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Kapitel 4

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Draußen war es eisig und ein zischender Wind strömte durch die offenen Straßen. Wegen Veland traute Darcar sich nicht weit von der Bibliothek fort, doch er erkundete die Straßen drum herum. Vorsichtig schlich er über die Gehwege, ging langsam, geräuschlos, und ließ den Blick aufmerksam durch die feinen Schneeflocken in der Luft umherschweifen. Die Bibliothek lag in einem edleren Viertel, die Geschäfte in diesen Straßen waren groß und wirkten selbst verlassen noch gehoben. Läden, in denen sein Vater gewiss eingekauft hätte. Kaffeehäuser, Banken und Hotels reihten sich aneinander. Kleine und große Theater hatten trotz eingestürzter Außenwände noch immer ihren besonderen, kultivierten Reiz. Das Reich der Künstler, er bildete sich ein, Gesang und Gelächter hinter den verriegelten Türen zu vernehmen. Nebenan gab es Ausstellungen und tatsächlich hingen dort noch einige Bilder an den Wänden oder lagen rahmenlos auf dem Boden. Das Einzige, was die Plünderer interessiert hatte, war Brennholz. Die anderen Läden waren leer, keine einzige Flasche Scotch, kein einziger verfaulter Apfel, keine Konserven und kein Fetzen Stoff, selbst die Vorhänge der Bühnen in den Theatersälen waren abgerissen worden. Darcar fand rein gar nichts Nützliches mehr. Auch kein Öl für ihre Lampe.

Er wusste nicht, was schlimmer war. Die Angst, der Durst oder die Kälte. Alles nagte grässlich an ihm, wie eine unsichtbare Krähe, die ein Loch in seine Brust pickte und ihn bei lebendigem Leibe auffraß.

Das Viertel besaß auch einen Marktplatz. Der runde Hof erstreckte sich mehrere hundert Fuß weit vor einem wichtig aussehenden Gebäude, dessen Säulen eingestürzt waren. Eine der großen Banken, ihre Türen waren verrammelt, ein Skelett lag auf den Stufen, eine Hand flehend ausgestreckt. Der Unglückliche war auf der Flucht gewesen, ermordet und dann bis auf die Knochen ausgeraubt worden.

Darcar überkam ein beklemmendes Gefühl, er zog den Mantel enger und ging weiter.

Unweit des Marktplatzes vernahm er Stimmen. Dunkles Gelächter. Instinktiv versteckte er sich in einem Hauseingang, der in einer engen Sackgasse lag, und lauschte. Er konnte kein Wort verstehen, die Geräuschverursacher waren zu weit entfernt, schienen aber auch nicht näher zu kommen. Sie bewegten sich nicht.

Vorsichtig schälte er sich aus dem Schatten und schlich nahe an der Wand entlang zur Straße. Er folgte den Lauten. Es waren Jungen. Vielleicht in seinem Alter, einer war im Stimmbruch, sein dreckiges Lachen klang sehr kratzig, heiser. Als hätte er eine Angina. Die anderen klangen heller, fast mädchenhaft.

Je näher er kam, je deutlicher konnte er sie verstehen. Er lauschte, während er unter einem schiefhängenden Wellblech stehen blieb und der eisige Wind ihm unter den Mantel zog.

»Der Kleine hat so geheult, sag ich euch, aber noch mehr, als Henning fertig war.«

»Geschieht ihm recht«, meinte ein anderer mit so heller Stimmer, dass Darcar ihn beinahe für ein Mädchen gehalten hätte. »Er hätte Henning eben nicht bestehlen dürfen.«

»Dafür hat er eine schöne, warme Mahlzeit direkt in den Arsch bekommen«, sagte eine dritte Stimme hämisch.

Sie lachten widerwärtig.

Darcar wusste nicht, worüber sie sprachen, es war ihm auch vollkommen gleich. Er wollte es gar nicht so genau wissen. Aber als er um die Ecke spähte, entdeckte er einen kleinen Brunnen, auf dessen Rand Karten gespielt wurde. Auch ein Eimer stand dort. Die drei Jungen waren nicht viel älter als er, siebzehn vielleicht, fettige Haare, löchrige Lumpen, die aussahen, als hätten sie sie aus Stofffetzen selbst genäht. Ihre Schuhe waren derart zerflattert, dass blaue Zehen zu sehen waren. Sie rauchten selbstgedrehte Zigaretten, der Tabakgeruch hing trotz des Windes schwer in der Luft, und eine durchsichtige Flasche mit eindeutig Selbstgebranntem stand bei ihnen. In der Flüssigkeit schwammen sogar noch Obststücke.

Es gab also Obst, frische Lebensmittel. Und es gab Wasser.

Woher hatten sie das?

Darcars Herz raste angesichts seiner Entdeckung, Hoffnung keimte auf. Es gab hier Essen und es gab zu Trinken, die Frage war nur, wo es all das gab und wie er daran kommen würde.

Er war nicht dumm, er sah auf den ersten Blick, dass die drei nicht nur dort saßen, um sich nett zu unterhalten. Sie bewachten den Brunnen. Und sie hatten selbstgebaute Knüppel aus Holzlatten und rostigen Nägeln bei sich. Griffbereit.

Es waren drei. Selbst wenn Darcar bewaffnet gewesen wäre und sie überrascht hätte, wäre es Selbstmord. Sein Vater hatte ihm auf dem Schießstand das Zielen mit Schusswaffen beigebracht, aber er hatte keinen Revolver bei sich, nicht einmal sein Messer. Das hatte er bei Veland gelassen.

Darcar fiel es schwer, aber am Ende siegte die Vernunft, und er wandte sich ab, um zu gehen. Dabei knirschten kleine Steinchen im Frost unter seinen Stiefeln. Er hielt inne und biss innerlich fluchend die Zähne zusammen.

»Was war das?«, fragte der im Stimmbruch sogleich.

Darcar wartete gar nicht erst solange ab, bis sie nachsehen kamen, er huschte auf Zehenspitzen in die nächste enge Gasse und sprang über eine niedrige Mauer, um schleunigst zu verschwinden. Auch, wenn er nun nicht mehr wusste, wie er zurück zur Bibliothek gelangte.

*~*~*

Er fand die Hauptstraße wieder, aber er wollte sie nicht entlang gehen und riskieren, entdeckt zu werden. Es wurde dunkler, die graue Dämmerung wich einem langen Schatten, der sich wie ein Monster immer schneller über den Boden bewegte und alles verschlang. Und mit der Dunkelheit, kam Leben in die Stadt. Darcar hörte überall Stimmen und Poltern, als die Ratten aus ihren Löchern krochen. Die geisterhafte Stille wurde von dreckigem Gelächter und wütendem Gebrüll vertrieben.

Warum sie erst nachts herauskamen, wusste er nicht. Aber er bereute es bereits, Veland allein zurückgelassen zu haben. So irrsinnig es klang, die gespenstische Ruhe in den Straßen hatte ihm Sicherheit vorgegaukelt. Nun konnte er förmlich zusehen, wie sich Lichter und Leben aus dem Untergrund erhob.

Er musste ihnen ausweichen, um nicht entdeckt zu werden. Darcar war kein Dieb, kein Straßenjunge, er hatte sich nie verstecken oder vor irgendetwas davonlaufen müssen, außer vor seinem kleinen Bruder, wenn sie im Haus gespielt hatten. Doch das war etwas anderes als dieser Spießrutenlauf durch die fremden Häuserblöcke, während ihm das Herz bis zum Hals schlug und die Kälte ihm langsam Zehen und Fingerspitzen abfraß. Er kam sich blind vor, obwohl er bestens sehen konnte, seine Augen hatten sich sogar an die Dunkelheit gewöhnt, doch er kannte dieses Viertel nicht. Immer wieder musste er umdrehen, in eine Gasse einbiegen, wieder umdrehen, sich in engen Ritzen oder Trümmern verstecken, bis die Fremden vorbeigelaufen waren, oder über Gitter klettern, ohne zu wissen, wohin ihn sein Weg führte und auf was er als Nächstes treffen würde.

Natürlich hatte er überlegt, sich ihnen zu zeigen, doch er war nicht so dumm zu glauben, dass ihm jemand aus reiner Nächstenliebe helfen würde. Niemand landete hier, weil er ein guter Mensch gewesen wäre. Auch wenn die Verbannten in diesem Loch nicht viel älter waren als er, sie kamen im Pulk, und der Wächter hatte sie gewarnt, dass man sie ausrauben würde. Hinzu kamen die gruseligen Geschichten, die man sich über diesen Ort erzählte. Banden von Mördern, die sich gegenseitig jagten wie Vieh. Selbst wenn auch ein Funken Wahrheit in diesen Gruselmärchen steckte, er wollte nichts riskieren. Hier lebten Gesetzlose, Kinder von Verrätern, Dieben und Mördern.

Mehr musste er nicht wissen, er versuchte, sich fernzuhalten.

Nur wusste er nicht, wie er unter diesen Umständen zu Veland zurückfinden sollte. Und auch wenn er kein Wasser gefunden hatte, wollte er nichts mehr, als zurück zu seinem kleinen Bruder, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn entdeckt hatte. Er schalt sich einen Dummkopf, ihn allein gelassen zu haben. Die Angst um ihn war wie ein heißes Messer, das sich langsam immer tiefer in seine Brust bohrte und sein Herz aufschnitt.

Er musste zurück. Sofort.

Doch statt sich der Bibliothek zu nähern, hatte er das Gefühl, von ihr weggetrieben zu werden, bis er schließlich an den Rand eines Kanals stolperte. Das stillstehende Wasser war zugefroren, die Oberfläche splitterte wie dünnes Glas, als Darcar aus Versehen darauf trat. Sofort sank sein Fuß ein und es war, als würde er in tausend Nadeln eintauchen. Mit einem erschrockenen Laut zog er den Stiefel wieder hervor. Er wollte gar nicht wissen, wie kalt das Wasser war, wenn es sogar durch seine Schuhe schmerzte.

Aber es gab Wasser! Am Rande des Viertels.

Gegenüber dem Kanal lag die hohe Mauer, die das Rattenloch vom Rest der Welt abschottete. Als Darcar das Ungetüm von dieser Seite aus betrachtete, bekam er Heimweh. Ihm wurde in diesem Moment erstmals richtig bewusst, was es bedeutete, verbannt zu sein. Außerhalb dieser Mauer befand sich alles, was er kannte und geliebt hatte, aber all das kannte ihn nicht mehr, wollte ihn nicht mehr. Für den Rest der Stadt existierte er nicht mehr. Er wusste plötzlich, was es bedeutete, vergessen zu sein.

Er wandte sich von dem Anblick ab und ging wie betäubt am Kanal entlang einige Blocks weiter, da sich der Pulk nicht dorthin zu verirren schien. Es klang viel mehr so, als ob sich das gesamte Stimmengewirr auf dem Marktplatz einfand und ein großes Fest gefeiert würde. Es wurde gegrölt, gejubelt. Jemand schrie. Vor Schmerz, nicht vor Freude. Und bald darauf roch es nach Rauch und heißem Fleisch.

Darcar schüttelte den Kopf, wollte endlich aus diesem Alptraum erwachen.

In seine Gedanken versunken, bemerkte er den anderen erst, als es bereits zu spät war. Darcar blieb stehen, als er den Schatten bemerkte, der am Ende des Kanals auf der Veranda einer Mühle saß und mit einem Stuhl im Mondschein kippelte.

Sie sahen sich direkt an, Darcar spürte die Augen des anderen in seinen, brennend, bohrend, obwohl das Gesicht des Fremden vollkommen im Dunkeln lag.

Nicht wissend, was er jetzt tun sollte, blieb Darcar wie zu Stein geworden einfach stehen. Er hatte Angst, wenn er sich bewegen würde, dass der andere ihn dann erst recht anfiel. Als wäre vor ihm kein Mensch, sondern ein gefährliches Raubtier. Genauso hatte er sich gefühlt, als er als kleiner Junge mal vor einer wildgewordenen Bulldogge gestanden hatte, die ihn zähnefletschend angeknurrt und in Sprunghaltung gegangen war. Sein Herz wollte aus seiner Brust springen, in seinen Ohren pulsierte es heiß.

»Hey!« Der Fremde ließ seinen Stuhl nach vorne fallen und pflanzte die Füße auf den Boden.

Darcar erwiderte den Gruß nicht, er stolperte rückwärts und lief wie der letzte Feigling in eine Seitengasse. Er fühlte sich richtig schlecht, als er davonlief, kindisch, mutlos – schwach. Er wollte für Veland die Verantwortung übernehmen, doch stattdessen rannte er sogar vor einem einzigen Schatten davon. Weder hatte er seine Brüder wie versprochen beschützt, noch war er in der Lage, für sie zu sorgen. Oder auch nur für sich selbst.

Wuttränen liefen still über seine Wangen, als er die dunklen Gassen entlang trottete und anfing, sich selbst zu hassen.

Ohne Wasser, ohne Essen suchte er den Weg zurück. Es dauerte eine Weile, denn in der Dunkelheit sah alles anders aus. Doch da die Feier auf dem Marktplatz im vollen Gange schien, waren zumindest die Gassen wieder wie leergefegt. Darcar verzweifelte bereits, als er dann überrascht feststellte, dass er vor der Bibliothek stand und beinahe vorbeigelaufen wäre.

Er hastete hinein und die morschen Stufen nach oben, flüsterte Velands Spitznamen, während er um jede Ecke lugte. Das Lager fand er verlassen und stockfinster vor. Ihm sank das Herz in die Knie. »V?«, flüsterte er panisch und sah sich um. »V?« Dieses Mal wurde er lauter, stampfte durch den Raum und versuchte, die langen Schatten mit seinem Blick zu durchdringen.

»Darc?«, wimmerte es leise aus einer Ecke, als ob eine Maus zu sprechen gelernt hätte.

Darcar fuhr herum. Da sah er, wie Veland sich aus einer Ritze zwischen zwei Regalen hervorquetschte. Er konnte sich dünn wie eine Spinne machen, um in jedem Riss zu verschwinden. Ein Talent, das ihm beim Versteckspiel immer hatte gewinnen lassen.

»V!« Darcar ging erleichtert mit großen Schritten auf ihn zu. Und als Veland ihm in die Arme rannte, ging er in die Knie, um ihn an sich zu drücken. Er krallte eine Hand in das Haar seines Bruders und presste dessen Gesicht an seinen Hals, warmer Atem küsste seinen Kehlkopf.

»Ich dachte, du würdest nicht zurückkommen«, gestand Veland ihm gehaucht. »Sie kamen von überall, ich habe gehört, wie sie durch die Straßen zogen. Hab mich versteckt, wie du gesagt hast. Sie waren unten, haben Bücher geholt, glaube ich, sind dann weiter…«

Als Darcar die schnellen Worte hörte, die sich aufgeregt überschlugen, hielt er Veland noch fester, nur einen Moment, um ihn zu spüren und sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Er fühlte Vs hämmernden Herzschlag an seiner Brust und wartete, bis er sich etwas beruhigt hatte.

»Ich habe doch versprochen, dass ich zurückkomme.« Er nahm V bei den Schultern und drückte ihn ein Stück von sich. Im Licht des Mondscheins, das durch die trüben Fenster fiel, sahen sie sich in die Augen.

Veland runzelte die Stirn. »Du hast geweint«, stellte er fest und hob einen Arm. Zärtlich strich er mit den winzigen Fingerspitzen über die feuchten Spuren auf Darcars Wangen.

»Hab ich nicht«, log dieser und umfing das dünne Handgelenk seines kleinen Bruders, um seinen Arm niederzudrücken.

Veland sah traurig aus, sagte aber nichts weiter dazu. Vermutlich hätte ihn Darcars Menschlichkeit irgendwie getröstet, doch Darcar hielt eisern an seinem Vorhaben fest, für V stark zu bleiben. Der Kleine sollte nicht das Gefühl haben, dass sein großer Bruder ihn nicht beschützen könnte oder nicht wüsste, was er tat. Auch, wenn das der Fall war, er wollte, dass Veland sich bei ihm sicher fühlte.

Er wollte doch einfach nur, dass V niemals Angst haben musste. Auch jetzt nicht.

»Wo ist das Wasser?« Velands Frage riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ich habe keins«, gab er trocken zurück. Veland wollte es sich nicht anmerken lassen, lächelte nachsichtig, doch es trat Enttäuschung in seine Augen. »Aber ich weiß, wo es welches gibt«, fuhr Darcar fort und grinste, »und morgen früh werde ich uns welches holen.«

Um jeden Preis, das hatte er sich geschworen, nachdem er vor dem Schatten, der ihn angesprochen hatte, wie ein verschrecktes Huhn davongerannt war. Er würde noch einmal zum Kanal gehen und Wasser besorgen. Er würde jedoch das Messer mitnehmen.

Denn er konnte sich keine Angst mehr leisten.

Blut für Gold

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