Veland starrte ihn ganz fasziniert an, sodass der Junge irgendwann aufsah und ihm sofort mit einem räuberhaften Lächeln zuwinkte.

Veland hob ebenfalls eine Hand, wollte zurückwinken, da schritt Darcar schnell ein, packte seinen Arm und zwang ihn dazu, sich umzudrehen und zu gehen.

»Wir bleiben hier nicht«, beschloss er unnachgiebig und steuerte den Rückweg an. »Niemals!«

Vic seufzte, er musste sich geschlagen geben und nickte seinen Männern zu, als er sich erhob. Sie holten Darcar und Veland ein und packten sie an den Armen.

»Du wirst es bereuen«, rief Vic Darcar bedauernd nach, »aber bist du erst einmal da drinnen, kann selbst ich dir nicht mehr helfen. Dort… endet der Einfluss der Obrigkeit, es gelten andere Gesetze.«

Darcar sah nicht mehr zu ihm zurück, er war nur froh, diesem Ort für immer den Rücken kehren zu können. Vor allem als er sah, dass Veland über die Schulter blickte und den schwarzhaarigen Jungen erneut anstarrte, der aufgestanden war und ihnen verwundert nachsah.

Wenn Darcar Veland vor dem Schicksal bewahren konnte, dass diesem Burschen dort drohte, dann hatte er bereits alles richtig gemacht.

Zumindest hoffte er das.

Doch was ihn im Rattenloch erwartete, wusste er natürlich nicht. Und er hätte es sich in seinen schlimmsten Alpträumen auch nicht ausmalen können.

Blut für Gold

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