Читать книгу Blut für Gold - Billy Remie - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеSie kamen drei Tage nach der Verhaftung, kurz vor Morgengrauen.
Darcar lag im Bett und hatte die Arme um seine Brüder gelegt. Ihre Wärme und ihre flache Atmung beruhigten ihn, manchmal fand er sogar ein paar Stunden selbst Schlaf.
»Es wird alles wieder gut, Vater ist bald wieder da«, hatte er ihnen versprochen, jeden Tag, wohlwissend, dass es eine Lüge war.
Magda war bei ihnen, obwohl sie selbst eine kleine Wohnung in der Stadt bewohnte und einen Ehemann und eine Schar Kinder hatte, die darauf warteten, dass sie heimkam. Doch sie sagte immer, die van Bricks wären auch ihre Familie, und solange der edle Herr »verhindert war«, würde sie die Jungs nicht allein lassen, immerhin habe sie das der Lady am Sterbebett versprochen.
Drei Tage Ungewissheit, drei Tage bangen und Stunden, die sich endlos hinzogen. Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit und das Gefühl, gefangen im eigenen Haus zu sein.
Sie durften nicht nach draußen, nicht zu den Verhandlungen. Darcar hatte versucht, wegzulaufen, zum Rathaus zu gelangen, aber Magdas älteste Söhne hatten ihn nach zwei Straßen eingefangen und zurückgeschleift. »Das hat keinen Sinn, Junge, du machst es nur schlimmer.«
Darcar verstand nicht, was sie damit meinten, er wollte doch nur für seinen Vater sprechen.
Pass auf deine Brüder auf.
Letztlich war es das Einzige, was er noch tun konnte.
Die ganze Zeit hatte er erwartet, dass die Tür aufging und sein Vater erschöpft, aber mit einem Lächeln über die Schwelle trat und die Arme ausbreitete. Dass er zurückkäme, der Beschützer der Familie. Der Mann, der immer jedes Unheil abwenden konnte, bis auf den Tod selbst.
Doch als die Tür lautstark aufgestoßen wurde, war es nicht ihr Vater, der zurückkehrte. Darcar hatte gerade durch das Fenster beobachtet, wie malvenfarbenes Licht die graue Morgendämmerung verdrängte, wie Hoffnung in die Dunkelheit drang, als sich jemand mit Gewalt Zugang zum Haus verschaffte.
Es war, als würde man aus einem lieblichen Traum mit einem Schlag in den Magen geweckt werden, er saß sofort aufrecht im Bett, sein Herz raste so schnell, dass es ihm fast aus dem Hals rauskam.
Mit einem erschrockenen Laut wurde auch Veland wach und klammerte sich an ihn. »Was war das?«
»Bleib bei Evi«, befahl Darcar leise, griff nach dem Küchenmesser, das er unter dem Kissen deponiert hatte, und wollte aufstehen.
Veland hielt ihn fest, seine großen, wässrigen Augen flehten ihn an. »Lass uns nicht allein«, wisperte er mit brüchiger, von Panik durchdrungener Stimme.
»Bin gleich zurück, versprochen!« Darcar musste Velands Hände gewaltsam aus seinem Baumwollhemd lösen, da sein Bruder sich wie eine Krähe an ihm festgekrallt hatte. Er verzichtete darauf, sich etwas über die lange Unterhose zu ziehen, schlich auf nackten Füßen zur Tür und schlüpfte in den engen Flur. Es war dunkel, keine Kerze oder Laterne brannte, sodass sein Schatten ihn nicht verraten konnte. Mit angehaltenem Atem schlich er an der Wand entlang zum Treppenhaus.
Unten herrschte aufgebrachter Lärm, Magdas erboste Stimme kam den Eindringlingen entgegen. »Was soll das hier werden? Das ist Hausfriedensbruch!« Sie schlief unten in einer Stube neben der Küche und war sofort in der Diele, sie trug nur ein Nachthemd und zur Waffe ihre tadelnde, alte Miene. Schwere Stiefel polterten durchs Haus, es klang wie eine Herde Büffel. Schubladen wurden aufgezogen, Vasen und Bilder zu Boden geworfen, jede noch so geringfügig persönliche Sache mit Füßen getreten. Es sah wie eine Räumung aus.
Es war eine Räumung.
Einer der Uniformierten trat Magda in den Weg und fragte erbost: »Wo sind die Jungen?«
Darcar zog sich der Magen zusammen. Doch Magda entgegnete verwirrt: »Jungen? Welche Jungen?«
Der Uniformierte schnaubte ungehalten und baute sich bedrohlich vor Magda auf, doch erst als er seinen Revolver aus dem Holster zog, wich sie vor ihm zurück. Er hob die Waffe nicht, er hielt sie an seinen Schenkel, doch die Drohung genügte. Er drängte Magda rückwärts, bis die alte Frau buchstäblich mit dem Rücken zur Wand stand.
Wie dieser Kerl mit ihr umging machte Darcar rasend vor Wut, er ballte die Faust um das Messer, bis seine Knöchel weiß hervortraten.
»Keine Spielchen, alte Frau! Wo sind die Jungen? Wir wissen, dass van Brick Söhne hatte.«
Darcar knirschte mit den Zähnen.
»Nun«, Magdas Stimme klang beneidenswert gefestigt, »wenn dem so wäre, wären die Jungen wohl bei ihrer Stiefmutter, oder nicht? Ich bin nur eine einfache Haushälterin, die sich um das Anwesen des edlen Herrn kümmert, bis er wieder da ist.«
Der Uniformierte spuckte verachtend vor ihr aus. »So, so. Der edle Herr wird jedoch nicht mehr zurückkommen, er wurde zum Tode verurteilt.«
Als Darcar genau das hörte, worauf er sich seit Tagen innerlich vorbereitete, erwartete er unbändige Wut, die ihn zu etwas Dummen verleiten würde. Doch sie blieb aus, stattdessen war er wie gelähmt, hörte für einen Moment alles nur noch gedämpft, als würde er langsam ertrinken. Und dann spürte er das Zittern in seinen Beinen, wobei er es eher dadurch bemerkte, dass seine Knie einknickten und er gegen die Wand sackte wie ein gebrechlicher, alter Mann. Er keuchte geräuschlos, hielt sich an der Kante fest.
»Und die junge Lady sagt sich los von seiner Brut«, fuhr der Uniformierte kalt fort. »Da die Jungen nachweißlich nie bei ihr lebten, hat sie das Recht, die Stiefmutterschaft abzuerkennen. Van Brick wurde des Verrates angeklagt, sein Unternehmen geht an diejenigen, denen er geschadet hat, wie es das Gesetz vorsieht. Demnach haben seine Jungen kein Recht mehr auf Anteile davon, und da sie keine Mutter und auch sonst keine Mittel zur Verfügung haben, sind sie nun Waisen und obdachlos. Dieses Haus hier wird verkauft, sie müssen ausziehen!«
Magda wurde bleich, sie schüttelte vehement den Kopf. »Es sind doch nur Jungen! Kinder! Bitte, Herr, lasst sie einfach in Ruhe. Lady Ilona wird sich bestimmt ein Herz fassen und sie aufnehmen.«
»Lady Ilona hat vor dem Schwarzen Rat vehement verkündet, dass sie von ihrem Ehemann geschlagen, missbraucht, zu dieser Ehe gezwungen und in ihrem Haus festgehalten wurde wie eine Sklavin. Ich glaube nicht, dass man der jungen Lady zumuten sollte, die Brut dieses Monsters aufzuziehen. Und jetzt holt die Jungen, sonst müssen wir sie mit Gewalt auf die Straße zerren…«
Magda presste die Lippen zusammen. »Die Jungen sind nicht hier.«
Der Uniformierte schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht, sodass ihr Kopf herumflog und ihre grauen Haare sich aus ihrem wirren Geflecht lösten. Blut klebte an ihrer Lippe, aufgerissen von dem Siegelring des Mannes. Sie leckte es sich ab, dann schielten ihre Augen für den Bruchteil eines Augenblicks zu Darcar nach oben. Sie sah ihn direkt und eindringlich an.
Er zog sich zurück und eilte auf wackligen Beinen ins Zimmer. Gerade, als er den Uniformierten sagen hörte: »Seht oben und auch im Keller nach. Zieht die kleinen Bastarde an ihren Haaren raus aus ihrem Versteck.«
Schritte erklangen auf den knarrenden Stufen. Leise drückte Darcar dir Tür zu und holte einen Stuhl, um ihn unter die Klinke zu stemmen.
Dann drehte er sich um. Veland stand hilflos im Nachtanzug mitten im Raum, offensichtlich verängstigt, und drückte Everett an sich, der natürlich überhaupt keine Ahnung hatte, was passierte, er konnte ja kaum allein auf seinen kleinen, dünnen Beinchen stehen. Er war noch zu klein, und Darcar machte es einen Moment unendlich traurig, dass Evi sich weder an Mutter noch an Vater erinnern würde. Doch solche Gedanken durfte er jetzt nicht aufkommen lassen, er biss wütend die Zähne zusammen.
»Was ist los?«, jammerte Veland.
Darcar legte einen Finger über seine Lippen, um ihm zu bedeuten, still zu sein. Sie sahen sich in die Augen, verstanden sich, nickten. Veland hielt eine Hand über Evis Mund und Nase, als dieser zu wimmern begann.
Nebenan wurde die Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters aufgestoßen, sie vernahmen deutlich, wie die Männer Möbel umstießen und den Schrank durchwühlten, Teppiche wegzogen und den Boden, sowie die Wände abklopften.
»Schnell«, flüsterte er beinahe tonlos zu Veland.
Darcar schlug das Herz bis zum Hals, sie waren in einem einfachen Haus, es gab keine versteckten Fluchtwege oder doppelte Böden, wie in den Geschichten, die Magda ihnen gerne vorgelesen hatte. Es war nur ein stinknormales Haus. Immerhin hatten sie bis dorthin auch niemals Feinde gehabt, vor denen sie sich hätten verstecken und um ihr Leben bangen müssen.
In Windeseile zog Darcar die Schubladen der Kommoden auf und zog seinen Brüdern Pullover und Socken an, wobei Veland das natürlich allein schaffte, aber Evi brauchte Hilfe.
Es war keine Zeit, um mehr einzupacken, er wickelte Everett noch in ein weißes Lacken und schlüpfte selbst in einen Mantel und Schuhe, dann nahm er Evi auf den Arm und ging zum Fenster.
Sofort schlug ihm kalter Wind und Nieselregen entgegen, wie es für Phillin Burgh üblich war, und der Morgen gewann gerade erst an Farbe, dichter Dunst stand in den Straßen über dem alles einnehmenden, schwarzen Stein, aus dem die Stadt erbaut war.
Seit die Stadtwacht ins Haus eingedrungen war, war nicht so viel Zeit vergangen, wie es sich für ihn angefühlt hatte.
Darcar warf einen Blick nach unten – und fluchte unterdrückt. Das war höher, als er gedacht hatte. Er würde es bestimmt schaffen, aber nicht mit Evi auf dem Arm.
Schritte vor der Tür, jemand rüttelte an ihr, erst probehaft, dann kräftiger. Veland zuckte erschrocken zusammen. Darcar zog ihn an der Schulter zu sich.
»Nimm Evi, ich gehe zuerst, dann springst du und ich fange euch auf!«, erklärte er.
»Nein!«, rief Veland und drückte ihm Everett zurück an die Brust. Der Kleine fing durch die grobe Behandlung an zu weinen, spürte instinktiv, dass um ihn herum gerade ihre ganze Welt zusammenbrach, und seine Brüder Angst hatten. »Pa! Pa!«, weinte Everett. Es war das einzige Wort, das er bis zu diesem Moment je gesagt hatte.
»Du darfst mich nicht allein lassen!«, flehte Veland aufgelöst, »Darc! Du darfst uns nicht allein lassen!«
»V! Ich muss euch auffangen, es ist zu hoch!« Er rief die Worte aufgebracht in das Gesicht seines panischen Bruders, der daraufhin auf die Lippe biss, um nicht zu weinen. Darcar würde sich hinterher entschuldigen, gerade verlor er etwas die Geduld; hatte selbst Angst und wusste nicht, was er eigentlich tun sollte.
Vor der Tür wurden Rufe laut. »Aufmachen! Sofort!« Sich leise zu verhalten war jetzt unnötig, sie würden diese Tür aufbrechen. Schon rumste es lautstark, als mindestens einer der Uniformierten mit der Schulter dagegen rannte. Magdas Stimme mischte sich unter den Lärm: »Lasst sie in Ruhe! Es sind doch nur Kinder! Lasst sie gefälligst in Ruhe! So habt doch ein Herz!«
»Nimm ihn jetzt!« Darcar drückte den weinenden Evi nachdrücklich in Velands Arme, der von dem Chaos vor der Tür kurz abgelenkt war, und drehte sich zum Fenster um, ehe sein Bruder sich erneut weigern konnte.
Doch als Darcar auf das Fensterbrett steigen wollte, bemerkte er unten etwas im Vorgarten. Fluchend ließ er sich fallen und duckte sich unter das Fenster, packte Veland und riss ihn zu sich.
»Was?«, wimmerte Veland verwirrt. »Was ist los?«
Darcar schüttelte nur mit grimmiger Miene den Kopf und presste seine Brüder an sich. Er wollte ihnen nicht sagen, dass Scharfschützen auf das Fenster zielten. Wollte sie nicht verstören. Ihr Leben lang – so kurz es auch gewesen sein mochte – hatten sie beigebracht bekommen, dass die Männer der Stadtwacht ihre Beschützer, ihre Helfer waren. Am heutigen Tage wurden sie zu ihrem schlimmsten Feind, und das nur, weil ihr Vater all sein Geld verloren hatte.
Darcar war sich nicht sicher, ob die Schützen sie nur festhalten sollten, oder ob diese Mistkerle wirklich abdrücken würden. Er wäre das Risiko eingegangen, wäre er allein.
»Darc, wir müssen fliehen!« Veland riss an seinem Hemd. »Wir müssen fliehen, Darc!«
Darcar schüttelte erneut den Kopf, presste Veland an sich und grub die Nase in sein weiches Haar, das nach Keksen und Kaminfeuer duftete. »Das geht nicht, V.« Er schloss die Augen. »Es tut mir so leid, so leid…«
Er wusste nicht, was er tun sollte, er wusste gar nichts mehr. Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihm aus, er wollte doch tatsächlich weinen, sehnte sich nach jemandem, der ihm sagte, was zu tun war. Jemand, der ihn rettete. Er war doch auch nur ein Kind!
Doch dann kam die Wut und sein Trotz zu tage. Denn er wollte nicht schwach sein, nicht verzweifeln. Er sprang auf und zückte das Küchenmesser, beschützend stellte er sich vor seine Brüder. Er wusste, dass er nicht alle überwältigen konnte, aber sie würden ihn nicht kampflos bekommen. Und auch nicht seine Brüder.
Die Tür brach mit einem lauten Knall und krachte schwungvoll gegen die Wand. »Auf den Boden!«, brüllten dunkle Stimmen. »Lass das Messer fallen!« Unwillkürlich zuckte Darcar zusammen, aber als er die ersten drei Männer in ihren dunkelblauen Uniformen und den eimerförmigen Hüten sah, die nur mit Knüppeln, statt mit Schusswaffen auf ihn zutraten, gewann er an Mut. Er stürzte sich auf die Männer, Magda schrie im Türrahmen überrascht auf, Veland kreischte Darcars Namen. Es ging schnell, beinahe zu schnell. Blindlings stach er zu, schlitzte einem ausweichendem Uniformierten den Ärmel auf, Wolle quoll hervor. Als er erneut ausholte, packte ihn ein anderer am Handgelenk und verdrehte ihm schmerzhaft den Arm auf den Rücken, wodurch er sich aufschreiend nach vorne krümmte und die Finger öffnete. Er verlor das Messer. Und diese Typen waren jetzt wütend.
»Darc!«, brüllte Veland verzweifelt, als Darcar von einem Knüppel im Nacken getroffen und zu Boden geworfen wurde. Für einen Moment drehte sich alles und ein helles Klingeln dröhnte in seinen Ohren, er sah nur verschwommen, und sein Magen drehte sich um. Dabei spürte er zunächst keinen Schmerz, das Adrenalin in seinem Blut verhinderte das, jedoch spürte er, wie ihm etwas Warmes in den Nacken floss.
Sie traten und knüppelte auf ihn ein, instinktiv krümmte er sich zusammen. Es dauerte nicht lange, sie wollten ihn nicht töten, nur niederprügeln. Magda riss an einem der Kerle, der sie so grob wegstieß, dass sie zu Boden stürzte. Zwei andere rissen Veland und Everett auseinander. Wie benommen konnte Darcar nur machtlos zusehen, wie denen, die er liebte, wehgetan wurde, spürte und sah die Angst seiner Brüder – und konnte nichts tun.
»Bringt sie raus.« Der Kommandant erschien wieder in der Tür, winkte sie ungehalten aus dem Raum.
Jemand packte Darcar ins Haar und riss ihn brutal auf die Beine. Er schrie auf, stolperte hinter dem Wachtmeister her, der ihn über den Flur und dann die Treppe hinunterzog. Trotz Schmerz, trotz Wut, versuchte er, sich nach seinen Brüdern umzusehen. Veland war am Arm gepackt, schluchzte, aber lief brav mit. Everett wurde zumindest auf den Arm genommen, aber er kreischte lauthals und sein Kopf war bereits ganz rot.
Draußen vor dem schwarzen Gitter hatten sich ein paar Schaulustige versammelt, die zu dieser frühen Stunde bereits unterwegs gewesen waren. Darcar hatte keine Augen für sie, er erblickte nur das Chaos. All ihre Sachen, Kleider, Schmuck- und Kunststücke, die seiner Mutter gehört hatten, alles aus dem Haus war achtlos im Vorgarten verteilt worden, wie üblich bei einer Räumung. Die Wachtmaster würden sich gewiss noch ein paar wertvolle Dinge einstecken und den Rest dann verbrennen. Darcar überkam ein seltsames Gefühl des Unglaubens, als er daran dachte, dass alles, was sie je besessen hatte, zu Asche verbrannt wurde. In diesem Moment, als er am Haar aus seinem eigenen Haus geschliffen wurde, wusste er mit einer Endgültigkeit, dass nichts mehr so sein würde wie je zuvor, dass ihm übel und kalt zugleich wurde. Er fühlte sich, als würde er in einen tiefen, schwarzen Abgrund stürzen. Er fiel… und fiel … und fiel…
Und als wäre der Schmerz nicht schon groß genug, warf man ihn auf den Rasen, durchsuchte ihn von Kopf bis Fuß und riss ihm das Medaillon mit dem Bild seiner Mutter vom Hals. Er versuchte, sich zu wehren, tobte und klammerte verzweifelt die Faust um die Kette. Er weinte nun doch, teils aus Wut, teils aus Trauer, es war ihm gleich, was man von ihm hielt. Er konnte es nicht ertragen, dass ihm das Einzige, was ihm von seiner Mutter geblieben war, weggenommen wurde.
Sie schlugen ihm mit den Knüppeln auf die Arme, bis er losließ und sich schmerzerfüllt und heulend im Gras krümmte. Irgendwo schluchzte Veland seinen Namen, aber er konnte seinen Bruder jetzt nicht ansehen, sich sein Versagen nicht vor Augen führen.
Zum ersten Mal wusste er, was es hieß, wirklich allein zu sein.
»Genug!«, ertönte plötzlich eine erboste, bekannte Stimme. »Ja seid ihr denn von Sinnen? Habt ihr kein Mitgefühl, ihr Tiere?! Das sind Kinder!«
Tränenverschmiert hob Darcar den Blick. Der Sheriff trat durch das Tor und gebot seinen Männern Einhalt. Für einen Moment glaubte Darcar, sie seien gerettet, doch dann hörte er Vic sagen: »Ihr hättet ihnen wenigstens ihre Würde lassen können! Es ist schon schlimm genug für sie!«
»Vic…«, wimmerte Darcar. Doch er wusste, dass selbst der Sheriff sie nicht retten konnte.
Der alte Freund seines Vaters drehte sich zu ihm um, bedachte ihn mit einem entschuldigenden Blick. »Es tut mir so leid, mein Junge.«
Darcar wurde wieder wütend, wollte ihn beschimpfen, ihm an den Kopf werfen, dass er ihm versprochen hatte, dass alles gut werden würde. Aber er hatte einfach keine Kraft mehr, blieb mit leeren Augen liegen und fühlte sich der Situation plötzlich völlig fremd. Als wäre er nur einer der gaffenden Nachbarn, und nicht Teil davon.
Da drehte Vic sich um und deutete auf den Mann, der Everett auf dem Arm hielt, als wäre er nur eine Puppe. »Was macht ihr da mit dem Kind der Haushälterin?«
Alle wirkten überrascht, allen voran Magda.
Der Mann, der Evi hielt, blinzelte verwirrt. »Sir? Wir… wir haben Anweisung…«
»Die van Brick Kinder, ja, nicht den Balg der Haushälterin! Ja kann man euch denn gar nichts zutrauen?« Erbost nahm Vic Evi aus den Armen des verwirrten Mannes und wiegte ihn, während er ihn zu Magda brachte.
»Sheriff!« Der Kommandant der Truppe trat ärgerlich zu Vic. »Wenn das Kind der Dame gehört, kann sie das sicher beweisen.«
»Aber natürlich kann sie das! Wir können jetzt sofort alle zum Gericht gehen und die Geburtsurkunde anfordern. Ihr wisst ja, wie das in städtischen Krankenhäusern so ist, da wird einiges verschlampt, vermutlich werden wir den ganzen Tag dort verbringen, oder länger.«
Die Lippen des Uniformierten wurden schmal, als er sie pikiert zusammenpresste. Es war deutlich, dass er nicht den Wunsch verspürte, wegen eines Balges den ganzen Tag in einem dunklen Flur zu sitzen und zu warten. Und dann darüber einen Bericht zu verfassen. Gewiss wollte er lieber dabei sein, wenn das Urteil vollstreckt wurde.
Darcar wurde übel, dieses Mal krümmte er sich und würgte Galle ins Gras.
»Uns wurde zugetragen, er habe drei Kinder…«, hielt der Mann trotzdem dagegen.
Vic bot ihm einen Ausweg: »Van Bricks erste Frau starb mit einem Kind im Bauch, guter Mann, auch das können wir nachforschen. Dies hier ist der Sohn der Haushälterin.« Magda drückte Evi an sich und versuchte, ihn zu beruhigen. »Ich bin der Sheriff – und ich bürge dafür.« Vic beugte sich zu dem Mann, seine Augen bohrten sich in dessen. »Habt doch ein Herz, Bursche. Er ist nur ein Hosenscheißer. Wollt ihr gleich drei Kinderleben auf eurem Gewissen haben?«
Die beiden Männer lieferten sich ein Blickduell, doch schließlich gab der Jüngere seinem Vorgesetztem nach. Offenbar gepackt von einem Anflug Menschlichkeit. Er nickte und schien sich auch ein wenig zu schämen, vor allem als sein Blick auf Darcar fiel, der gegen seine Übelkeit ankeuchte.
»Darc!«, rief Veland. »Das dürfen sie doch nicht…«
Doch sein Bruder verstummte, als Darcar zu ihm aufsah und kaum merklich mit ernstem Blick den Kopf schüttelte. Sei still, warnte er mit den Augen.
Wenigstens hatte Vic Evi retten können. So jung wie er war, kannten ihn die Meisten gar nicht, es würde leicht sein, das Gerücht zu verbreiten, dass Evi Magdas Sohn war – und kein van Brick.
Für V und Darc war es jedoch zu spät, jeder kannte sie als die Söhne des großen Bahnbarons. Und nun als die Söhne eines Verräters.
Es war ihnen nicht gestattet, in der Stadt zu leben, deshalb konnten und durften Vic oder Magda sie nicht aufnehmen. Sie waren nun keine Menschen mehr, nur noch Verbannte.
»Führt sie ins das Rattenloch«, sagte der Kommandant abschließend. Es war das letzte Mal, dass Darcar einen Blick auf die schwarze Steinfassade seines Hauses warf. Er würde es nicht wiedersehen.