Читать книгу Blut für Gold - Billy Remie - Страница 13

Kapitel 9

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Am nächsten Tag war das Fieber schon wieder etwas gesunken, nur eine leichte Erkältung war geblieben. Darcars Augen brannten etwas und waren glasig, seine Nase triefte und ein leichter Husten hatte sich am Morgen eingestellt. Er musste sich ausruhen, ihm fehlte Medizin und nahrhaftes Essen. Aber er würde nicht sterben, dafür sorgten Elmer und Veland, die ihn trocken und warm lagerten und ihm so viel Tee einflößten, dass Elmer mehrfach täglich die Bettpfanne ausleeren musste. Anfangs hatte Darcar sich noch geschämt, mittlerweile nahm er es wortlos hin.

»Jetzt schau nicht so, Stadtjunge«, hatte Elmer gelacht, als er seine Scham das erste Mal bemerkte, »jeder Mensch muss pissen und scheißen, das ist nicht wie in Mären, wo der Held mehrere Wochen im Zellenblock sitzt und nicht ein einziges Mal pupst.«

Veland hatte sich vor Lachen nicht mehr halten können, das war natürlich genau sein Humor. In ihrem Elternhaus hatte niemand jemals gewagt, offen über Notdürfte zu sprechen.

Darcar musste selbst schmunzeln. Elmer war anders als sie, kannte keine körperliche Scham, in vielen Dingen war er rauer, auch wenn man ihm das nicht ansehen mochte. Er war sehr schlank gebaut, aber seine Oberarme strotzten vor steinharten Muskeln, wenn auch recht unaufdringlich. Ein typischer Landjunge, wenig zu essen, aber viel harte Arbeit, die Mischung aus beidem hatte seinen jungen Körper geprägt.

»Ich komme vom Land, ich habe schon Scheiße und Pisse weggemacht, als ich gerade laufen lernte«, erklärte Elmer gegen Mittag. Er übertrieb maßlos, da war sich Darcar sicher, dennoch brachte ihn die Vorstellung eines Knirpses mit Elmers Haar und Augen, der wackelig auf den Beinen knietief in Rinderfladen stand, erneut zum Schmunzeln.

»Greift zu!«, forderte Elmer dann auf, als er sich zu ihnen umdrehte. Sie saßen im Gewölbe auf dem Boden um einen Topf herum, den Elmer aufgestellt hatte. Es war ein wenig wie um ein Lagerfeuer herum zu sitzen, nur hing über ihnen kein funkelndes Sternenzelt, sondern die Zimmerdecke. Darcar war ohnehin nie draußen in der Wildnis unterwegs gewesen, er kannte die Lagerfeuerszenen nur aus Büchern und Magdas Gutenachtgeschichten. Das hier war ein wenig ähnlich wie die Mahlzeiten, die die Helden in ihren Erzählungen immer eingenommen hatten, wenn sie gerade nicht bis zum Hals in Abenteuern steckten. Veland machte das sichtlich Spaß, sodass er nicht bemerkte, wie sehr zum Schlechten sich alles gewendet hatte. Statt an einer gedeckten Tafel zu sitzen und köstlichen Braten zu schlemmen, hockten sie nun zwischen Lagerkisten und Spinnenweben auf dem harten Boden und aßen irgendeinen wässrigen Eintopf.

Elmer machte für Veland eine Holzschale voll, nachdem er sich Darcar gegenübergesetzt hatte. Hungrig machte der Kleine sich sofort über die Mahlzeit her, Brot gab es auch, doch es war alt und trocken, den Schimmel hatten sie großzügig abgebrochen.

Darcar begutachtete angewidert den Topf, seit er vor seiner Nase stand. Er saß in eine Decke gewickelt neben dem Kamin, trug seine mittlerweile getrockneten Kleider, und machte keine Anstalten, sich von dem Topf zu nehmen. Noch immer war ihm kalt.

»Darcar?« Elmer hielt ihm eine bis zum Rand gefüllte Schale hin.

Darcar starrte darauf. »Da sind aber nicht die Ratten drinnen, oder?«

Elmer legte genervt den Kopf schief, er hielt Darcar für einen verwöhnten Schnösel. »Nimm schon!« Er drückte ihm die übervolle Schale in die Arme, sodass heiße Tropfen auf der Decke landeten und Darcar die Hände befreien musste, damit ihm nicht der Rest der heißen Brühe über den Schoß gegossen wurde.

»Ich esse das nicht«, trotzte er.

Elmer seufzte, während er nach vorne gelehnt im Topf rührte und sich dann selbst eine Schale mit der dünnen Brühe füllte. »Ich sage dir jetzt etwas, das ich hier im Loch gelernt habe. Entweder frisst du, was dir vor die Nase kommt, oder du verreckst elendig!«

Veland verfolgte die Unterhaltung stumm, seine großen Augen wanderten zwischen ihnen hin und her, den Löffel führte er weniger begeistert zum Mund, als wartete er darauf, was Darcar entscheiden würde.

Elmer sah es auch, nickte unauffällig in Velands Richtung. Er musste nichts sagen.

Darcar seufzte und blickte auf das Essen hinab. Er fischte den Holzlöffel aus dem Eintopf und rührte darin herum. Die Brühe war klar, Kräuter und Gemüsestücke wirbelten auf, sie roch gut, fast wie von Magda – aber eben nur fast.

»Das schmeckt gut«, ermutigte Veland ihn. »Und du musst essen!«

»Ja, Darcar«, stimmte Elmer ihm zu und feixte, »du musst essen!«

Darcar schmunzelte von einem zum anderen. Dann nahm er den ersten Löffel. Er kaute auf den Stücken herum und da war eindeutig Fleisch dabei. Es schmeckte wie … Geflügel, aber er meinte sich einzubilden, es wäre irgendwie… sauer und pelzig.

Seinem Gesicht musste anzusehen sein, wie angewidert er war, denn Elmer und Veland lachten über ihn. Die beiden warfen sich komplizenhafte Blicke zu.

»Das ist Möve«, beruhigte Elmer ihn erheitert, »ich hab sie heute Morgen mit einer Steinschleuder vom Himmel geschossen. Glaub mir, das war nicht leicht, aber du brauchst etwas Nahrhaftes. Und Ratten schmecken übrigens nur gut angebraten über dem Feuer.«

Darcar wischte sich mit dem Handrücken über den glänzenden Mund. »Hm, das macht es nicht besser.«

»Ich finde, es schmeckt gut«, sagte Veland zufrieden, und um seine Worte zu unterstreichen, löffelte er sogleich noch mehr Brühe in sich hinein.

Irgendwie tat es gut, ihn essen zu sehen. Er würde nicht verhungern, nicht verdursten oder erfrieren, Darcar war froh, dass der Kleine zu Elmer zurückgerannt war, sein eigener Argwohn hätte sie beide noch ins Grab gebracht.

»Schleimer«, neckte er seinen kleinen Bruder und knuffte ihm in die Seite. Veland kicherte und versuchte, ihn mit dem Ellenbogen zu erwischen. Seine Unbeschwertheit war die beste Medizin.

Darcar hob den Löffel wieder an und murmelte dann gestehend: »Aber es schmeckt wirklich gut.« Nachdem er einige Tage nichts gegessen hatte, schmeckte es sogar himmlisch.

Elmer versuchte es zu verstecken, doch die Komplimente machten ihn verlegen, er winkte ab. »Esst, haut rein. Ihr könnt es gebrauchen.«

Das taten sie. Aßen und redeten, spaßten ein wenig miteinander, wie Brüder an einem Mittagstisch, die schrecklichen Ereignisse verdrängend.

Als Darcar sich einen Nachschlag mit der Kelle in die Schale schaufelte, wandte er sich an Elmer: »Da sind Karotten und Kartoffeln drinnen. Wo hast du die frischen Lebensmittel eigentlich her? Du baust doch hier nicht alles selbst an, oder?«

Elmer kaute erst zu Ende, bevor er mit feuchtglänzendem Mund, der Darcar von dessen Worten beinahe ablenkte, erklärte: »Ganz verwahrlosen lässt man uns hier nicht. Alle paar Wochen schmeißt ein Zeppelin Vorratskisten ab. Wenn man ihn früh genug sieht, kann man seine Route berechnen und ihn verfolgen, so ist man als erstes am Abwurfort.« Er zuckte mit den Achseln. »Meistens kommen die anderen erst nachts raus, da hab ich das Meiste schon weggebracht. Ist immer unterschiedlich, was dabei ist, meist vergammelte Waren von Bauern in der Nähe, oder was die Gemischtwarenläden nicht mehr verkaufen können. Ist aber auch viel dabei, das man noch einlegen oder lagern kann. Die Pilze züchte ich allerdings selbst, auf einem natürlichen Kompost.«

Darcar rührte nachdenklich in seiner Schale, die Brühe schenkte ihm Kraft, er konnte regelrecht bei jedem weiteren Löffel spüren, wie es ihm besser ging.

»Und all das hier«, er deutete mit dem Löffel im Raum herum, »hast du selbst gebaut?«

»Nein«, Elmer schüttelte kauend den Kopf, »ich bin an meinem ersten Tag hier genauso ratlos rumgelaufen wie ihr, hatte aber Glück, dass ich mit einer ganzen Gruppe abgesetzt wurde. Wir haben uns zusammen durchgeschlagen, bis…« Er zuckte mit den Achseln. »Wie sich die Gemeinschaft entwickelte und wie sie mit Neuzugängen umgingen, gefiel mir nicht, also hab ich mich abgekapselt, hab Henning den Rücken gekehrt, als er sich zum Anführer ernannte. Ich hab dann die Mühle entdeckt. Glaube, das hier, dieses Gewölbe, ist ein altes Schmugglerversteck, es gibt von hier aus auch einen Tunnel, der führt zum Lager eines verlassenen Ladens ein paar Straßen von hier, so bin ich ihnen am Anfang immer entschlüpft, bis ich was hatte, um meine … Unversehrtheit zu erkaufen.«

Darcar hörte sehr viel aus diesen wenigen Worten heraus, er starrte lange in seine Schüssel, rührte darin herum. »Du weißt also, wo der Rattenkönig sich aufhält.«

Elmer nickte stumm. Und Darcar hatte plötzlich richtigen Appetit.

*~*~*

Die drei Schüsseln Brühe rächten sich spät in der Nacht. Ein seltsames, heißes Gefühl brodelte in Darcars Magen, es zog sogar in seine Oberschenkelmuskeln, sodass er vorsichtig V von sich runter schob und sich aus den Decken befreite.

Es glühte etwas Glut im Kamin und er musste über den schlafenden Elmer steigen, der vor dem Feuer auf dem Rücken lag und leise schnarchte. Obwohl die Mühle ein Obergeschoss besaß, schlief Elmer immer im Schmugglerversteck, er sagte, wenn sie nachts sein Haus ausräumten, würden sie ihn zumindest nicht finden. Darcar konnte ihn verstehen.

Elmer hatte eine Ecke, die verborgen hinter den gelagerten Kartoffeln lag, mit einem vergilbten Laken abgehangen, weil Darcar sich so sehr geschämt hatte. Ein Eimer, den man abdecken konnte, stand dort bereit. Darcar schaffte es gerade noch, die Hose runter zu ziehen.

Es war eine Qual und er fragte sich, womit er das verdient hatte. Vermutlich musste sich sein Magen erst noch an das Essen gewöhnen, allerdings ging es Veland blendend. Vielleicht hatten seine Krämpfe auch etwas mit seinem tiefsitzenden Groll zu tun. Oder mit seiner Erkältung.

Es fühlte sich an, als ob sich der Eintopf in Lava verwandelt hätte und sich einen Weg durch seinen Leib nach draußen freibrannte. Er kam genauso flüssig heraus, wie Darcar ihn geschluckt hatte. Übelkeit stellte sich wieder ein, er saß dort eine gefühlte Ewigkeit, und glaubte, zu sterben.

Als er endlich fertig war, torkelte er auf schwachen Beinen durch das halbdunkle Gewölbe wieder zurück zu seinem Lager. Er war hundemüde, aber bereits vor den Magenkrämpfen hatte er nicht schlafen können. Wann immer er die Augen schloss, hörte er das Schreien und sah die Bilder der Hinrichtung erneut vor sich. Er konnte das nicht mehr.

Veland gab ein süßes Wimmern von sich, als Darcar sich an ihn unter die Decke kuschelte. Unverzüglich drehte V sich zu ihm um und schlang einen Arm um seine Taille, drückte sanft die Wange an Darcars Brust.

»Darc?«, flüsterte er in die Stille, seine Stimme zeugte davon, dass er nicht eben erst aufgewacht war.

»Schlaf weiter«, raunte Darcar ihm zu, kämmte ihm mit einer Hand durchs Haar und hauchte sacht seine Lippen auf den Scheitel. »Ich bin da.«

»Geht es dir nicht gut?«

»Doch«, flunkerte Darcar und strich Veland beruhigend über das Haar, wobei es mehr ihn als seinen Bruder beruhigte. Es war keine richtige Lüge, er fühlte sich schon etwas besser, nur noch einen Hauch flau im Magen. »Alles bestens.«

Veland hob den Kopf, ihre Gesichter so nah, dass sie fast schielten. Seine großen, wässrigen Augen schimmerten wie der edelste Whisky. Irgendwann, da war Darcar sich sicher, würden diese Augen viele Mädchenherzen brechen. »Ich weiß immer, wenn du lügst«, flüsterte Veland besorgt.

Darcar rang sich ein müdes Lächeln ab. »Ich werde mich noch an das Essen gewöhnen.«

»Nein.« Veland schüttelte den Kopf und forschte mit einem viel zu erwachsenen Blick in Darcars braunen Augen. »Es ist etwas anderes. Ich bekomme mit, dass du nicht schläfst. Und wenn du schläfst, dann zuckst und wimmerst du wie ein Welpe.«

Dass sein Bruder das mitbekommen hatte, behagte ihm überhaupt nicht. Er wollte, so gut er eben konnte, Veland etwas vorspielen. Er wollte nicht, dass er sich sorgte, niemals.

»Ich vermisse einfach mein weiches Bett«, log er deshalb mit einem schiefen Schmunzeln.

Veland wirkte nicht so, als ob er ihm glauben würde. »Was haben die mit dir gemacht?«, flüsterte er dann befürchtend.

Dieser traurige Blick brach Darcars Herz, er hob eine Hand und legte sie an Velands Wange, strich sacht mit dem Daumen über die samtweiche Haut. »Nichts, V. Ich habe mich nur ein wenig mit ihnen geprügelt.«

Ein leichtes Runzeln trat auf Velands schmale Stirn, als müsste er über etwas nachdenken. »Vater mochte es nie, wenn du dich geprügelt hast.«

Das brachte Darcar zum Schmunzeln, gleichzeitig verspürte er ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust. »Ich werde daran denken, tut mir leid.«

Veland zupfte verlegen an Darcars Hemd, starrte einen Augenblick auf seine Brust. Als er wieder die Augen hob, wirkte er sehr ernst. »Glaubst du…«, er schluckte, »glaubst du… er ist noch am Leben?«

Bilder der Hinrichtung drängten sich ihm auf, er schloss gequält die Augen, drängte sie mit aller Willenskraft zurück. Schließlich blickte er Veland wieder ins Gesicht und schüttelte den Kopf.

Mehr wollte und konnte er nicht erwidern.

Velands Augen wurden leer. »Glaube ich auch nicht«, hauchte er und presste die Lippen aufeinander.

Einen Moment lagen sie so da, Nase an Nase, Darcar streichelte Vs Wange, und V fummelte nachdenklich am ersten Knopf seines Hemdes herum. Darcar wartete auf mehr, auf eine Träne, ein Zittern. Doch Veland brauchte immer eine gewisse Zeit, um über Ereignisse zu weinen, als ob sein kindlicher Verstand schlicht versuchte, es zu verdrängen. Oder einfach länger benötigte, um sich der Konsequenzen bewusst zu werden. Als ihre Mutter gestorben war, hatte Veland die Nachricht ganz kühl mit einem Nicken hingenommen und dann erst einmal lange Zeit kein Wort mehr gesagt, als müsste er intensiv über diese Tatsache nachdenken. Erst nach der Beerdigung waren bei ihm alle Dämme gebrochen. Vielleicht, weil ihr Vater nicht gewollt hatte, dass Veland den Leichnam noch einmal sah. Und vielleicht war es nun ja ähnlich. Dass er, wenn er ihren Vater niemals tot sah – und auch nicht auf eine Beerdigung ging – er nicht um ihn weinen konnte, weil er es schlicht nicht begriff.

»Es tut mir leid«, raunte Darcar aufrichtig, müde von der Situation. »Aber wir haben immer noch uns, V. Immer noch uns.«

Veland sah ihm wieder in die Augen. »Nur, wenn du vorsichtiger bist!«

Darcar lächelte sacht über ihn. »Versprochen!«, wisperte er ihm zu.

Vorsichtig legte V seine zarten Fingerspitzen auf Darcars Lippen, betastete sie prüfend. »Du bist ganz warm. Ich habe solche Angst um dich, wenn du Fieber hast.«

»Ich werde gesund«, versicherte Darcar und küsste ihn brüderlich auf den Mund, »versprochen, V!«

Veland blinzelte, blickte ihn noch einen Augenblick lang forschend an, dann schien er zufrieden mit dem, was er in Darcars Gesicht las.

»Du darfst mich nicht allein lassen«, flüsterte er mehr befehlend als flehend, und kuschelte sich wieder gemütlich bei Darcar ein.

Darcar lächelte darüber, nahm ihn zurück in den Arm, um ihn in den Schlaf zu wiegen. »Das werde ich nicht tun. Niemals.«

Im Dunkeln leuchtete das Weiß eines Augenpaares regelrecht heraus. Darcar blickte direkt in Elmers Gesicht, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Sein Blick war unergründlich, als er sich ohne ein Wort umdrehte und die Lider schloss.

Darcar runzelte die Stirn, zog V enger an sich und vergrub das Gesicht in seinem Haar.

*~*~*

Es war am Morgen, als Darcar davon wach wurde, dass es kalt im Gewölbe und auf dem Lager war. Stimmen drangen zu ihm durch, heiteres Lachen. Und für einen Moment glaubte er, wieder zu Hause zu sein und seine Brüder mit seinem Vater zu hören. Er erwartete bereits Magdas tadelnde Stimme, dass im Haus nicht gerauft werden dürfte, und Vaters ruhige Entgegnung, dass Jungs eben auch ein wenig wild sein dürften. Er hatte immer gerne mit ihnen gerauft, sie hatten ihm immer auf den Schoß und auf den Rücken springen dürfen. Und obwohl er so viel größer und stärker gewesen war, konnte Darcar sich nicht erinnern, jemals gegen ihn verloren zu haben. Ihr Vater hatte ihnen immer das Gefühl gegeben, die Größten zu sein.

Doch als er die Augen aufschlug, sah er nur Vorratskisten und eine dicke Spinne, die über seinem Gesicht in aller Ruhe ihr Netz spannte, das er am Abend zuvor zerstört hatte. Sie ließ sich einfach nicht vertreiben.

Seufzend rollte Darcar auf den Rücken, brauchte einen langen Moment, um wach zu werden und sich wie jeden Tag aufs Neue mit den derzeitigen Gegebenheiten abzufinden.

»Ich werde dir einen Namen geben müssen«, sagte er zu der Spinne, halb im Scherz, halb ernst. Er hatte ihr Netz so oft zerstört, und sie baute es immer wieder tapfer auf, dass sie sich ihr Recht, bleiben zu dürfen, eindeutig verdient hatte.

Darcar stand auf, langsam. Er fühlte sich steif vom vielen rumliegen, und obwohl ihm noch immer schwindelig im Kopf war und er erst einmal husten musste, wurden sein Leib und sein Verstand allmählich unruhig. Er wollte sich bewegen. Nachdem er sich gestreckt und erleichtert hatte, entdeckte er seinen Mantel, der an einem Haken neben der Tür hing. Er griff danach, zog ihn über und nahm den dampfenden Becher Kräutertee mit nach oben, den Elmer oder Veland ihm bereitgestellt hatte.

Der Kellerraum war kleiner als das Gewölbe darunter, dort lagerten nur ein paar Kisten, als ob Elmer damit versuchte, den Rattenkönig und andere Eindringlinge zu täuschen. Vermutlich war Elmer, dieser gerissene Fuchs, der reichste Mann im Rattenloch. Was ihn zum eigentlichen König machte.

Davon hatte er aber nichts hören wollen, als Darcar es ansprach, ein bescheidenes Abwinken war die einzige Erwiderung gewesen. Später sagte er nur noch: »Ich versuche nur, zu überleben.«

Eine knarrende Holztreppe führte aus dem Keller direkt in den Ladenraum der alten Mühle. Darcar trat hinter dem eingestaubten Tresen hervor, das Zimmer war Dunkel und bis auf ein paar leere Schnapsflaschen ausgeräumt. Eine alte Kasse war längst geplündert. Ein Türbogen führte in die Küche, sie besaß ein Fenster über dem qualmenden Ofen, ein Eintopf kochte über dem Feuer. Auf der anderen Seite führte eine Treppe hinauf, sie war mit Staub bedeckt und oben schien es stockfinster zu sein, da Elmer die Fenster abgehängt hatte.

Im Laden stand die Tür offen und gab den Blick auf die Straße frei. Es war wie immer ein verhangener Tag, gräulich, aber hell, es lag noch etwas Tau auf den Dächern, doch der milde Wind hatte den Frost auf den Pflastersteinen vertrieben.

Elmer saß draußen auf dem Stuhl vor der Tür, auf dem Darcar ihn zum ersten Mal vor einigen Nächten getroffen hatte, bevor er vor ihm geflüchtet war. Sein kehliges Lachen erschall in der Morgendämmerung und verursachte ein seltsames Nachbeben in Darcars Brust.

»Was ist so lustig?«, fragte er, als er hinaustrat und Elmers Blick folgte. Es ging ein heftiger Wind, den Darcar erst draußen wahrnahm, lautstark rauschte er durch die Ruinen, war mehr ein dunkles Dröhnen als ein Pfeifen, als ob ein Riese sich über das Elendsviertel gebeugt und hineingestöhnt hätte. Die Böen hatten die Schneewolken und die eiskalte Luft davongeblasen. Darcar wurde von einem Wind getroffen, der ihn deutlichspürbar zur Seite drückte.

Er brauchte nicht fragen, was Elmer so amüsierte, am Rande des Kanals entdeckte er Veland, der stolpernd eine Kordel festhielt. Er ließ einen grünen Drachen steigen und hatte sichtlich Freude dabei, obwohl der Wind und das schwebende Fluggerät ihn wie ein Blatt über die Straße wehten, immer hin und her. Sein haselnussbraunes Haar war verwüstet, er lachte aus purer Freude.

»Ich dachte, er könnte etwas Spaß vertragen«, erklärte Elmer. Und für das, was er für Veland getan hatte, respektierte Darcar ihn umso mehr.

Deutlich mehr, wobei er befürchtete, dass ihm das nicht guttat. Wie so oft seit einiger Zeit.

»Darc!«, rief Veland breit lachend, als er seinen Bruder am Haus bemerkte. »Schau mal, was Elmer für mich gebastelt hat! Schaust du? Siehst du es? Warte, ich halte ihn … oh… das ist… oh…«

Er wurde ein paar Schritte über die Straße gezerrt, als er versuchte, den Drachen unter Kontrolle zu bekommen.

Darcar machte einen erschrockenen Schritt auf ihn zu. »Pass auf, V! Das ist gefährlich! Komm lieber ins Haus-«

»Lass ihn doch«, fiel Elmer ihm ins Wort.

Mit einem giftigen Blick fuhr Darcar zu ihm herum. »Er könnte in den Kanal fallen!«

»Das wird nicht passieren!«

»Das weißt du nicht!«

»Vertrau ihm doch mal!«

Das brachte Darcar zum Verstummen. Sorgenvoll sah er wieder hinüber zu Veland, der mit aller Kraft versuchte, den Drachen zu bändigen. Beinahe wirkte es, als ob das Gerüst aus Stöcken, Stoff und Kordel tatsächlich lebendig wäre und versuchte, in die Lüfte zu steigen. Doch Veland schaffte es, ihn ruhig zu halten und vom Kanal weg zu gehen.

Darcar atmete mit geschürzten Lippen aus, es fiel ihm unheimlich schwer, V nicht zu bemuttern.

»Er hat ihn Darci getauft«, verriet Elmer ihm. Verwundert sah Darcar ihn an, Wärme erfüllte ihn, als er das hörte, auch ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Züge. »Er hängt sehr an dir«, bemerkte Elmer mit einem warmen Lächeln.

Darcar blickte wieder hinüber zu seinem Bruder, der sich nun über die Schulter blickte, um zu überprüfen, ob sie ihm auch zusahen, er lachte glücklich.

»Und ich an ihm«, gestand Darcar bewegt.

»Du kannst ihn nicht vor allem beschützen«, riet ihm Elmer plötzlich ernst, »er muss lernen, zu überleben. Was soll er sonst tun, solltest du nicht mehr da sein?«

»Ich werde immer für ihn da sein!«, warf Darcar ein und blickte Elmer entschlossen an.

Doch dieser lächelte entschuldigend. »Das hast du doch gar nicht in der Hand, Darcar. Außerdem bist du viel älter. Sie werden dich früher holen als ihn.«

»Wie meinst du das?«, fragte er irritiert. »Holen?«

Elmer lehnte sich mit den Armen auf die Schenkel, in seiner Hand hielt er eine dampfende Tasse, ebenso wie Darcar, der seinen Becher mit allen zehn Fingern umfasst hielt, um sie warm zu halten.

»Hier leben nur Kinder, nur Jungen«, erklärte Elmer. »Das weißt du doch sicher.« Darcar nickte stumm, jeder wusste das. »Was glaubst du denn, was passiert, wenn man zu alt wird? Alle drei bis fünf Jahre kommt die Armee und räuchert hier alle Löcher aus, sie nehmen die ältesten Burschen mit, zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren. Je nachdem wie stark man ist. Manche werden Sklaven auf Militärdampfern und schippen Kohle in die Brennöfen, andere müssen an der Front und gegen die Wilden kämpfen, und wenn du für gar nichts zu gebrauchen bist, schmeißen sie dich auf eine einsame Insel, tausende von Seemeilen entfernt in Richtung Süden. Zumindest sagt man das so.«

Darcars Herz geriet in Aufruhr. Einerseits könnte man ihn in drei Jahren von V wegreißen, andererseits wusste er nun, dass es einen Weg gab, von hier wegzukommen. Wenn er sich nur lange genug versteckte, könnten er und V von der Armee geholt werden.

»Gibt es hier nur Jungen?«, fragte Darcar nachdenklich.

Elmer nickte. »Selbstverständlich. Das ist ja der Grund für… Hennings… Na ja.«

»Hat er dich…?« Darcar rutschte die Frage halb heraus, er war zu neugierig, das spürte er sofort. Er sprach nicht weiter, und Elmer schwieg dazu.

Darcar wandte den Blick ab, sah wieder hinüber zu Veland, winkte ihm zu.

Nachdem Elmer eine Weile seine Fußspitzen angestarrt hatte, hob er tief durchatmend wieder den Blick. »Hab euch letzte Nacht gesehen.«

»Und?« Darcar wusste wirklich nicht, worauf er hinauswollte.

Elmers Blick lag starr auf Darcars Profil. »Küsst du ihn immer so?«

»So?« Verwundert sah er den anderen wieder an. »Wie ist denn so

»Auf den Mund.« Elmer betrachtete ihn verwirrt.

Aber Darcar zuckte nur mit den Schultern. »Ja.«

»Das ist…« Elmer schüttelte den Kopf, sah zu Veland. »Das ist seltsam. Das solltest du nicht tun.«

Irgendetwas zog sich in Darcars Magengegend wieder zusammen, Verärgerung stieg in ihm auf.

»Was soll das bedeuten? Und was geht es dich an? Er ist mein Bruder, ich darf ihn ja wohl küssen!« Elmer konnte es nicht wissen, aber diese Worte hörte Darcar nicht zum ersten Mal, wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Du bist nicht normal! Das ist unnatürlich! Du bist widerwärtig…

Aber bisher hatte sich noch niemand darüber gewundert, dass er Veland küsste. Er hatte auch Evi geküsst. Sie waren seine Brüder. Und er hatte das von seinen Eltern, sein Vater und ebenso seine Mutter hatten ihm und V immer einen Schmatzer gegeben. Er verstand absolut nicht, was Elmer daran missfallen könnte.

Elmer verzog die Lippen. »Ich weiß ja nicht. Ich hatte auch Brüder, aber wir haben uns nie geküsst. Das ist irgendwie… nicht normal.«

»Was weißt du schon davon, was normal ist?«, giftete Darcar, er wollte sich die Verbindung zu seinem Bruder nicht schlecht reden lassen. »Was gibt dir das Recht, über uns zu urteilen? Nicht normal?! Was ist denn deiner Meinung nach normal? Wenn ich ihm grob auf die Schulter klopfe wie einem Hund? Glaubst du, das tröstet ihn? Ist das normal? Er ist mein Bruder, und für uns ist das, was wir tun, schon immer normal gewesen! Ich küsse ihn, er küsst mich, wir haben uns eben lieb!«

Sie starrten sich an, Darcars Augen glitzerten gefährlich und er hätte Elmer zu gerne noch ein paar harsche Worte an den Kopf geworfen, doch diese grünen Augen bezähmten ihn auf eine Art, die ihm noch weniger gefiel als das, was er zu ihm gesagt hatte. Er drehte das Gesicht zur Seite.

Da lenkte Elmer ein, atmete geräuschvoll aus. »Vielleicht hast du Recht, ich weiß nichts über euch. Ich … ich dachte nur …« Er verstummte.

»Was dachtest du?«, hakte Darcar nach. Dabei wusste er es, ahnte es, und es schmerzte ihn, dass jemand so etwas von ihm denken könnte. Tränen brannten in seinen Augen. »Er ist mein Bruder! Er ist ein Kind! Wenn ich ihn küsse, dann weil ich ihn lieb hab. Nichts weiter sonst! Kapiert?«

Elmer hob beschwichtigend die Hände. »Ich wollte dir nicht zu nahetreten, tut mir leid, Darcar. Mach mir eben manchmal zu viele Gedanken.«

Darcar presste die Kiefer fest zusammen, es fiel ihm in solchen Momenten schwer, sich zu beherrschen. »Denk doch, was du willst.« Er wandte sich ab und ging wieder nach drinnen.

Ihm war die Lust vergangen, sich in Elmers Nähe aufzuhalten. Was wusste dieser schon von ihm und V. Gar nichts! Er wusste nichts.

Unten angekommen knallte er den Becher auf eine Ablagefläche und riss sich den Mantel vom Leib. Widerwärtig, was Elmer da angedeutet hatte! Und vor allem ärgerte sich Darcar darüber, dass er aus etwas so Unschuldigem, etwas so Liebevollem wie dem brüderlichen Kuss, so etwas Schlechtes, Böses hatte machen wollen. Darcar würde sich das nicht kaputt machen lassen!

Er konnte sich nicht einfach wieder hinsetzen, lief zwei, drei Mal erregt im kleinen Gewölbe vor der Destille auf und ab, wie immer tropfte dieser eine Hahn, wie zum Zeichen, dass Elmers Gebräu im Behälter schwamm. Ein paar Flaschen hatte er bereits abgefüllt, sie standen in Reih und Glied in einer Kiste neben dem Abfüllhahn. Darcar blieb davorstehen, starrte den Selbstgebrannten an. Er konnte noch nie verstehen, was Männer daran gut fanden, sich damit zu betäuben. Wie von selbst hob sich sein Arm, er griff nach den Flaschen und fuhr über ihre Korken. Er dachte an den Rattenkönig, an das, was Elmer ihm über diesen verraten hatte. Diese Flaschen waren wie ein Schlüssel zu dessen Unterschlupf.

»Tu es nicht.«

Erschrocken drehte er sich um, sah Veland im Türbogen stehen.

»He.« Darcar nahm die Hand zurück, lächelte zerknirscht. »Schon genug vom Drachensteigen?«

»Er ist weggeflogen, Elmer fängt ihn ein.« Veland kam langsam herein, beäugte die Kisten, dann Darcar. Wie immer wirkte er zu erwachsen für sein Alter, und die ganze Situation ließ ihn nicht jünger, sondern rasant älter werden. »Trink nichts.«

Darcar seufzte, drehte sich zu ihm um. »Das hatte ich nicht vor«, versicherte er, ging auf Veland zu und legte ihm eine Hand auf den Kopf. »Ehrenwort!« Es war die Wahrheit.

Er küsste Vs Scheitel, dann ging er zu seinem Lager und nahm den Kräutertee wieder auf.

Blut für Gold

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