Читать книгу Blut für Gold - Billy Remie - Страница 4
1.Prolog
ОглавлениеEr wünschte, er könnte etwas ändern. Irgendetwas, das mehr Frohsinn zurück in die Augen seiner Brüder brächte. Aber was hätte das am Ende schon viel genützt.
Es war weit nach Mitternacht und wie jeden Abend blieb ihr Vater dem Heim fern. Vermutlich würde er erst gegen Morgen eintreffen, völlig ausgelaugt und überarbeitet würde er leise herein schleichen und den Zylinder und den schweren Mantel mit einem Seufzen an die Garderobe hängen, um sich anschließend von Magda, ihrer Haushälterin, ein Glas Brandy an den prasselnden Kamin bringen zu lassen. So wie jeden Tag.
»Geht ins Bett«, trug Darcar seinen zwei jüngeren Brüdern auf, die in ihrer Stube im zweiten Stock aus dem Fenster und auf das im Garten liegende schwarze Tor starrten, darauf hoffend, dass die Kutsche ihres Vaters mit hellem Hufklackern vorfahren würde.
»Aber wir wollen Vater noch sehen!«, beklagte sich Veland, der ihren jüngsten Bruder Everett auf dem Arm trug. Im Halbdunkel wurden sein haselnussbraunes Haar und die goldschimmernden Augen nur von einer einzigen Kerze sanft angestrahlt, sodass ihn die dunklen Schatten noch jünger aussehen ließen. Am heutigen Tage war er neun Jahre alt geworden, es hatte Kuchen zum Frühstück gegeben und der Unterricht war ausgefallen, ihr Vater war sogar eine Stunde später zu seinem Geschäftsbüro aufgebrochen, das im Bahnhofsviertel lag. Doch wie es schien, kam er deshalb drei Stunden später als sonst zurück.
»Es ist spät, morgen früh hast du Unterricht«, blieb Darcar hart und nahm ihm Evi aus den Armen. »Keine Widerworte, begib dich ins Bett, oder muss erst Magda hochkommen und dir mit dem Rohrstock den Arsch versohlen?«
Das war eine leere Drohung, die jedoch stets fruchtete. Magda hatte immer damit gedroht, ihnen die Hintern zu versohlen oder die Ohren lang zu ziehen, wenn sie nicht gehorchten, aber sie hatte es nie getan, selbst nicht, als Darcar mit dem ersten blauen Auge nach Hause gekommen war, nachdem er einige Jungen in der Nachbarschaft lehren musste, was es bedeutete, sich über ihn lustig zu machen oder einen seiner Brüder zu schubsen. Tatsächlich hatten sie ihn gelehrt, dass er nicht so stark und geschickt war, wie er geglaubt hatte, was ihn jedoch nur verbissener hatte werden lassen.
Seine Mutter war außer sich gewesen, mögen die Götter ihrer gnädig sein, denn heute konnte sie nicht mehr schimpfen, sie starb vor einigen Wintern an der Seuche, mit einem vierten Kind im Bauch.
Eilig krabbelte Veland ins Bett, Darcar legte Evi in seinem eigenen schlafen. Es gab ein Kinderbett, aber sein kleiner Bruder schlief allein nicht durch, weshalb Darcar ihn immer heimlich bei sich liegen ließ. Sie teilten sich zu dritt ein Zimmer, das Haus war nur ein Stadtheim ihres Vaters, das er früher nur für Treffen mit Geschäftsleuten nutzen wollte. Es hatte zweckmäßig nur zwei Gemächer. In ihrem echten Haus, auf dem Südhügel der Stadt, gab es Platz für zehn Kinder, aber dort lebte nun ihre Stiefmutter. Allein mit ihren zahlreichen Dienstmägden.
»Du musst auch schlafen!«, rief Veland empört, als Darcar mit der Kerze in der Hand zur Tür ging.
»Ich gehe schlafen, wann ich will, ich bin älter als du«, zischte Darcar zurück. Er war gereizt, und das Genörgel seines Bruders nervte ihn heute gewaltig, denn er sorgte sich allmählich auch um ihren Vater. Das wollte er seinen Brüdern natürlich nicht zeigen.
»Deshalb muss ich noch lange nicht auf dich hören, ich will Vater gute Nacht sagen!«, schmetterte Veland zurück.
Darcar funkelte ihn mit kalten, braunen Augen an, woraufhin Veland zusammenschrumpfte und sich die Decke bis unter die Nasenspitze zog. Seinen trotzigen Ausbruch bereute er sofort.
»Doch, du musst auf mich hören! Solange Vater nicht hier ist, bestimme ich! Und jetzt Ruhe, V! Du bist jetzt neun Jahre alt, sei ein Vorbild für Evi!«
Es schimmerte in den Augen seines Bruders, und Darcar fühlte sich augenblicklich schuldig. Veland war das genaue Gegenteil von ihm. Ein leicht verletzliches Pflänzchen, hatte ihre Mutter immer gesagt und ihm den Kopf gestreichelt. Und sie hatte recht.
Versöhnlicher fügte Darcar hinzu: »Wenn du jetzt schläfst, siehst du Vater morgen früh ganz bald wieder. Außerdem komme ich auch gleich. Hier, ich lasse euch die Kerze da, aber schlaft jetzt, versprochen?«
Darcar stellte die Kerze wieder neben Veland ab, der nur noch eingeschüchtert nickte. Der Drang, ihn tröstend zu berühren, war beinahe übermächtig. Also beugte Darcar sich hinab und strich seinem Bruder über den Kopf. »Sei brav, in Ordnung? Du musst für mich auf Evi aufpassen.«
Veland lüftete sein halbverstecktes Gesicht und nickte schüchtern. Er hob ihm den Mund entgegen, und Darcar gab ihm einen leisen, hauchzarten Schmatzer darauf, wie er es immer tat.
Dann ging er, nachdem er seinem Bruder ein letztes Mal das seidene Haar verwuschelt hatte.
Als Darcar die knarrende Treppe hinabschlich, hörte er unten aus der Küche die leise Stimme seines Vaters, der sich mit Magda unterhielt. Einen Moment blieb Darcar auf der Treppe stehen und lauschte. Warmes Licht von Feuern und Laternen schien in die Diele hinein und zwei lange Schatten waren auf die Wand neben der Tür gezeichnet, wie zwei unheilvolldrohende Omen.
Seltsam, er hatte überhaupt nicht gehört, dass sein alter Herr nach Hause gekommen war.
Das Geflüster klang besorgt, sein Vater ermattet, und immer wieder hörte er einen gedämpften Laut vor Schreck, den er nur von Magda kannte, wenn ihr jemand berichtete, dass ein Bekannter von ihr gestorben war. Den gleichen Laut hatte sie ausgestoßen, als der Arzt verkündet hatte, dass Darcars Mutter nicht wieder gesunden würde.
Darcar hatte schon seit Wochen ein seltsames Gefühl in der Magengegend, eine Vorahnung, die ihm Übelkeit bereitete. Er kannte seinen Vater, dieser war mit jeder Schwierigkeit und jeder Überstunde lächelnd fertig geworden, doch in letzter Zeit war es anders. Seit der Heirat mit dieser Schnepfe, wurde Darcars Vater von Tag zu Tag besorgter, regelrecht ängstlich, sah sich immer über die Schulter und tastete oft nach seinem Colt, den er in einem Halfter unter der Jacke trug.
So kannte man ihn nicht, Baernulf van Brick war ein Mann, der nie verzagte und immer eine Lösung fand, ganz gleich ob sein riesiges Bahnunternehmen, das seine Vorväter reich und groß gemacht hatte, kurz vor dem Bankrott stand, oder ob seine Frau im Sterbebett lag, er war nie verzweifelt gewesen, hatte den Kopf immer oben getragen und war seinen Söhnen nicht nur Vorbild, sondern auch mentale Stütze, in allen Lebenslagen. Der Fels in der Brandung. Darcar respektierte diesen Mann mehr, als er je ausdrücken könnte, und sah, seit er denken konnte, zu ihm auf. Und er wusste, wenn sein Vater verzweifelte, gab es einen echten Grund zur Sorge.
Darcar war nun alt genug, zu spüren, wenn etwas Bedrohliches ins Haus stand, doch konnte er sich beim besten Willen nicht zusammenreimen, was es war. Er fühlte lediglich, wie über seiner Familie ein Richtbeil schwang, das nur darauf wartete, ihnen die Köpfe abzuschlagen.
Leise ging er nach unten, sparte die lockere Stufe aus, die ihn mit einem Knarren verraten hätte, und spitzte ein Ohr, während er die Kerze ausblies, damit sie ihn nicht kommen sahen. Er stellte sie auf einem Bord in der Diele ab.
Im Wohnzimmer prasselte bereits das Kaminfeuer, das flackernde Licht fiel ihm in den Rücken, und unter der Haustür kroch der eiskalte Wind von der Straße ins Haus. All das nahm er gar nicht wahr, er hörte nur angestrengt zu.
»Es ist eine Katastrophe, Magda«, klagte sein Vater mit bebender Stimme. Er setzte sich gerade an den Tisch, Darcar beobachtete seinen Rücken, er trug noch den schweren Wollmantel und schob gerade den Zylinder über den Tisch. An seiner Hüfte blitzte der Elfenbeingriff des Colts im Licht.
»Aber es ist doch nicht Euer Verschulden, Herr! Ihr habt Euch doch ausdrücklich bei der Versammlung gegen das Roden ausgesprochen!«
Magda drehte sich mit einem Tablett, auf dem eine Flasche Brandy und ein paar Gläser standen, zum Tisch um, sodass Darcar sich ein Stück in die Schatten zurückziehen musste.
»Mein Wort hat keinerlei Gewicht mehr«, seufzte sein Vater schwer, und Darcar beschlich ein Gefühl, als würde es im Haus plötzlich ganz furchtbar ziehen. »Um genau zu sein, hat mir meine ehrliche Meinung diesen Schlamassel erst eingebrockt. Man will mich beseitigen, weil ich ihnen nicht den Rücken deckte. Sie brauchen jetzt vor allem einen Sündenbock, und Kenneth will mich loswerden. Sie werden uns einen Strick aus dieser Sache drehen, das sagt mir mein Bauchgefühl.«
Ein Stuhl wurde zurückgezogen, Stoff raschelte, als Magda ihre Schürze über den Röcken raffte und sich setzte. »Was sollen wir tun, Herr? Wollt Ihr packen und eine Weile aufs Land, bis die Lage sich beruhigt hat?«
»Ich weiß es nicht, aber ich denke nicht, dass Weglaufen eine Lösung ist.« Ein Glas klirrte leise, Brandy wurde eingeschenkt. »Fakt ist, jemand wird dafür büßen, und es gibt eine Menge Leute da draußen, die mir nachtrachten. Sie wollen meine Dynastie stürzen. Es ging nie um den Wald, er war nur Mittel zum Zweck, um ein Verbrechen zu begehen, das man mir anhängen wird.«
Der Wald? Es gab viele Wälder jenseits der Stadt, es gab Sümpfe, Berge, Täler und Bauernhöfe zu Hauf in dieser Welt, trotzdem wusste Darcar ganz genau, von welchem Wald sein Vater sprach.
Seit Monaten redete die Stadt von nichts anderem, die Kaufherren und Krämer hatten beantrag, die Bahngleise nach Süden zu verlegen, um die Handelsstrecke zu verkürzen, auf diese Weise würden ihre Waggons voller Waren erheblich früher in der Stadt eintreffen, sie müssten nicht auf die Schiffe aus dem südlichen Königreich warten. Doch der Wald gehörte zu einem Hain oder Ähnlichem, den die Heiden des Bergbauvolkes besuchten. Eine heilige Stätte, die zu stören oder gar abzuholzen bedeutet hätte, Krieg mit den Heiden anzufangen. Der Rat dieser Stadt hatte deshalb entschieden, das Gesuch der Kaufleute abzulehnen, nachdem Darcars Vater sich ebenfalls dagegen ausgesprochen hatte. Natürlich waren viele wohlhabende und einflussreiche Männer dieser Stadt darüber nicht erfreut gewesen.
In Phillin Burgh regierte das Geld und der Gewinn, auf Kosten der Moral und der Menschlichkeit. Das hatte seine Mutter einst gesagt, Darcar hatte es nicht vergessen, und jetzt fiel ihm die Bedeutung dieser Worte wie Schuppen von den Augen.
Jemand hatte den Wald zerstört, um es seinem Vater anzuhängen. Zwei Fliegen auf einen Streich.
Aber wieso? Was sollten sie davon haben? Warum sollte jemand seinem Vater etwas Böses wollen, ihm gehörte die Bahngesellschaft! Sie brauchten ihn, um die Gleise zu verlegen! Das ergab doch alles keinen Sinn.
»Der Rat wird wissen, dass nicht Ihr daran schuld wart«, versuchte Magda, Darcars Vater zu beruhigen.
Aber dieser war sich dessen weniger sicher. »Der Rat wird eine Untersuchung einleiten und nur wissen, dass Kenneth mein Stellvertreter ist. Er braucht nur zu behaupten, dass ich ihm den Auftrag gab, und er wird sich auf das Recht der Straffreiheit beziehen, weil er auf Wunsch seines Vorgesetzten handelte. Er wird behaupten, ich hätte ihn mit vorgehaltener Waffe gezwungen, den Wald roden zu lassen. Oder sie kaufen sich ein paar Leute im Rat, ich…«
»Vater?« Darcar hielt es nicht mehr im Schatten aus und trat in den Lichtschein.
Erschrocken fuhren die Erwachsenen am Tisch herum, das Gesicht seines Vaters war eine grauenhafte Maske aus müdem und fahlem Fleisch. Er sah älter aus, obwohl Darcar ihn doch erst am Morgen gesehen hatte.
»Darc, warum bist du noch auf?« Leichter Tadel klang in der Stimme seines Vaters mit, aber kein echter Zorn.
»Ich habe auf dich warten wollen«, erklärte Darcar und trat mit besorgter Miene an den Tisch. »Was ist geschehen?«, fragte er, seine Augen zuckten von Magda zu seinem Vater, immer hin und her.
Ein matter Seufzer entkam seinem Vater, als er ihm bedeutete, sich zu setzen. »Komm, Junge, trink was mit deinem alten Herrn.« Er fuhr sich mit der Hand über das braune, schüttere Haar.
Magda stand auf, als wollte sie ihnen Privatsphäre geben, drehte sich jedoch nur zum Herd um, wo sie Spülwasser in einem Topf erhitzte.
»Was ist los?«, drängte Darcar seinen Vater, als er sich zu ihm setzte.
»Ach …« Dieser schüttelte den Kopf, während er seinem Sohn ein Glas Brandy eingoss. »Nichts, nur langweilige Politik. Hier, trink.«
Er schob ihm das Glas unter die Nase, Darcar starrte in die braune Flüssigkeit, ihr Geruch brannte auf seinen Schleimhäuten. »Du hast gesagt, ich bin zu jung, zum Trinken.«
»Habe ich?« Er kippte den Inhalt seines Glases in einem Zug hinunter und lächelte Darcar anschließend warm an. »Nun, heute nicht. Ein Glas erlaube ich dir. Den ersten Schluck Brandy sollte man immer mit dem Vater trinken.«
Darcar umfasste mit ungutem Gefühl das Glas, hob es aber nicht zum Mund. »Etwas Schlimmes wird passieren, oder? Was ist mit dem Wald? Ich habe dich darüber mit Magda sprechen hören.«
»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht lauschen?«, konterte sein Vater ein wenig säuerlich.
Darcar sah zu, wie er sich ein drittes Glas einschenkte. »Du hast auch gesagt, Alkohol macht uns zu Tölpeln.«
Sein Vater stellte das Glas wieder ab, ohne davon getrunken zu haben, und verengte mit liebevollem Spott die Augen. Aber da funkelte auch Stolz im Blick seines Vaters, auf den sich Darcar immer viel eingebildet hatte. In jener Nacht machte er ihm jedoch Angst.
»Vater, bitte!« Darcar langte über den Tisch und drückte seines Vaters Arm. »Ich weiß, dass etwas nicht stimmt.«
Sein Vater nickte auf das Glas. »Trink, Darc! Trink dein erstes Glas mit mir. So hat es mein Vater mit mir gemacht, und sein Vater mit ihm, tu mir den Gefallen.«
Darcar zog seine Hände zurück, starrte in sein Glas und nahm es anschließend mit schwermütigem Blick. »Warum ist das jetzt wichtig?«
Er erhielt keine Antwort.
»Auf die Familie, Erstgeborener, auf die Dynastie.« Sein Vater hob das Glas und lächelte müde. »Mach Schweiß zu Geld und Blut zu Gold.«
Auch Darcar hob sein Glas und stieß notgedrungen mit seinem Vater an, da es ihm wichtig schien. Er wiederholte den Leitspruch ihrer Stadt: »Schweiß zu Geld und Blut zu Gold.«
Sie tranken, der Brandy war scheußlich, aber Darcar würgte ihn herunter und musste sofort husten. Magda lächelte über die Schulter, und sein Vater schlug Darcar lachend auf den Rücken. »So ist es recht, mein Sohn, so ist es recht.«
Er würde nie wieder trinken, es sei denn, sein Vater würde ihn darum bitten. Nie wieder, schwor er sich, während ihm Tränen in seine Augen stiegen. Gleichzeitig genoss er die aufkommende Wärme in seinem Bauch, die sich glühend wie ein anheimelndes Feuer in seinen Gliedmaßen ausbreitete.
Plötzlich tätschelte sein Vater ihm liebevoll die Wange, verwundert sah Darcar auf.
»Du siehst deiner Mutter ja so ähnlich, mein Junge, das gleiche schwarze Haar, die gleichen braunen Augen, die gleiche unverfrorene Klugheit. Ich vermisse sie sehr, das weißt du, ja?«
Darcar war es unangenehm, über sie zu sprechen, weil er den Schmerz in den Augen seines Vaters nicht ertrug. Er erinnerte ihn an das, was sie verloren hatten, sie alle. »Ich weiß, Vater«, gab er mit belegter Stimme zurück.
»Meine Heirat mit Ilona hat dich unglücklich gemacht, aber…«
Darcar sah wütend zur Seite.
»Aber nach dem Tod deiner Mutter verlor ich die Gunst ihrer Familie. Du weißt, sie gaben mir die Schuld für …«
»Es war nicht deine Schuld«, presste Darcar durch die Zähne. Er hasste seine Großeltern, schon vor dem Tod seiner Mutter. Geld war ihnen immer am wichtigsten es waren kalte Menschen, die seinen Vater kalt behandelt hatten. Darcar mochte sie nicht, er hatte mit der Familie seiner Mutter nie viel zu tun gehabt.
Sein Vater atmete vernehmbar aus, dann nahm er die Hand von Darcars Wange. »Wir hatten Schulden, nach der Abfindung, die ich deinem Großvater zahlen musste. Und Ilonas Familie ist reich, ich hatte keine andere Wahl, ich hätte viele gute Menschen entlassen müssen, um uns über Wasser zu halten. Das konnte ich ihnen doch nicht antun, ihre Familien hätten gehungert.«
Sicher hatte es noch einen anderen Grund für die Hochzeit gegeben, Ilona war die stadtbekannte schönste Frau – und sein Vater war einsam gewesen, auf der Suche nach Trost. Da war seine Mutter noch nicht lange unter der Erde gewesen. Doch das versuchte Darcar, ihm zu verzeihen.
Darcar nickte nur. Was sollte er auch dazu sagen? Seine Stiefmutter war für seinen Vater viel zu jung und nur auf sein Geschäft aus, sie hatte sogar Darcar und seine Brüder aus dem Elternhaus verbannt, weil sie angeblich von ihnen krank wurde. Es war ihr zu viel Aufregung, sich um drei Kinder zu sorgen, obwohl Magda sich doch um sie kümmerte.
Diese Heirat war ein Fehler gewesen, und irgendwann würde Darcar seinen Vater dazu bewegen, sie rückgängig zu machen.
Aber zunächst standen ihnen andere Probleme ins Haus.
Wie auf ein Stichwort hin, sagte sein Vater plötzlich nachdenklich. »Du passt auf deine Brüder auf, Darc, ja? Gleich, was noch geschieht, du bist ihr großer Bruder und für sie verantwortlich. Pass immer auf sie auf, selbst wenn ich nicht mehr bin.«
Darcar fuhr zu ihm herum, dieses Gerede machte ihn sofort wütend. »Was erzählst du denn da? Du passt auf uns auf, niemand sonst! Und du gehst auch nicht fort! Du kannst uns nicht einfach allein lassen!« Er sprang vom Stuhl auf, der lautstark über den Boden geschoben wurde. »Sag so etwas nie wieder! Du gehst nicht weg!«
Magda presste sich die Hand auf den Mund, aber Darcars Vater blieb einfach nur unglücklich auf seinem Stuhl sitzen und starrte in seinen Brandy. »Versprich es mir, Darc.«
»Einen Scheiß werde ich.« Tränen der Wut brannten in Darcars Augen, er ballte die Hände zu Fäusten und war kurz davor, wütend aufzutreten.
»Setzt dich hin, Sohn, du machst dich lächerlich«, erwiderte sein Vater nur ruhig, was Darcar nur noch mehr aufbrachte.
Seine Nasenflügel bebten, als er dessen Aufforderung trotzdem nachkommen wollte, da ihm bewusstwurde, dass er sich wie ein Kind verhielt.
Es klopfte an der Haustür, ehe er wieder Platz genommen hatte.
Verwundert drehten die drei in der Küche die Köpfe zur Diele herum.
»Wer kann denn das so spät noch sein?«, fragte Magda und trocknete ihre feuchten Hände an ihrer Schürze. Sie wollte die Tür öffnen gehen, wie sie es schon immer für die van Bricks getan hatte, doch dieses Mal hielt Darcars Vater sie auf.
»Warte, Magda, ich gehe.«
Darcar folgte seinem Vater, ein Knoten bildete sich in seinem Magen.
Die Türscharniere knarrten, es war finstere, kalte Nacht draußen, und drei uniformierte Männer mit Filzhüten standen auf der Türschwelle, wie die Boten des Todes. Zwei von ihnen hatten Gewehre um die Schultern geschlungen. Darcar starrte sie mit aufkommenden Bauchschmerzen an.
»Sheriff Vic?« Sein Vater streckte aus Gewohnheit seinem alten Freund die Hand entgegen, die beiden kannten sich aus Kindertagen, das wusste Darcar. Vic war ein Freund der Familie, der trotz, dass er nicht von Stand war, von seinem Vater immer gut behandelt wurde.
Für einen Moment atmete Darcar auf. Die beiden Männer gaben sich die Hände, doch das Lächeln unter dem dichten Schnurbart des Sheriffs wirkte bedauernd.
»Kommt rein, ihr holt euch noch den Tod.« Darcars Vater winkte sie ins Haus und schob dabei ungewollt seinen Sohn zurück in die Küche. Noch bevor sie wussten, was der späte und ungebetene Besuch zu bedeuten hatte, wollte Darcars Vater – ganz der Gentlemen, der er war – seine Gäste bewirten und trug der tüchtigen Magda umgehend auf: »Bereite Tee für die Herrschaften.«
»Nur keine Umstände«, lehnte Vic wie gewohnt ab.
Die Küche wirkte plötzlich viel zu klein durch all die Menschen im Raum. Darcar blieb dicht hinter seinem Vater, weil dieser ihn hinter sich schob. Der Sheriff und die beiden stummen Uniformierten der Stadtwacht versperrten die Tür. Darcar hatte das ungute Gefühl, dass sie nicht aus reinem Zufall dort stehen blieben.
Fragend sah er zu Magda, die ihm jedoch wie immer nur diesen auffordernden Blick zuwarf, damit er sich anständig benahm.
»Bitte, setzt euch doch, meine Herren«, Darcars Vater deutete zum Tisch, »kann ich Euch etwas anderes anbieten…«
»Bearnulf«, begann Vic, und sein bedauernder Tonfall gefiel Darcar überhaupt nicht.
Er tastete nach dem Messer an seinem Gürtel, doch es war nicht dort. Magda hatte es vor drei Tagen gefunden und es ihm weggenommen, weil ein gebildeter, junger Mann in ihren Augen nicht mit einer versteckten Stichwaffe herumlief wie ein Attentäter. Der Sheriff zog seinen Hut ab, bevor er fortfuhr: »Ich befürchte, wir müssen dich zu einer Befragung mitnehmen, alter Freund.«
Magda schnappte nach Luft.
»Befragung?«, platzte Darcar heraus. »Folter, wollt Ihr sagen! Mein Vater geht nirgendwohin-«
»Darc!«, warnte sein Vater ruhig, aber bestimmt, und schob Darcar wieder hinter sich. Dann wandte er sich an den Sheriff. »Ist das wirklich notwendig, Vic?«
»Ich befürchte, ja. Es tut mir sehr leid. Komm friedlich mit, dann muss ich dir keine Eisen anlegen.«
»Aber er hat nichts verbrochen!«, rief Darcar und wollte sich wieder schützend vor seinen Vater stellen. Dieser stieß ihn aber sanft wieder zurück und bedeutete Magda, sich um Darcar zu kümmern. Die etwas pummelige, alte Haushälterin legte ihm ihre Hände auf die Schultern und hielt ihn fest. Darcar wandte sich in ihrem Griff, wie ein Aal an der Angel, aber ihre Finger bohrten sich schmerzhaft in sein Fleisch.
»Ich bin sicher, wir können das irgendwie regeln, Vic«, versuchte es sein Vater diplomatisch und zückte ein paar Scheine, insgesamt dreihundert Noten, aus seiner Tasche. »Es versteht sich von selbst, dass ich einen Anwalt benötige, gib mir nur Zeit bis morgen Abend…«
»Das kann ich leider nicht tun, Baernulf, es tut mir leid.« Sein schuldbewusster Blick zeugte von seiner Aufrichtigkeit.
Darcar wurde trotzdem wütend. »Was wird ihm vorgeworfen? Das ist doch nicht rechtens!«
»Gibst du jetzt Ruhe, Junge?«, zischte Magda ihm ins Ohr.
Der Sheriff setzte Darcar mit einem befehlsgewohnten Blick fest. »Mach es für deinen Vater nicht noch unangenehmer, als es ist, Bursche.«
»Vic, das ist doch wirklich nicht nötig, du kennst mich! Du weißt, ich würde nicht davonlaufen. Ladet mich zu einer Befragung vor, ich werde anwesend sein, das verlangt die Ehre, ich bin ein Gentleman. Aber führt mich nicht wie einen Verbrecher ab!«
»Anordnung des Schwarzen Rates, du weißt, wie das läuft, mein Freund. Ich tue mein Bestes, damit du es so angenehm wie möglich hast.« Vic drehte unbehaglich den Hut in der Hand und beugte sich dann im vertrauten Ton ein Stück nach vorne. »Bitte, Baernulf, denk an deine Söhne. Komm friedlich mit, dann kannst du für sie vielleicht noch etwas aushandeln.«
Darcar sah zu, wie sein Vater die schweren Schultern hängen ließ. Er blickte noch einmal zurück, fassungslos starrte Darcar zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Frost, der nicht von draußen kam, zog in seinen Nacken.
»Pass auf deine Brüder auf, Darc«, sagte sein Vater, dann drehte er sich um und nickte Vic zu. »In Ordnung, ich komme friedlich mit.«
»Was? Nein!« Darcar aalte sich aus Magdas Geiergriff, als sein Vater von den beiden Uniformierten in die Mitte genommen wurde, und warf sich dazwischen. Magda schrie, als ein Handgemenge in der Diele entstand.
Darcar brüllte: »Nein, er hat nichts verbrochen! Er hat doch nichts verbrochen. Warum bringt ihr ihn fort! Vater, tu doch was! Wehr dich doch!« Sein Herz war vor Angst zu einem Eisklumpen geworden und zerbarst beinahe bei jedem panischen Schlag. Er zerrte an seinem Vater, der versuchte, ihn von sich zu stoßen. Einer der Uniformierten schlug Darcar ins Gesicht, der Schmerz machte ihn blind, er schmeckte Blut, ließ aber nicht den Ärmel seines Vaters los.
Der Sheriff umschlang ihn von hinten und riss ihn schließlich fort.
»Nein! Vater!«
»Ist schon gut, junger Herr«, redete Vic auf ihn ein. »Alles wird wieder gut.« Die Tür wurde geöffnet, die kalte Nachtluft zog herein und peitschte auf seine nassen Wangen. Das Letzte, was Darcar von seinem Vater sah, war der ernste Blick, den er über die Schulter warf. »Pass auf deine Brüder auf«, waren seine letzten Worte an ihn.
Nichts wurde von diesem Moment an je wieder »gut«.